Eiswelt
Zischend öffnete sich die Schleuse und gab John den Weg in das Innere der Unterirdischen Basis frei.
Zum ersten Mal betrat er diese Bastion am Rande des Sonnensystems, die für die meisten Menschen tabu war.
So wie sie auch für ihn noch vor wenigen Wochen Tabu gewesen war. Doch heute war er einer der Hiesigen.
Etwas nervös sah er sich um. Eine Frau mit einem verkrüppelten Arm ging an ihm vorbei. Ihr Gesicht war grausam entstellt von Ekzemen und Krebsgeschwüren, die unter ihrer Haut wucherten.
Leicht angeekelt wandte sich John ab, verließ den Bereich der Schleuse. Über wenige Stufen gelangte er hinab in die erste Halle.
Auch hier herrschte ein dumpfes Licht und eine unangenehme Kälte.
Gut, die Oberfläche des Planeten war auch nur wenige Hundert Meter entfernt und dort herrschten Temperaturen nahe des absoluten Nullpunktes.
"He, Du da. Du kannst deinen Anzug hier ruhig ausziehen. Kannst ihn bei mir abgeben, kostet nichts", hörte er da eine tiefe Bassstimme hinter sich.
Erstaunt drehte sich John um und erblickte einen wahren Riesen vor sich. Der Mann musste gut und gerne über zwei Meter zehn groß sein. Unter den Zerschlissenen Klamotten zeichneten sich dicke Muskelstränge ab. Sein Kopf und seine bloßen Arme waren bar jeder Haare.
Sofort wusste John, wen, oder besser, was er da vor sich hatte.
"Du bist ein Alpha-Warrior, oder?"
Der Blick des Riesen verdüsterte sich.
"Anscheinend bist du Neu hier… Oder drauf und dran dir gerade mächtig Ärger einzuhandeln. Niemand redet uns hier mit den Namen an, die uns die Normalen geben."
John lief ein Schauer über den Rücken, bei der Betonung, die der Riese dem Wort ‚Normalen' gab.
"Und wo wir gerade von den Normalen reden: Was führt dich zu uns? Schaust nicht gerade so aus, als würdest du hierher gehören."
Der Mann musterte ihn mit finsterem Blick. John war klar, dass er recht schnell wieder auf der anderen Seite der Luftschleuse landen würde - allerdings ohne seinen Anzug - wenn er keine Erklärung für sein normales Aussehen würde geben können.
"Ich bin kein Mutant, das ist richtig", gab er unumwunden zu. "Aber ich bin ein Cyborg", beeilte er sich rasch hinzuzufügen, als die Augen des Warriors kalt wurden.
"Hm", machte der Mann daraufhin und musterte John von Kopf bis Fuß.
"Siehst aber nicht wirklich wie einer aus? Zumindest sehe ich keine Implantate, keine neuen Gliedmaßen und nichts."
John drehte ihm seinen Hinterkopf zu. Trotz aller Schnellheilungsverfahren waren hier immer noch die Implantate der Ärzte zu sehen.
"Ich habe meine cybernetischen Komponenten im Kopf", erklärte er.
Interessiert sah sich der Krieger die Narben an und nickte schließlich zufrieden.
"Wenn das so ist: Willkommen auf Triton, der Welt der Verbannten. Mein Name ist Herzschwig"Schon bald darauf saß John mit seinem neuen Freund bei seinem ersten selbst gebrannten Triton Schnaps und echtem Triton Bier.
Nach dem ersten Glas Schnaps war John kurz davor sich zu übergeben, der Schluck Bier, den er zum hinterspülen verwendete, machte die Sache nicht besser. Hustend saß er eine knappe Minute lang am Tisch, während ihn Herzschwig auslachte.
Endlich hatte er sich wieder eingekriegt.
"So, Soldat, dann erzähl mir doch einmal, was dich hierher nach Triton führt", schlug der Riese vor und nahm einen Schluck Bier.
"Woher weißt du, dass ich Soldat bin?", flüsterte John erschrocken.
"Wenn du nicht erkannt werden willst, John, dann solltest du keine Raumanzüge der Flotte anziehen", lachte Herzschwig grölend. "Aber keine Angst. Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben."
John sah ihn unsicher an, nickte dann aber zaghaft. Wider besseren Willens nahm er noch einen Schluck Bier und musterte dann die Umgebung. Von dem Lokal aus, hatte man eine gute Sicht über die große Halle, in die auch er bei seinem Eintreffen gelangt war. Anscheinend spielte sich hier das öffentliche Leben ab.
John zählte Dutzende verschiedene Mutationsarten. Viele davon waren im Laufe der Generationen von Wissenschaftlern künstlich erzeugt worden; doch eine erschreckend hohe Anzahl von ihnen wurde immer noch von den Nachwirkungen des dritten Weltkrieges gezeichnet.
"Warum lasst ihr euch eigentlich nicht von der Erdregierung helfen?", fragte John den Krieger. "Die meisten Strahlungsschäden könnten mit moderner Medizin doch problemlos behoben werden."
"Ja das könnten Sie, Terraner. Nur ist die Regierung nicht bereit uns zu helfen. Die Behandlungen würden ihr viel zu teuer kommen. Außerdem: Niemand will etwas von einem Mond wie Triton; wenn es nach der Regierung geht, können wir hier bis zum jüngsten Tag versauern, solange wir uns ruhig verhalten."
"Aber die neuen Behörden…", versuchte John einzuwerfen.
"… sind um keinen Deut besser als die Alten", vollendete Herzschwig den Satz. "Wir sind kein Problem, welches man in einer Wahlkampagne zu lösen versprechen kann. Uns sieht niemand, kaum jemand wagt es je hier heraus. Darum wissen auch sehr viele Menschen auf der Erde nicht einmal, dass es uns gibt. Warum also sollte sich dann ein Politiker für uns einsetzen? Wir würden doch nur Geld kosten."
"Wählerstimmen?", schlug John scherzhaft vor.
"Hätte auch nur einer von uns die Terranische Staatsbürgerschaft, dann vielleicht", gab Herzschwig ernst zurück.
John hatte gerade angesetzt, wieder einen Schluck zu trinken. Nun starrte er den Riesen mit großen Augen an:
"Ihr habt keinen Pass und keine Ausweise?"
"Nein, wer sollte sie den ausstellen? Hier auf Triton gibt es offiziell keine Kolonie, darum auch keine Beamten, die irgendetwas aufzeichnen könnten. Alle Todesfälle, alle Geburten werden zwar von uns selbst aufgezeichnet, schaffen ihren Weg aber nie bis zur Erde."
John war schockiert. Es fiel ihm schwer zu begreifen, dass an einem Ort innerhalb des heimischen Sonnensystems solche Zustände herrschen sollten. Ihm war schon vor seiner Ankunft auf dem Mond klar gewesen, dass ihn auf Triton alles andere als das Paradies erwarten würde, aber das hier erschien ihm mehr wie ein Slum. Nicht einmal auf der abgelegensten, ärmsten Kolonie die er kannte, herrschte eine solche Anarchie.
Erschüttert schüttelte er den Kopf und trank den Rest seines Biers mit einem Zug aus.
"Willst du sehen, wie wir leben, John?", fragte Herzschwig fast flüsternd.
Zaghaft nickte John. Ganz sicher war er sich nicht, ob er sehen wollte, was ihm der Krieger zeigen wollte.
Gemeinsam begannen sie ihre Wanderung. Zuerst durch die große Halle, an Geschäften und Lokalen vorbei, dann hinein in die Wohnhöhlen; sofern man diesen Ausdruck verwenden konnte. Es stank nach Fäkalien und nach Tod. Unrat stapelte sich in dunklen Ecken und einmal glaubte John sogar eine übergroße Weltraumratte zu sehen. Doch der Schatten verschwand zu schnell in einer Spalte, als das er sich sicher sein konnte.
Die Gänge waren eng und niedrig, die Luftumwälzungsanlagen waren entweder ausgefallen oder liefen auf so geringem Niveau, dass sie kaum etwas bewirkten. Je weiter sie sich von der großen Halle entfernten, desto weniger Deckenleuchten waren angebracht und schon bald zog Herzschwig eine Taschenlampe hervor, mit der er den Weg ausleuchtete.
"Wie viele von euch leben eigentlich hier?", fragte John, der es schon bereute mitgegangen zu sein.
"Mehr als 10.000 Männer, Frauen, Kinder und sonstiges Getier."
Mit einem Male blieb er stehen. Der Gang erweiterte sich hier zu einem weiteren kleinen Platz, von dem aus in verschiedene Richtungen abermals Korridore abzweigten. Doch das war nicht der Grund für den Stopp gewesen. Auf dem Platz waren etwa Einhundert Menschen versammelt, dennoch war es merkwürdig still.
Schließlich erkannte John auch warum. In der Mitte der Menge war ein Sarg aufgebahrt. Er sah das Begräbnis eines Mutanten.
"… Asche zu Asche, Staub zu Staub; deine Gene, dein Körper zurück zu seinem Ursprung…"
John wagte einen zaghaften Blick in den offenen Sarg hinein. Ein halb verwester Körper lag darin; ob Mann oder Frau war nicht mehr zu erkennen. Die Gliedmaßen waren unnatürlich geknickt und der Rumpf war mit einer stumpfen Klinge auseinander geschnitten worden.
"Wurde der Mann Opfer eines Verbrechens?", flüsterte John.
Herzschwig schüttelte den Kopf.
"So etwas kommt bei uns so gut wie nicht vor. In so einer Gemeinschaft müssen alle Zusammenhalten. Jeder wüsste, dass er nach einem Verbrechen, egal welcher Art, den Tod zu erwarten hätte. Dieser Mann starb beim Einsturz eines Tunnels."
Der Mann, der das Gebet gesprochen hatte, machte ein Kreuz über dem Sarg und wandte sich dann ab. Vier der anderen Mutanten - einige von ihnen grässlich entstellt - hoben den Kunststoffsarg auf und trugen ihn an John und Herzschwig vorbei durch den Gang. Die anderen Trauergäste folgten darauf.
"Wo bringen Sie den Mann hin?"
"Zur Wiederaufbereitungsanlage. Die meisten Lebensmittel sind mit Menschenfleisch oder dem von Ratten ergänzt", erklärte Herzschwig knapp.
Während John sich im Geiste eine Notiz machte hier nichts zu essen folgte er seinem neuen Freund weiter durch die dunklen Gänge.
Schließlich bog der Mutant wieder in einen belebteren Korridor ein, der in einer großen Halle mündete.
Staunend blieb John stehen und ließ seinen Blick durch die Höhle wandern. Von der Decke strahlten Dutzende UV-Lampen auf eine mehrere Tausend Quadratmeter Große Ackerlandschaft. Mutanten unterschiedlichster Art arbeiteten mit ihren Bloßen Händen auf den Feldern, von denen einige schon recht reif aussahen.
"Das hier ist unsre größte Errungenschaft, John. Diese Höhle wurde gebaut, als diese Kolonie gegründet wurde und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erweitert."
"Es ist unglaublich. Wie…?"
"Wir haben diese Höhle mit Spitzhacken und unseren bloßen Händen in den Fels getrieben. Das ist das Werk unserer Spezies!"
John hörte den Stolz aus Herzschwigs Stimme; und er konnte ihm das nicht verübeln. Dieser Bau wäre selbst mit modernen Maschinen gewaltig gewesen.
"Wenn die Menschen auf der Erde wüssten, was ihr hier geleistet habt, würden sie sich vielleicht mehr mit euch auseinandersetzen", dachte John laut.
Doch Herzschwig schüttelte nur traurig den Kopf.
"Die Menschen sehen doch nur das was sie sehen wollen. Und das erste was sie von uns zu sehen bekommen ist unser monströses Aussehen. Unsere Geschwüre und Entstellungen."
"Ich könnte das Bindeglied sein, zwischen den Normalen und euch", schlug John vor, doch abermals schüttelte der Mutant den Kopf.
"Sieh dich an, John. Du bist doch praktisch ein Normaler. Du hast einige Drähte im Kopf, doch das macht dich nicht zu einem Monster, wie ich oder meine Freunde es sind."
"Aber ich bin doch einer von euch!", entfuhr es John.
Doch als er in Herzschwigs Gesicht sah, wusste er, dass er nun etwas falsches gesagt hatte.
"Nein, du bist nicht wie wir. Du bist auf der Erde aufgewachsen, du kennst einen blauen Himmel und das warme Sonnenlicht. Du weißt, was es heißt in einer großen Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Du konntest dich immer auf ein soziales Netz verlassen, dass dich auffangen würde.
All das hatten wir nicht und werden wir auch nie haben."
Der Mutant ließ sich in die Hocke nieder und griff in die weiche Erde des Ackers.
"Das ist alles, was uns noch mit Terra verbindet. Mehr werden wir nie haben. Während du nach diesem Besuch in dein Raumschiff steigst und zurückfliegen wirst."
John sah ein, dass er einen wunden Punkt angeschnitten hatte.
"Es tut mir leid. Ich wusste nicht…"
"Genau! Du wusstest nichts!", unterbrach in Herzschwig. "Bevor du heute morgen durch unsere Schleuse tratst, wusstest du nichts. Und du hättest dich ebenso wenig wie alle anderen für uns interessiert, wenn du nicht zufällig ein kleines bisschen Cyborg geworden wärst!"
"Da hast du recht. Aber zumindest interessiere ich mich für euch!", fuhr nun auch John auf, der keinen Grund für die Attacken gegen ihn sah. "Jetzt habe ich gesehen wie ihr lebt! Und jetzt kann ich mich für euch einsetzen."
"Du behauptest nach einem Tag zu wissen, wie wir leben? Dazu müsstest du länger hier bleiben; Monate, wenn nicht gar Jahre. Und dazu wirst du dich nicht herablassen. Dazu wird deine Einsatzbereitschaft nicht ausreichen, oder?"
John nickte leicht. Damit hatte er recht. Er selbst wollte sich bald wieder zum Dienst in der Flotte melden.
"Dachte ich es mir doch", fuhr Herzschwig fort. "Außerdem, selbst wenn wir hier draußen vor Sehnsucht nach der Sonne und dem freien Himmel fast vergehen, so haben wir doch immer noch uns. Wir benötigen keine Bürokraten und Politiker, die sich in unser Leben einmischen.
Und wir benötigen auch keine Fremde von außerhalb, die versuchen alles zu ändern", fügte er leise hinzu.
John nickte. Er hatte verstanden.
Ohne ein Wort des Abschieds drehte er sich auf dem Absatz um und suchte sich den Weg zurück in die Empfangshalle. Er fand seinen Raumanzug dort wo er ihn abgelegt hatte und zog ihn sich unter den wachsamen Blicken der anderen Mutanten wieder an.
Als sein kleines Raumschiff schließlich abhob und die kleine unbekannte Kolonie hinter sich ließ, nahm er sich vor, dennoch etwas für die Mutanten zu tun.