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Elke Fleischer trifft einen Engel
Elke Fleischer trifft einen Engel
An ein Leben vor Elke Fleischer kann ich mich nicht erinnern. Wir sind gemeinsam aufgewachsen, wohnten Tür an Tür, und Frau Fleischer ging jeden Dienstag mit meiner Mutter zum Treffen der ‚katholischen Frauenschaft’ unserer Pfarrgemeinde. An den anderen Tagen kam sie mindestens einmal auf einen Kaffee und ein Schwätzchen herüber. Elke und ich besuchten zusammen den Kindergarten St. Josef, wo wir jeden Morgen unsere Jacken auf einen krummen Haken zerrten, der viel zu hoch angebracht war.
Lange Jahre habe ich diese Freundschaft nicht hinterfragt: Andere hatten eine Warze am Kinn oder schiefe Zähne; ich hatte Elke Fleischer. So war es eben. Vermutlich glaubte ich damals, Elke und ihre Mutter gehörten irgendwie zu unserer Familie. Frau Fleischer sagte zu meiner Mutter: „Wie schön, dass Elke und Rita sich so gut verstehen; unsere Elke ist doch so schüchtern.“ So entstehen Mythen über dicke Freundschaften.
In der Grundschule veränderte sich meine Wahrnehmung allmählich. Da gab es Kathi, ein lustiges, braungelocktes Mädchen, deren Eltern ein Wohnmobil auf einem Campingplatz in Holland hatten, und die mich übers Wochenende dorthin einlud. Vor Glück und Aufregung konnte ich nachts nicht mehr schlafen. Meine Eltern waren einverstanden; also packte ich schon mittwochs meinen Rucksack, stopfte Sachen hinein, nahm sie wieder heraus und hockte schließlich inmitten eines Kleiderberges, völlig erschöpft und mit hämmerndem Herzen.
Donnerstags kam Frau Fleischer zum Kaffee. Meine Mutter schloss die Küchentür, das war ungewöhnlich. Ich stand auf der Treppe, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, denn die Stimmen klangen nicht wie sonst, lustig und laut, sondern gedämpft und leise murmelnd.
Schließlich wurden Stühle gerückt, ich sauste nach oben in mein Zimmer.
Hatte ich damals eine Ahnung von dem, was kommen würde? Ich denke schon, denn als meine Mutter mit einem traurigen Lächeln eintrat, verwandelten sich meine Knie in Pudding. Sie setzte sich neben mich und strich mir übers Haar. Elke sei so enttäuscht, sagte sie, sie fühle sich so einsam, von ihrer besten Freundin allein gelassen, ich solle mir mal vorstellen, Elke würde SOWAS mit mir machen..., ob wir denn Kathis Eltern mal bitten sollten, Elke mitzunehmen. Alles in mir schrie NEIN, ICH WILL NICHT!, doch ich nickte ergeben und schlug die Augen nieder.
Es kam, wie es kommen musste: Der Wohnwagen bot nur Platz für Vier, also blieb ich daheim und wurde von meiner Mutter mit Lob überschüttet und von Elke mit Lakritzschnecken und Weingummis. Vielleicht hätte ich damals standhaft bleiben sollen, dann wäre sicher einiges anders verlaufen, doch es wäre ungerecht zu verschweigen, dass ich keine Kämpfernatur bin. Auch heute gehe ich meist den Weg des geringsten Widerstandes, aber kann es nicht sein, dass dies auch zum Teil an der moralischen Keule liegt, die seit meiner Kindheit über mir schwebte? Ich möchte jedoch keinesfalls nach billigen Ausreden suchen.
Tatsache bleibt, dass Elkes Vater ein hohes Tier bei der Polizei war - das erklärt Elkes üppiges Taschengeld - und ich eine Schwäche für Lakritz und Weingummi hatte. Außerdem war Elke in allen Schulfächern unschlagbar gut und ließ mich in Mathe regelmäßig abschreiben. Die Dinge bedurften also einer sorgsamen Abwägung, auch ohne meiner gottgefälligen Entscheidung. Elke und ich verbrachten somit weiterhin unsere Freizeit mit Radfahren, Barbies und jeder Menge Fernsehkonsum. Wenn wir lakritzmampfend vor der Glotze saßen, sagte Frau Fleischer in der Küche glücklich zu meiner Mutter: "Ist es nicht schön, wie gut die beiden sich verstehen?" Manchmal frage ich mich heute, ob meine Mutter wirklich daran glaubte, dass es mit Elke und mir immer so schön war; wahrscheinlich schon.
Im Laufe der Jahre traten zwar gravierende Unterschiede zwischen uns deutlich zutage, doch das änderte gar nichts. Elke entwickelte sich zu einem unglaublich beharrlichen, sturköpfigen Mädchen, das undurchdringlich lächelte und mehr und mehr in die Breite ging. Es schien sie nicht zu stören, solange unser Leben in gewohnten Bahnen verlief. Ich begann mich für Jungen zu interessieren, achtete auf meine Figur und sah jeden Morgen im Spiegel minutenlang meinen immer noch nicht schwellenden Busen an. In Elkes Leben kamen diese Dinge einfach nicht vor. ( "Sie ist noch so kindlich, Gott sei Dank", sagte Frau Fleischer zu meiner Mutter, die indigniert auf den Küchenboden starrte.)
Morgens klingelte Elke um halb Acht an unserer Tür, eine Tüte mit Lakritzschnecken in der Hand. Meine Laune war durchgehend schlecht um diese Zeit, besonders, wenn sie ihre giftgrüne Polyacryljacke mit Lochmuster trug und wie ein verpacktes Fass aussah. Sie trug alles, was ihre Mutter strickte. Leider gierte ich dermaßen nach Lakritzschnecken, dass mir das Rückgrat fehlte, die eifrig dargebotene Tüte gelassen zu übersehen. Lieber ließ ich das Mittagessen ausfallen.
In Wirklichkeit hatte ich Wut auf mich, weil ich es nicht schaffte, mir Elke vom Hals zu halten und ich schämte mich, weil ich sie ausnutzte, aber auch, weil ich den Wunsch hatte, sie loszuwerden. Es gab Tage, da hätte ich Elke gerne die Tüte mit den Süßigkeiten entrissen und sie dann in den Graben geschubst, doch sofort tauchte das traurige Gesicht meiner Mutter auf und ich fand mich herzlos und kalt. Weil ich mich noch mehr schämte, bekam ich noch mehr Wut, die ich mit spitzen Bemerkungen an Elke ausließ; damit schloss sich der Teufelskreis.
Kathi war mittlerweile meine Freundin geworden, das schon, doch wir waren praktisch nie allein. Mit ihrem undurchdringlichen Lächeln latschte Elke neben uns her, setzte sich zu uns ins Eiscafé und bestellte sich den größten Sahnebecher. Wir konnten nicht begreifen, dass ihr offensichtlich gleichgültig war, wie sie aussah, während wir täglich auf die Waage stiegen und uns lediglich ein kleines Diäteis gönnten. Das allerdings meistens von Elke bezahlt wurde.
Kathi und ich gingen dazu über, uns heimlich zu verabreden. Das war schwierig, da Elke nachmittags durch die rückwärtigen Gärten stapfte und an unsere Terrassentür hämmerte. Es kam vor, dass ich oben in meinem Zimmer saß, die Handballen gegen die Ohren presste, beide Augen zukniff und murmelte: „Sie ist nicht da, sie ist nicht da.“
Natürlich war sie da. Von unten drang fröhliches Geplauder herauf, meine Mutter mochte Elke ausgesprochen gerne. Damals begriff ich das nicht, heute denke ich, dass sie in Elke ein Mädchen sah, um das man sich als Mutter nie auf diese bestimmte Art sorgen musste, die eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern und dem Erblühen der Konkurrenz bedeutete. Elke war plump und unattraktiv, hatte dazu das Gemüt eines Ackergauls, kam aber in der Schule spielend mit. Man musste sich nicht darum sorgen, ob sie vielleicht kreuzunglücklich war, weil ihr stets ergeben grinsendes Gesicht keinen Anlass dazu gab. So eine Tochter würde ihre Mama nie verlassen, ganz gleich, welcher Mann vielleicht doch noch um die Ecke käme. Für die Mutter eines Einzelkindes keine unattraktive Vorstellung. Und Einzelkinder waren wir beide, Elke und ich.
Trotzdem. Eines Tags hatte ich einfach die Nase voll.
Es war im November und ich wollte unbedingt mit Kathi in die Eislaufhalle. Dort tummelten sich immer total süße Jungs, die man anrempeln konnte, ohne aufdringlich zu wirken. Wenn alles nach Plan lief, halfen sie dir wieder auf die Kufen und luden dich zu einer Cola ein. Elke hatte keine Schlittschuhe, war auch viel zu dick zum Eislaufen, also trällerte ich gut gelaunt vor mich hin und trat aus der Tür.
Da stand sie, in einen Steppanorak gepresst, praktisch bewegungsunfähig aber strahlend, mit Lakritzschnecken bewaffnet, blitzende Schlittschuhe baumelten über ihrem Rücken. Meine Mutter steckte ihren Kopf zum Fenster heraus und flötete: „Ich habe Elkes Mutter den Tipp mit den Schlittschuhen gegeben, da könnt ihr euch doch schön zusammen amüsieren.“
Das Maß war voll. Ich tobte und schrie vor unserem Haus, gegenüber gingen die Fenster auf und die gesamte Siedlung nahm Anteil an meinem Frust. Tränen des Zornes und der Scham liefen über meine Wangen, schließlich erschöpfte ich mich in hilflosem Schluchzen und meine Mutter kniff missbilligend die Lippen zusammen und knallte das Fenster zu.
Elke Fleischer sah zum ersten Mal völlig entgeistert aus. Mit weit aufgerissenem Mund stand sie da, die Äuglein in den Fettpolstern zu runden Kugeln verwandelt.
Irgendwann drehte sie sich um und stapfte nach Hause.
Mir war die Laune total verdorben, zitternd und beschämt schlich ich zurück in mein Zimmer. Der Vorfall wurde nicht besprochen. Elke kam zwei Tage nicht in die Schule, ihre Mutter weinte in unserer Küche, meine Mutter druckste verlegen herum, sprach nur das Nötigste mit mir und machte mich mit ihrem stummen Vorwurf fertig. Selbst mein Vater, der auf Montage arbeitete und nur an den Wochenende zuhause war, fand, dass es irgendwie komisch zuging bei uns. Dennoch: Es hätte die Wende bedeuten können, wenn nicht zwei Wochen später Elkes Vater ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben wäre.
Damit war mein Schicksal besiegelt; Elke war jetzt eine Halbwaise, sie brauchte mich als Freundin mehr denn je. Frau Fleischer und meine Mutter saßen stundenlang in unserer Küche und belobigten den ehrenwerten, immer fleißigen Herrn Fleischer, der sein Leben im Dienst der Gerechtigkeit und der Sorge um den Schutz der Bevölkerung geopfert hatte, während ich mit Elke in meinem Zimmer hockte und Videos anschaute. Elke hatte zwar in den ersten Wochen ab und zu rotgeweinte Augen, doch eigentlich war sie wie immer. Vielleicht lag das aber auch an ihrem ausgesprochen dicken Panzer, ich will nicht ungerecht sein. Das einzig Bemerkenswerte bestand darin, dass sie außer Lakritzschnecken jetzt noch Chips mitbrachte.
Kathi suchte sich bald eine andere Freundin.
Nach dem Abitur wurde Elke Fleischer Beamtin in der Finanzbehörde und zog im elterlichen Haus ins Dachgeschoss. Ich studierte Lehramt für die Primarstufe, heiratete Jochen, der sein Leben lang drei Häuser weiter gewohnt hatte, und unterrichtete an einer Grundschule, bis unsere Zwillingssöhne Tim und Lukas geboren wurden. Wir kauften ein Siedlungshaus zwei Strassen weiter. Sonst änderte sich eigentlich nichts.
Muss ich erwähnen, dass Elke Fleischer nach wie vor zu unserem Leben gehörte? Sie wurde Tims Patin, kam fast täglich mit Geschenken und spielte mit den Kindern. Dafür liebten unsere Söhne sie, packten mit roten Wangen diverse Päckchen aus und staunten, wenn Elke geschickt die Schienen der Holzeisenbahn zusammensteckte. Ebenfalls mit roten Wangen.
Ich schwöre, Elke Fleischer lebte völlig zufrieden. Für mich war klar, dass dies alles so bleiben würde; wahrscheinlich landeten wir irgendwann noch zusammen in einer Seniorenresidenz. Jochen lachte nur, wenn ich resigniert seufzte. Elke sei doch gar nicht lästig, meinte er, sie falle ihm eigentlich überhaupt nicht weiter auf. Außerdem kenne er keinen besseren Babysitter.
Ich habe Heiligabend Geburtstag, deshalb ist es seit Jahren üblich, dass wir vormittags zum Brunch einluden: Eltern, Schwiegereltern, Elkes Mutter und Elke. Die Familie eben.
Doch letztes Jahr geschah etwas Unglaubliches: Elke konnte nicht kommen. Sie hatte ‚ein Rendezvous’!
Dies teilte uns Frau Fleischer verlegen lächelnd am Vorabend mit, wobei sie rot anlief und versuchte, den pellenartigen Rock über ihre dicken Knie zu ziehen, was nicht klappte.
Ich konnte es nicht fassen. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass in unserem Garten lila Männchen mit pelzigen Füßen stünden, wäre es mir wahrscheinlicher erschienen.
„Wie meinen Sie das: ein Rendezvous?“ Ich kroch fast in ihr Gesicht. Frau Fleischer zupfte an ihrem Ohrläppchen.
"Nun ja, Elke hat einen netten jungen Mann kennen gelernt, einen wahren Engel."
Ich überlegte fieberhaft, wann das passiert sein konnte. Elke hockte doch entweder in ihrem Büro oder bei uns. Außerdem: SIE HÄTTE ES MIR BESTIMMT SOFORT ERZÄHLT!
Ich leckte über meine trockenen Lippen. "Wieso ein Engel?", krächzte ich.
Frau Fleischer kostete meine Überraschung weidlich aus und ließ sich mit der Antwort Zeit. "Nun, Friedbert ist ein so anständiger junger Mann, er kam zu Elke wegen einer Steuersache, vor einem halben Jahr. Damals hat er das Bestattungsunternehmen von seinem Vater übernommen, der kurz vorher verstorben war."
Pietätvolles Schweigen, mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Ein Engel, der Bestatter war!
"Sie mochten sich auf Anhieb". Frau Fleischer blickte verträumt in eine imaginäre Ferne.
"Friedbert lebt im Haus seiner Mutter - eine reizende Frau - und hat auch geduldig auf die Richtige gewartet..."
Aha, und das ist dann wohl Elke, eine achtunddreißigjährige, dicke, langweilige, lakritzmampfende, verstaubte Zahlenjongleuse aus der Finanzbehörde! Meine Güte, ich war ja so gemein.
Elke verbrachte also den Heiligabend bei Friedbert und seiner Mutter.
Ich lief an meinem Geburtstag wie betäubt umher, konnte auch nicht verstehen, warum ich nicht einfach froh war, dass Elke nun ihren Engel hatte und mir nicht mehr auf den Wecker fallen würde, doch Tatsache ist: Ich war nicht froh. Ich war beleidigt, weil sie mir nichts gesagt hatte; wäre es nicht geradezu ihre Pflicht gewesen? Insgeheim dachte ich, dass die ganze Sache doch gar keine Zukunft haben konnte: Zwei hausbackene Mamakinder, was sollte das denn schon werden? Ich bitte Sie!
Jochen sagte, ich käme ihm vor wie eine alte Giftspritze, daraufhin knallte ich beleidigt die Tür und verschwand in unserem Schlafzimmer, warf mich heulend aufs Bett und fühlte mich von der Welt irgendwie betrogen.
Das ist nun ein Jahr her. Am letzten Montag haben Elke und Friedbert geheiratet. Sie heißt jetzt Fegewald und hat sicher zwanzig Kilo abgenommen. Friedbert ist ein langer, spindeldürrer Hänfling mit dicker Hornbrille. Die Feier fand in dem ausgeräumten Abschiedsraum des Bestattungsunternehmens 'Ruhe und Licht' statt, und andauernd haben die beiden sich gezwickt und gekichert, und so eng umschlungen getanzt, dass Friedberts Brille auf Halbmast hing.
Ziemlich unpassend für Leute, die auf die vierzig zugehen, wie ich finde.
Für Tim und Lukas wird Elke jetzt nicht mehr so viel Zeit haben, denn sie bauen gerade Friedberts Elternhaus um, damit Frau Fleischer zu ihnen ziehen kann. Weil sie sich ja mit Friedberts Mutter so gut versteht.
"Ist das nicht schön?", strahlte Elke mich an, "wir alle zusammen!"
Meine Mutter saß mit schmalen Lippen daneben und seufzte tief.
Als wir nach Hause gingen, kam Friedbert hinter uns hergelaufen, ungelenk und schlaksig. Er überreichte mir eine silbern verpackte Schachtel und sagte verlegen: "Das ist für dich, Rita..., weil du meiner Frau immer so eine liebe Freundin warst."
Während ich dies schreibe, habe ich die Schachtel neben mir stehen und gerade die achte Lakritzschnecke gegessen.
Weingummi ist auch noch reichlich unten drunter.