Eintagsfliege
„Ich habe meine Familie verschwinden lassen!“
Macauley Culkin und Thorsten sprechen die Worte beinahe gleichzeitig. Kevin allein zu Haus läuft mittlerweile zum dritten Mal hintereinander, nur unterbrochen vom Zurückspulen von Thorstens Videorekorder, den er extra für diese Kassette im Keller gefunden und reaktiviert hat. In der Mitte des zweiten Durchlaufs hatte Thorsten sich noch gefragt, warum er so einen Aufwand betrieben hat, nur um einen uralten Film zu sehen, den er ohnehin nie leiden konnte. Jetzt, während Kevin auf dem Bildschirm mit dem Aftershave seines Dads kämpft, quält sich Thorsten aus seinem Sessel und bewegt sich mühsam Richtung Bad. Obwohl er das „beste Alter“ noch nicht allzu lange hinter sich hat und auch körperlich, zwar nicht durchtrainiert, aber auch nicht übergewichtig ist, schleicht Thorsten durch seinen Flur. Es ist ihm egal, wie lange er braucht.
Toilette, ein Blick durch den Spiegel, kein Händewaschen. In der Küche starrt Thorsten eine Weile in seinen Kühlschrank, bevor er eine Flasche Gewürzketchup herausnimmt. Damit bewaffnet, plus zwei Scheiben Toastbrot auf einem drei Mal benutzten, aber nie gespülten Teller, macht sich Thorsten wieder auf den Weg in seinen Sessel. Als er das Wohnzimmer betritt, fliegt Joe Pesci gerade eine Farbdose an den Kopf. Thorsten rechnet sich aus, dass Toilette und Toast holen etwa eine halbe Stunde gedauert haben muss. Er wertet das nicht.
Thorsten hat aufgehört, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Es ist ihm egal, ob er eine halbe Stunde oder einen halb Tag braucht. Auch stört es ihn nicht, wenn er zwei Tage hintereinander nichts als Toast mit Gewürzketchup isst. Oder, ob er den Film den er gerade zum dritten Mal in Folge guckt, überhaupt gut findet. Natürlich war das mal anders. Thorsten war…normal. Er hatte Freunde, manchmal eine Freundin, aber immer etwas zu tun. Damals liebte er Filme, schrieb sogar seine eigenen Rezensionen und postete sie in einem Internetforum. Das ist heute vorbei. Heute ist Kevin dreihundert Minuten lang allein zu Hause und Thorsten unternimmt nichts dagegen.
Als der blonde Satansbraten im Fernseher sicher in seinem Baumhaus landet entschließt Thorsten sich doch, etwas zu ändern. Er drückt „STOP“ und das Videoband hält an und der Fernseher schaltet um auf TV-Empfang. Es läuft ein Tierfilm. Eintagsfliegen. Thorsten schaltet nicht um. Er beginnt sich Gedanken zu machen: „Eintagsfliege. Nur einen Tag leben…“ In diesem Moment würde Thorsten eigentlich erfahren, dass Eintagsfliegen manchmal sogar nur wenige Minuten, meistens jedoch einen bis vier Tage, in seltenen Fällen sogar länger als eine Woche, leben können. Doch Thorsten hört den Fernseher nicht mehr. „Nur einen Tag zu leben… Ich würde also morgen sterben!“ Thorsten ist so ziemlich alles egal, aber dieser Gedanke geht auch an ihm nicht spurlos vorbei. Toastbrot mit Gewürzketchup ist eine Sache, Sterben eine andere, findet er. „Wenn ich morgen sterbe…“, sinniert er, „dann heißt das doch:“ Thorsten springt auf: „Dass ich heute lebe!“ Plötzlich spürt Thorsten seine Beine wieder unter sich und wie sich neue Kraft in seinem Körper ausbreitet. Er rennt zum Fenster und zieht den Rollladen hoch. Draußen ist es stockfinster. Er blickt auf die Digitalanzeige des Videorekorders, 3:17 Uhr. Seine gerade erst gewonnene Energie wird davon nicht zurückgeworfen. Mit großen Schritten begibt Thorsten sich in den Hausflur und klingelt an der Wohnungstür gegenüber. Als ihm nicht direkt jemand öffnet, rennt er eine Etage nach oben und klingelt auch dort. Als wieder nichts schnell genug passiert, stürmt Thorsten wieder nach unten, wo mittlerweile sein Nachbar aus dessen Wohnungstür äugt. Der Mann ist nur mit einem Schlafanzug aus den frühen achtziger Jahren, Baumwolle in Grau-Blau, gekleidet und kriegt kaum seine Augen auseinander. Thorsten strahlt ihn an: “Ich lebe heute!“ Das leise geraunte „Nicht mehr lange. Ich hab nämlich morgen Frühschicht!“ hört Thorsten schon nicht mehr. Er ist wieder in seiner Wohnung und sucht sein Handy. Er muss unbedingt was unternehmen und sein alter Freund Micha ist mit Sicherheit dabei. Thorsten kann sich nicht erinnern, wann er Micha das letzte Mal angerufen hat, aber jetzt ist der beste Zeitpunkt um über solche Schatten zu springen.
Es klingelt drei Mal bevor ein verwirrter Micha ein leises „Ja?“ ins Telefon gähnt. „Micha, ich lebe! Lass uns was unternehmen! Ich muss hier raus. War schon ewig nicht mehr unter Leuten..“
„Toto, bist du das? Mann, was ist los mit Dir? Geht es dir schon besser?“
„Jaaa, sag ich doch. Mit geht’s super. Aber…wieso fragst….ich meine, woher wusstest du?“
„Mann, was ist denn los mit Dir? Vor drei Tagen erzählst du mir noch, dich hätte die übelste Grippe der Menschheitsgeschichte gepackt und machst einen auf totkrank und jetzt rufst du mich um halb vier nachts an und willst feiern gehen? Geht’s dir echt besser oder warst du nie krank?“
Thorsten hält inne. Über sein Gesicht läuft zunächst Verwirrung, Dämmerung, dann die Erleuchtung, gefolgt von Scham und Verlegenheit. Man erkennt jedes Stadium, obwohl Thorsten kaum eine Mine verzieht.
„Ähh…ja…ja, besser. Viel besser. Sorry für die Störung! Sehen wir uns morgen?“