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El Chupacabra
Die Sonne ließ alles in einem warmen Orange erstrahlen. Sie spiegelte sich in den Fenstern des hohen Bürogebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Auf der Straße fuhren alte Kleinwagen und Pick Ups und eine Menge VW Käfer, die hier in Mexiko als Taxen so beliebt waren. Ben Peterson verließ das Hotel und blickte in den tiefblauen Himmel. Der perfekte Tag für sein Vorhaben. Ein breites Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Peterson stieg in seinen Leihwagen und fuhr los. Außerhalb der Stadt waren die Schneisen, die für die Straßen quer durch den Dschungel geschlagen worden waren, gut zu erkennen. An beiden Seiten der Straße sah man weite Rasenflächen, hinter denen der Dschungel begann. Nach einiger Zeit verließ Peterson die Straße und bog auf einen sandigen Weg ab, den dichte, dunkelgrüne Büsche und Bäume säumten. Am Ende des Weges befand sich Eduardo Salvarez’ Farm, wo er den Jeep abstellte.
Während Ben aus dem Auto ausstieg, kam ihm Senior Salvarez schon entgegen und begrüßte ihn freundlich: „ Buenos Dias Senior, kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Ben sprach durch längere Aufenthalte in Mexiko und ein einjähriges Studium an der Universität von Barcelona flüssig Spanisch.
„Ich wollte mich hier ein wenig umsehen.“
“Sie sind Tourist, oder?“
„Naja, kein richtiger. Ich habe von den Vorfällen auf ihrer Farm gehört. Ich beschäftige mich hobbymäßig mit dem Chupacabra.“
Als Salvarez dieses Wort hörte, zuckte er ehrfürchtig zusammen.
„So, mit dem Chupacabra, ja?“
„Ganz recht. Man sagte mir, in den letzten Wochen wurden bei Ihnen elf Schafe gerissen.“
„Zwölf! Gestern wieder eines“, entgegnete der Mexikaner.
„Tatsächlich?“, fragte Peterson aufgeregt.
„Ja, genau wie bei den anderen. Ungewöhnliche Bissspuren am Hals, wie bei einem Vampir und dann waren sie noch verstümmelt. Wenn ich dieses Monster nur endlich erwischen würde. Aber bis jetzt ist es mir noch nicht vor die Flinte gekommen.“
„Was glauben Sie , wo er sich aufhält?“
„Na da in den Wäldern“, Eduardo zeigte auf den Dschungel, der hinter seiner Farm emporragte.
„Alles klar“, sagte Peterson. „Dann werde ich mein Glück dort versuchen.“
„Sie wollen da hin und ihn suchen?“
„Ja, vielleicht kann ich Aufnahmen von ihm machen.“
“Das ist ja verrückt! Sein Sie bloß vorsichtig!“, antwortete der Farmer und zog sich in sein Haus zurück.
Peterson ging zurück zu seinem Geländewagen, holte einen Rucksack, eine Videokamera und ein Stativ heraus und machte sich auf in Richtung Dschungel.
Die riesigen Bäume mit ihren dichten Baumkronen ließen nicht sehr viel Sonnenlicht bis zum Boden vordringen, exotische Vögel zwitscherten, und überall summten Mücken. Er folgte einem kleinen Pfad, der etwas tiefer in den Wald hineinführte. Je weiter er ging, umso dunkler und dichter wurde der Dschungel. Als er die Stelle, an der er den Dschungel betreten hatte, schon nicht mehr sehen konnte, glaubte er, etwas ungewöhnliches gehört zu haben. Er schloss die Augen, um besser auf die Geräusche um sich herum lauschen zu können. Außer der gewöhnlichen Geräusche des Dschungels konnte er ein leises Kratzgeräusch so wie ein Rascheln ganz in der Nähe ausmachen. Ein modriger Waldgeruch stieg ihm in die Nase. Beunruhigt öffnete Ben die Augen wieder. Er sah sich um. Da war es wieder, dieses Kratzen. Aus den Augenwinkeln erkannte er eine Bewegung. Bei näherer Betrachtung der Stelle, von der er das Geräusch zu hören glaubte, sah er eine Erdhöhle die einen Durchmesser von ungefähr zwei Metern hatte und sich gut versteckt unter einem umgefallenen Stamm befand. Er ging näher heran. Es sah aus wie ein Kaninchenbau, nur viel größer. Peterson kniete sich hin und versuchte hineinzuschauen. Aus seinem Rucksack holte er eine kleine Taschenlampe hervor. Als er damit in den Bau leuchtete, blickte er in ein Paar große, dunkle, furchteinflößende Augen. Erschrocken wich er zurück, wobei er die Lampe fallen ließ. Als er sich wieder gefangen hatte, richtete er aufgeregt seine Kamera auf die Höhle. Nachdem er sie eingeschaltet hatte hob er die Taschenlampe auf und beleuchtete nochmals den Bau. Diesmal war er auf den Anblick des Wesens vorbereitet. Trotzdem durchlief ein Schaudern seinen Körper, als er merkte, wie ihn das Tier anstarrte. Er konnte nur den grauen Kopf und die Vorderbeine erkennen. Die Augen schienen proportional zum Kopf zu groß zu sein. Das Tier saß still da und schien ihn zu fixieren. Seine spitzen Zähne ragten bedrohlich weit aus dem Maul. Der Größe des Kopfes nach zu urteilen, musste es etwa ein bis eineinhalb Meter groß sein. Es passte genau zu den Beschreibungen des Chupacabra. Plötzlich zog sich das unheimliche Wesen weiter in den Bau zurück. Nun konnte Peterson zwei kleinere Wesen erkennen, die dem größeren sehr ähnlich sahen. Es handelte sich hier womöglich um die Mutter mit ihren Jungen. Er war so erregt, dass er gar nicht daran dachte, wie gefährlich diese Wesen waren. In seinem Kopf formte sich unweigerlich ein Gedanke: Wenn dies das Muttertier war, wo war dann das Männchen? Gerade als er sich runter beugen wollte, um die Jungen besser sehen zu können, hörte er von einem Baum über sich ein Rascheln.
Es wurde bereits dunkel und der Jeep des Amerikaners stand noch immer vor Salvarez’ Haus. Er war jetzt schon seit Stunden da im Dschungel, sicher war etwas passiert. Eduardo konnte das nicht auf sich beruhen lassen, er musste endlich etwas unternehmen. Wenn schon die Polizei nichts tat, dann musste er die Sache eben selbst in die Hand nehmen. Entschlossen nahm Eduardo Salvarez sein Gewehr und eine Taschenlampe aus dem Schrank und verließ das Haus. Um keine Zeit zu verlieren, wollte er die fast 100 Meter bis zum Dschungel fahren. Während er das Gewehr auf die Ladefläche seines rostigen Pick Ups warf, rief er nach seinem Hund Diego. Diego war dünn und sein Fell zersaust. Schwanzwedelnd begrüßte er sein Herrchen. Dann sprang er, sich auf die Abwechslung freuend, auf die Ladefläche. Sobald der Hund oben war, fuhr Eduardo los.
Am Waldrand ließ er den Pick Up stehen und folgte, wie es Peterson vor einigen Stunden getan hatte, dem kleinen Pfad in den Dschungel. Diego schnüffelte aufgeregt herum. Da man in der Dunkelheit kaum etwas sehen konnte, schaltete Salvarez die Taschenlampe ein. Der Hund lief ein Stück voraus. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Eduardo breit, das durch die Dunkelheit und die Dschungelgeräusche noch verstärkt wurde. Als Diego stehen blieb und längere Zeit an etwas schnüffelte, wuchs dieses Gefühl zu Furcht heran. Schritt für Schritt näherte Eduardo sich dem Gegenstand, der Diego so interessierte.
Er erkannte den Gegenstand sofort. Es war der Rucksack des Touristen. Nur von dem Mann selbst fehlte jede Spur. Salvarez hob den Rucksack auf, um ihn sich genauer anzusehen. Plötzlich vernahm er das Bellen seines Hundes, der inzwischen weiter gelaufen war. Erschrocken fuhr er herum und versuchte auszumachen, aus welcher Richtung das Bellen kam. Es folgte ein leises Winseln und gleich darauf war es still. Zu still. Kein Vogel zwitscherte und auch von Diego war nichts zu hören. Eduardo stand wie angewurzelt da. Sein Herz raste, seine Atmung wurde schneller. Dann setzte er sich langsam und vorsichtig in Bewegung. Wie ein Kätzchen, das versuchte unentdeckt zu bleiben, schlich er durchs Unterholz des riesigen Waldes in die Richtung, aus der Diegos Bellen gekommen war. In einiger Entfernung sah er im Schein der Taschenlampe eine dunkle Gestalt in den Schutz des Waldes verschwinden. Eine unbändige Angst überfiel ihn. Er wollte zurück laufen, fiel aber nach wenigen Schritten über etwas. Als er die Taschenlampe darauf richtete, erkannte er den leblosen Körper des Amerikaners. Gleich daneben lag eine Videokamera mit einem Stativ. Beim Anblick, der verstümmelten Leiche ergriffen seine Beine wie von selbst die Flucht. Aus Angst ihm könne dasselbe zustoßen, lief er so schnell er konnte. Obwohl er sich nicht umdrehte, spürte Eduardo, dass ihm etwas folgte. Er hatte das Gefühl, es würde ihn jeden Moment von hinten anspringen. Da hörte er hinter sich das Brechen von Ästen. Er konnte den Verfolger förmlich in seinem Nacken spüren. Dieser Gedanke ließ ihn noch schneller laufen, so dass er stolperte und hinfiel. Er schlug mit seiner linken Schulter auf einem harten Gegenstand auf und ein unerwartet starkes Stechen durchzog unverzüglich seinen Arm. Seine Nerven lagen blank. Ohne den Schmerz in seiner Schulter zu beachten stand Eduardo sofort wieder auf und rannte weiter. Die Panik trieb ihn voran. Nach einigen Minuten, die ihm unendlich lang vorkamen, erreichte er endlich seinen Pick Up. Er riss die Fahrertür auf, sprang hinein und zog sie schnell wieder zu. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er zitterte so sehr, dass er Probleme hatte, den Schlüssel zum Anlassen des Wagens ins Schloss zu stecken. Als er es endlich geschafft hatte, sprang etwas mit lautem Krachen gegen die Fahrertür. Instinktiv duckte er sich auf den Beifahrersitz, wobei er den Kopf mit dem Händen schützte. Dann hörte er ein lautes Kratzen an der Tür. Zu tief saß der Schreck, als dass er hätte nachsehen können. Auf einmal jaulte es neben dem Auto. Salvarez kannte das Jaulen und öffnete die Tür. Mit einem Satz sprang Diego auf seinen Schoß und setzte sich dann auf den Beifahrersitz. Als Eduardo Salvarez kurze Zeit später zu Hause ankam, benachrichtigte er sofort die Polizei.
„Wollen Sie mir nicht endlich erzählen was passiert ist?“, fragte Eduardo Salvarez den Polizeichef zum wahrscheinlich zehnten Mal.
„Da gibt es nichts zu erzählen. Senior Peterson war unvorsichtig und wurde von einem Tier getötet.“
„Das war kein Hund, Baraja. Ich habe die Leiche gesehen. Wie bei meinen Schafen.“
„Ich weiß, ich weiß. Dann war es wohl das gleiche Tier, das auch Ihre Schafe gerissen hat. Welches Tier dies tut können wir jedoch nicht sagen.“
„Aber ich kann es Ihnen sagen.“
Manuel Baraja verdrehte genervt die Augen: „Ach, kommen Sie mir nicht wieder mit diesem Chupa Quatsch.“
„Das ist kein Quatsch“, fuhr Salvarez den Polizisten an.
„Wie Sie meinen. Jetzt fahren Sie nach Hause und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.“
„Eins noch. Was war auf dem Band? Was hatte dieser Peterson da aufgenommen?“
„Nichts besonderes. Ein paar Vögel und andere Tiere. Eine Schlange war auch drauf, aber nichts was uns weiterhelfen würde.“
Eduardo Salvarez bedachte den Polizeichef mit einem ärgerlichen Blick und verließ das Polizeigebäude.
Manuel Baraja ging zurück in sein Büro und verschloss die Tür hinter sich. Dann nahm er ein Videoband, packte es in einen Umschlag und adressierte diesen an das forensische Labor einer Universität. Bevor er ihn jedoch verschloss, verfasste er noch einen Brief, indem er die Geschichte des Videos zusammenfasste und erklärte, er hoffe, dass man die Aufnahmen zum Vergleich und zu weiteren Forschungszwecken heranziehen könne. Danach schaltete er den Fernseher und den Videorekorder ein, die er sich extra hatte bringen lassen und spielte eine Kopie der Videokassette ab, die er aus Ben Petersons Kamera entnommen hatte. Gelassen lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schaute sich die Szene ein weiteres Mal an.
Man sah die Erdhöhle. Jemand leuchtete mit einer Lampe hinein und man erkannte deutlich den furchterregenden, grauen Kopf des Chupacabraweibchens. Nachdem sich das Tier in den Bau zurückgezogen hatte, waren auch die Jungen gut zu erkennen. Man konnte die Stimme von Ben Peterson hören, die sagte: „Das ist einfach unglaublich.“ Während das Video weiter den Bau mit den unheimlichen Wesen zeigte, hörte man ein Rascheln von Oben und kurz darauf übertönten die fürchterlichen, schmerzerfüllten Schreie des Amerikaners die restlichen Geräusche auf dem Band. Wenige Sekunden später war die Aufnahme abrupt zuende.