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Einschulung
Die Wörter waren: Ruder, Foto, Stern, Baronin, Erstklässler
Einschulung
eine Kurzgeschichte von Anja Albus
Julia sitzt in ihrem Zimmer und schaut sich bekümmert das Foto aus ihrer Kindheit an. Es fällt ihr schwer, in der hübschen, blonden Erstklässlerin auf dem Bild ihr eigenes, kindliches Spiegelbild zu erkennen, das ihr so fröhlich mit der Schultüte in der Hand entgegenwinkt. Immer länger starrt sie auf das Bild, lässt sich fallen und versinkt in die Welt ihrer eigenen Vergangenheit, die doch so viel besser war, als dieses Leben, in dem sie nun gezwungenermaßen verweilen muss.
Mit einem mal ist sie wieder das strahlende kleine Mädchen, mit dem hübschen kurzen Rock und den langen Zöpfen, die geflochten über ihre Schultern hängen. Sie fühlt wieder diesen Stolz, der sie am Tage ihrer Einschulung erfüllt hatte. Sie war die kleine Baronin, nein, die kleine Königin und jeder Mensch, den sie kannte, hätte alles für sie getan, ja, ihr sogar die Sterne vom Himmel geholt.
Sie träumt; träumt weiter von diesem Tag, der alles für sie bedeutet hatte. Er lag nun schon zehn Jahre zurück, doch sie erinnert sich an ihn, als wäre es erst gestern gewesen. Wie schön sie an diesem Tag ausgesehen hatte, fröhlich und frei, mit Wünschen im Herzen und Träumen im Kopf.
Sie weiß noch immer, wie glücklich sie ihre Schultüte von ihrer Mutter entgegengenommen hatte und auch wenn der Schulranzen sie noch sehr gegen den Rücken drückte, so trug sie ihn doch mit solcher Würde und Anmut, als wollte sie ihn nie wieder ablegen.
Und wie stolz war sie gewesen, als ihre Eltern ihr zur Feier des Tages dann verkündeten, sie dürfte das erste Mal alleine nach Hause gehen. Warum wohl auch nicht, jahrelang war sie den Weg mit ihrer Mutter gegangen, denn der Kindergarten lag nur wenige Schritte von der Grundschule entfernt und so kannte sie den Weg, den sie an diesem Tag zu beschreiten hatte.
Glücklich, voller Freude, mit der Schultüte in der Hand, trat sie nach dem ersten Schultag den Heimweg an. Sie erinnerte sich noch genau an die Gefühle, die in diesem Augenblick erster Unabhängigkeit durch ihren Körper strömten. Freude und Glück breiteten sich in ihrem Herzen aus, ließen sie fast wie auf Wolken schweben. Sie tanzte dahin und sang die schönsten Lieder.
Doch dann veränderte etwas so unerwartet ihr Leben, dass sie nie wieder die glückliche, lustige und verträumte Erstklässlerin sein würde, wie sie es noch vor einem Moment gewesen war. Julia schaudert, denn sie sieht sich in ihrem Traum auf den Punkt zusteuern, der nachhaltig ihr Leben verändert hatte. Immer weiter geht das Mädchen mit den Zöpfen ihrem Schicksal entgegen. Julia versucht, das Ruder noch einmal herumzureißen, versucht, ihr junges Ebenbild vor den schrecklichen Ereignissen zu bewahren, die es einen Moment später ereilen würden, doch vergebens. Unaufhaltsam schlenderte das Kind der Straße entgegen, pfeift dabei ihr fröhliches Lied und hüpft sorglos dahin.
Julia schreckt aus ihrem Traum in die Höhe. Noch immer hält sie das Foto ihrer Einschulung fest in der Hand und nun starrt sie es wieder an und Tränen stehen ihr in den Augen. Dann legt sie es beiseite und schiebt ihren Rollstuhl zum Fenster, um traurig den trüben Tag zu begrüßen.