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Elena, meine Freundin

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16.02.2012
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Elena, meine Freundin

Elena, meine Freundin

Wild schlug ich um mich. Die Friseuse musste ihre spitze Schere in Sicherheit bringen. Mein Geheul und Gekreische drang durch die Schaufensterscheibe nach außen. Beruhigende Stimmen, deren Bedeutung ich in meiner Rage nicht wahrnahm, Hände, die mich auf dem Stuhl zu halten versuchten. Ich entwickelte eine Kraft, als ginge es um Leben und Tod und nicht um die Reduzierung der Länge meiner dicken Haarpracht. Dieser Überlebenskampf war Bestandteil eines jeden Friseurbesuches. Ich war sechs Jahre alt und hatte dickes Haar kombiniert mit einem schlechten Immunsystem. Unter der dicken Wolle auf meinem Kopf schwitzte ich immens und fing mir so sehr oft eine Erkältung ein. Meine Mutter, praktisch veranlagt wie sie war, beschloss also, dass Zöpfe für mich ein Wunschtraum blieben und ich mich weiter jedes Mal lauthals beschweren musste, wenn mich wieder jemand für einen Jungen hielt. Heute kann ich diese Entscheidung gut verstehen, damals jedoch hasste ich sie dafür. Man versprach mir stets eine Mädchenfrisur. Jedoch konnte mir niemand erklären, wie man in stoppelkurze Haare einen mädchenhaften Schnitt zaubern konnte. Auch an diesem Nachmittag drang also mein Gebrüll durch die Scheiben des Friseursalons. In meiner von Adrenalin aufgeputschten Stimmung konnte ich meine Umgebung kaum wahrnehmen. Als ich auch dieses Mal schließlich den Kampf gegen meine Mutter und der Friseuse verloren hatte, blickte ich stumpf mit verheulten Augen in den Spiegel vor mir und schniefte mitleiderregend. Da ich den Anblick der auf den Boden fallenden Haarpracht nicht ertragen konnte, schloss ich nicht wie sonst die Augen, sondern sah durch das Spiegelbild der Schaufensterscheibe nach draußen. Ein Mädchen in meinem Alter presste seine Nase an der Scheibe platt. Es hatte große dunkle Augen, ein buntes Kleidchen an und ein ebenso buntes Tuch war um seinen Kopf gebunden. Als es meinen Blick bemerkte, zuckte es zurück und ging nach kurzem Zögern weiter. Vielleicht sollte ich Mama bitten, mir ein Kopftuch zu kaufen, dann sah man wenigstens daran, dass ich ein Mädchen war.
Mit kurzem Haar spielte ich am nächsten Tag vor dem Hochhaus, in dem wir wohnten. Gelangweilt ließ ich meinen Ball gegen die Hauswand prallen, um ihn wieder aufzufangen. Ein unkreatives Spiel, aber mir fehlte schon seit langem ein Spielgefährte. Alle Kinder in unserem Haus waren seit dem letzten Sommer in der Schule. Nur ich nicht, weil ich ein Jahr zurückgestuft wurde. Als Einzelkind hatte ich nur meine Mutter zum Spielen und die verspürte nur bedingt die Lust dazu Kaufladen mit mir zu spielen. Es war schön, dass das Christkind mir meinen großen Wunsch vergangenes Weihnachten erfüllte, doch allein zu spielen, wurde mit der Zeit sehr langweilig. Nach nur einer halben Stunde war ich es nun auch leid, meine Zeit unsinnig vor dem Haus zu verbringen, und machte mich wieder auf den Weg ins Haus. Im Treppenhaus hatte ich das unbestimmte Gefühl beobachtet zu werden. Als ich die Treppen zum nächsten Stockwerk hinaufsah, konnte ich die großen braunen Augen zwischen dem Geländer erkennen, die mich schon einmal ansahen. Das Mädchen mit dem Kopftuch saß auf den Stufen und betrachtete mich schweigend.
„Hallo, ich wusste gar nicht, dass du auch hier wohnst,“ wagte ich mich vor.
Nichts.
„Ich bin Tanja und wie heißt du?“ versuchte ich es erneut.
Zaghaft und mit leiser Stimme kam die Antwort.
„Elena.“
„Magst du runterkommen und mit mir spielen?“
Langsam stand Elena auf und kam die wenigen Stufen auf mich zu.
„Tanja ist ein schöner Name und du hast sehr schöne Haare.“
Ich schnaubte verächtlich.
„Ja, was davon übrigblieb.“
„Immerhin hast du Haare.“
Verwundert zog ich meine Stirn kraus. Als Antwort auf meine unausgesprochene Frage, zog sie sich mit ihrer kleinen Hand das Tuch vom Kopf. Darunter befand sich kein einziges Härchen. Elena hatte eine Glatze.
„Oh“, entfuhr es mir.
„Leukämie. Wir sind erst vor zwei Wochen hierher gezogen.“
Ich hatte keine Ahnung was das Wort bedeutete, aber wenn es Elena um ihre Haare brachte, konnte es nichts Gutes sein. Da ich nicht wusste, was ich in meiner Verlegenheit sagen sollte, schlug ich ihr vor, mit mir zu Hause Kaufladen zu spielen. Elena machte sich nicht die Mühe, das Kopftuch wieder aufzusetzen. Als wir bei meiner Mutter klingelten, konnte ich einen kurzen Anflug von Überraschung in ihren Gesichtszügen entdecken, den sie gekonnt überspielte.
„Na sowas, sind doch nicht alle Kinder im Haus in der Schule, Tanja? Dann bring deine neue Freundin mal herein.“
Das war der Anfang unserer Freundschaft. Jeden Tag spielten wir viele Stunden in meinem Zimmer. Elena wollte sich nicht so gerne in der Öffentlichkeit zeigen. Manchmal war sie zu müde, um zu mir zu kommen. Dann sah mich ihre Mutter an der Tür traurig an und schüttelte den Kopf.
„Elena schlafen.“
Elena war Spanierin, ich beneidete sie immer für ihre schönen Kleider, die ihre Mutter ihr nähte. Elena beneidete mich auch. Ich hatte Haare.
Eines Tages, kurz vor Weihnachten, nachdem Elenas Mutter mich immer wieder weggeschickt hatte, fragte ich meine Mutter am Mittagstisch:
„Mama, was ist das eigentlich was Elena eine Glatze macht?“
Sie griff über den Tisch und drückte fest meine Hände.
„Tanja, du musst jetzt ganz stark sein, das ist eine schlimme Krankheit. Elena hat den Kampf dagegen verloren. Du wirst nicht mehr mit ihr spielen können. Sie ist gestern gestorben.“
Starr blickte ich meine Mutter an. Was sagte sie da? Elena war tot? Sie kam nicht mehr? Aber sie war doch noch ein Kind, wie ich! Da stirbt man doch nicht einfach. Erst nach und nach wurde mir die Bedeutung dessen, was meine Mutter mir sagte, bewusst. Elena würde in einem Sarg liegen, wie letztes Jahr meine Oma, wir würden uns von ihr verabschieden, den Sarg in die Erde hinablassen und ihr oft frische Blumen bringen. Aber ich würde nie wieder mit ihr reden oder spielen können. Tränen schossen mir in die Augen. Elena, meine Freundin! Meine Mutter zog mich an sich, bis ich aufhörte vor Weinen zu beben.
Dann ging ich in mein Zimmer und holte eine Zigarrenschachtel, in der ich meine Schätze aufbewahrte.
„Ich möchte Elena etwas zum Abschied geben, sie wünschte es sich so sehr.“
Als meine Mutter die Schachtel öffnete und deren Inhalt sah, konnte ich sehen, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste, ihre Wange hinab lief und schließlich von ihrem Kinn tropfte.
Drei Tage später war Elenas Beerdigung. Meine Mutter war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, dass ich am offenen Sarg von ihr Abschied nahm, aber ich bestand darauf. Meine Freundin sah so friedlich aus, so, als würde sie nur schlafen und jeden Moment aufwachen und ihr klares Lachen ertönen lassen. Mit zitternden Händen legte ich ihr mein Geschenk in den Sarg. Ihre Eltern hielten mich nicht davon ab. Elenas Mutter sah mich mit vom Weinen geschwollenen Augen an und nickte. Ja, Elena würde sich über meine Haare freuen, die mit einer blauen Schleife, ihrer Lieblingsfarbe, zusammengebunden waren. Die Friseuse steckte sie mir nach meinem letzten Friseurbesuch zu, als ich sie lieb darum bat.
Jetzt betrachte ich meine Tochter im Spiegel während ich ihr einen Zopf flechte und ihr Spangen ins dicke Haar schiebe. Elena, ich werde sie nie vergessen.

 

Hallo Siegelberg und herzlich willkommen hier!

Deine Geschichte gefällt mir. Ein kleines Mädchen verliert einen geliebten Menschen und wird so mit dem Tod konfrontiert. Dieses schwierige Thema hast du gut umgesetzt, ohne in Kitsch abzudriften. Das ist ein schmaler Grat, den du aber gemeistert hast.

Das Kindliche kommt ganz gut rüber. Ich habe mich gefragt, woran das liegt, denn die Sprache, die du wählst, ist nicht verniedlichend oder anderweitig kindlich. Aber das Vokabular ist einfach und häufig benutzt du viele kurze Sätze hintereinander. Vielleicht liegt es daran.

Die Geschichte hat genau die richtige Länge. Von deinen Figuren erfahren wir relaiv wenig, aber es reicht absolut für diese Geschichte aus. Das einschneidende Ereignis im Leben der Protagonistin (und um ein solches geht es ja in Kurzgeschichten) ist gut nachvollziehbar. Die Charakterisierung reicht aus, dass man als Leser mit der Protagonistin fühlt und ihre Trauer nachvollziehen kann. Elena bleibt sehr blass, über sie erfahren wir praktisch nichts, außer dass sie sehr krank ist. Aber das ist im Sinne der klassischen Kurzgeschichte ausreichend. Alle Infos sind auf das zentrale Thema reduziert, es gibt praktisch keine Nebenschauplätze. Wichtige Informationen bettest du in szenische Darstellung ein (zum Beispiel durch das Abnehmen des Kopftuchs). Prima, gefällt mir wirklich sehr gut.

Nur der letzte Absatz (die letzten beiden Sätze) haben mich etwas herausgerissen. Klar, durch die Tochter wird deutlich, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist und dass die Protagonistin immer noch an ihre Freundin aus Kindertagen denkt. Trotzdem sehe ich hier einen Bruch, vor allem vom vorletzten zum letzten Satz. Da müsste meiner Ansicht nach ein weicherer Übergang hin. Etwa so:

Jetzt betrachte ich meine Tochter im Spiegel, während ich ihr einen Zopf flechte und ihr Spangen ins dicke Haar schiebe. Wie so oft schweifen meine Gedanken dabei zu meiner Freundin aus Kindertagen. Elena, ich werde sie nie vergessen.

Gern gelesen.

Viele Grüße
Kerstin

 

Danke

Hallo Kersin,

vielen lieben Dank für die Kritik! Das mit dem Bruch ist vollkommen richtig. Darauf werde ich in Zukunft achten. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich die Geschichte in einer Stunde runtergeschrieben habe und dann gleich hier eingestellt habe. Aber das soll keine Entschuldigung sein.
Mir hat deine Email sehr gut gefallen, jemand, der sich so viel Zeit nimmt und so auf eine gelesene Geschichte eingeht, hat Seltenheitswert.
Vielen lieben Dank nochmal und vielleicht lesen wir ja öfter voneinander :-)

Lieben Gruß

Siegelberg (Tanja)

 

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