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Ellis und Harold
"Ich sehe keinen Eissalon", sagte Ellis.
"Wir müssen bis zum Ende. Siehst du die Kuppel? Das ist er."
Ellis nickte, aber ihr war nicht ganz wohl dabei. Man durfte nicht zwischen die Planken sehen, es wurde einem ganz schwindlig von dem vielen Wasser darunter. Sie reckte das Kinn tapfer nach oben. Die Sonne drang kaum durch die Wolken, ein milchweißer Fleck, der wenig Wärme versprach. In der Ferne zog ein Schiff vorüber, ein Lastkahn. Er war länger als der Pier, auf dem sie gingen. Auf den Wellen schaukelte müde ein orangefarbener Ballon.
"Spürst du, wie es schwankt?"
"Es schwankt nicht", sagte Harold.
Über ihnen keiften Möwen. Die Luft war herrlich salzig, aber dafür hätten sie nicht den ungesicherten Pier betreten müssen. Die Flaggen knatterten wie Wäsche auf der Leine. Den ganzen Weg hielt sie ihren Hut, sie misstraute dem Band. Die Hutnadel hatte sie im Hotelzimmer liegen lassen.
"Ich dachte, du liebst das Meer? Sagtest du nicht, deine Vorfahren waren Seeleute?"
"Ein Onkel ist vor Mauritius ertrunken, als wir noch Kinder waren", sagte Ellis. Sie sagte es ganz teilnahmslos und mit ihrem vornehmen Gesicht, dem man nie ansah, ob es ihr auch ernst war. "Ich glaube nicht, dass wir einen Platz bekommen."
"Es gibt immer einen Platz", sagte Harold im Tonfall eines Majors. "Und das Eis schmeckt unglaublich italienisch, du wirst es lieben. Am Ende wirst du mir dankbar sein."
Ein paar Matrosen kamen ihnen entgegen. Sie hatten getrunken, und Ellis schmiegte sich eng an Harold. Die Männer starrten auf Ellis’ Rock, und Harold griff um ihre Hüfte. Er war stärker als Arthur. Sein Oberarm spannte sich unter dem Griff ihrer Finger. Ellis wusste, dass er im Hinterhof Gewichte hob.
"In der Stadt gibt es genug Eissalons. Ich fand den letzten sehr anständig."
"Hier sind wir ganz ungestört", sagte Harold und sah fest nach vorne über die Geschäftsläden auf das offene Meer hinaus. An solchen Tagen müsste man reich sein, dachte er. Einen Sportwagen besitzen. Vorne am Hafen hatte er gesehen, wie zwei Bentleys auf die Fähre verladen wurden. Er könnte mit Ellis noch einmal die normannische Küste entlang fahren – oder quer durch das Land, hinunter bis nach Nizza. In den feinen Hotels sprach jeder lupenreines Englisch.
"Siehst du die Möwen? Man sagt, sie bleiben sich ein Leben lang treu."
"Kein Kunststück, wenn alle gleich aussehen", sagte Harold und hielt ihr die Tür auf. Es zog sie zu den hinteren Tischen, in eine der korbartigen Nischen, als könnte das Licht ihm ein Geheimnis entreißen.
Ein Mädchen drückte ihnen zwei Karten in die Hand, und er war froh, einen Moment nicht reden zu müssen. Er betrachtete einen Eisbecher nach dem anderen, wie Gemälde in einem Museum. Die Namen erinnerten ihn an den letzten Urlaub mit Olivia, er lag drei oder vier Jahre zurück. Lieber hätte er einen Scotch getrunken.
"Was macht ihr am Wochenende?"
"Arthurs Mutter hat Geburtstag. Sie wird siebenundachtzig Jahre oder so. Ich verstehe nicht, warum man um alte Leute so viel Aufhebens macht. Ich würde mich schämen, so alt zu werden."
Harold sah sie tadelnd an, doch sie sprach einfach weiter, ohne sich um seinen Blick zu kümmern. "Jedes Jahr bäckt er ihr einen Geburtstagskuchen, seit er ein kleiner Junge ist. Kannst du dir das vorstellen, ein erwachsener Mann? Er hetzt den ganzen Vormittag durch die Küche, und am Ende könnte man meinen, die Deutschen hätten uns bombardiert. Es ist so eine Art Tradition bei denen."
Harold nickte und suchte den Blick des Mädchens, das die Karten gebracht hatte.
"Wir sollten nicht über ihn reden", sagte Ellis. "Aber irgendwie –"
"– aber irgendwie macht es dich scharf. Hab ich Recht?"
"Vielleicht", sagte Ellis und wurde rot. Sie mochte es, wenn er so redete, und sie mochte es nicht. "Weißt du, er ist immer so gut zu allen. Manchmal denke ich, ich habe ihn nicht verdient." Sie legte ihren Hut auf die Ablage und richtete sich in der Spiegelung der Fensterscheibe den Haarknoten. "Oder ich wache mitten in der Nacht auf und denke mir, ich hätte ihn mir bloß ausgedacht. Dann drehe ich den Kopf – und sehe, wie er ruhig atmet. Danach wieder einzuschlafen, das ist wahres Glück."
"Mir kommen die Tränen."
Ihre Bestellung kam im richtigen Moment. Ellis hielt den langen Löffel wie ein Skalpell. Das Eis war ihr noch zu hart.
"Warum sind die Serviererinnen in Eissalons immer angezogen wie Krankenschwestern?", fragte sie und schabte ein wenig an der Pistazienkugel.
"Es ist ein Verkaufstrick", sagte Harold. "Der Kunde soll glauben, es geht in der Küche so hygienisch zu wie in einem Spital."
"Sind sie deswegen auch so unfreundlich?"
"Natürlich."
"Manchmal erinnerst du mich an Arthur. Er hat für alles eine Erklärung."
"Hast du eine bessere?"
"Ihr Männer seid alle gleich!"
Harold grinste, doch ganz unvermittelt wurde daraus eine Grimasse. Am Abend kam der Schmerz, pünktlich wie ein Pendlerzug. Ihn zu ignorieren, war ein nicht unwesentlicher Teil der Übung.
"Wenn ich mir die Männer hier ansehe. Ich sehe keinen, der es auch nur entfernt mit ihm aufnehmen könnte."
"Ich kenne das Gefühl", sagte Harold, um sie zu ärgern. Das Stechen in der Lunge machte ihn unduldsam. "Wenn Olivia mich zum Zug begleitet und mir mit dem weißen Taschentuch nachwinkt, dann ist sie für mich die schönste Frau der Welt."
"Er ist der Mann, mit dem ich Kinder haben will. Sehr bald sogar", sagte Ellis trotzig. "Wenn wir am Sonntag spazieren gehen, sehe ich, wie die anderen Frauen mich beneiden. Und er hat eine tadellose Figur. Er achtet auf sich. Andererseits: Er nimmt immer alles sehr genau. Und er ist verdammt empfindlich."
"Er kennt eben seinen Wert", sagte Harold.
"Einmal hat er drei Tage nicht mit mir geredet, weil ich zwei Hemden verwaschen habe. Wie kann man so dickköpfig sein? Und dann liest er stundenlang in seinen Büchern und macht sich Notizen wie ein Schulkind. Es ist manchmal so … rührend." Sie weinte plötzlich. Die Tränen kamen so unvermutete, dass Harold einen Moment lang dachte, sie wüsste Bescheid.
"Weißt du, manchmal denke ich, ich sollte diesen großartigen Menschen kennenlernen. 'Arthur, darf ich dir meinen Geliebten vorstellen? Das ist Harold Bosworth.'"
Die verrückte Idee riss Ellis aus ihrer Laune. Beide lachten ein wenig.
"Wir sind eben schwach", sagte Ellis und ließ sich einen Löffel Schlagsahne auf der Zunge zergehen.
"Wir sind das Letzte", präzisierte Harold und gab der Versuchung nach, seine Hand ein letztes Mal unter ihren Rock zu schieben.
"Und wenn uns jemand sieht?"
"Und wenn schon", sagte Harold und zog seine Hand zurück. "Bis zum nächsten Mal haben sie es vergessen."
Im vorderen Teil des Salons brachte jemand einen Plattenspieler in Gang. Es war moderne Musik, für die sie nun zu alt waren. Ellis tat, als würde sie Gefallen daran finden und streckte ihm die Hand entgegen. Die Ringe an ihren Fingern berührten sich für einen kurzen Augenblick.
"Wie oft hast du schon Gelegenheit, mit einer Schlampe zu tanzen?"
Harold tat, als würde er es sich ernsthaft überlegen. Ellis lachte und tanzte ungelenk ein paar Takte mit ihrem unsichtbaren Partner. Er streifte indes das Tischtuch glatt und dachte an ihre weiße Haut zwischen den zerwühlten Laken. Es waren zwei Welten, die durch nichts verbunden waren.
"Wie geht es deiner Tochter? Hat sie nicht im September Geburtstag?", fragte Ellis atemlos. Sie sah, dass er nachdenklich geworden war.
"Lilli macht den ganzen Tag ihre Beobachtungen. Ich weiß, es klingt wie ein Klischee, aber durch sie sehe ich die Welt mit neuen Augen." Nun war es an ihm, Tränen zurückzuhalten.
"Wie alt wird sie eigentlich? Du hast mir nie ein Foto gezeigt."
Er griff in die Brusttasche und sah noch einmal beide Möglichkeiten in großer Klarheit vor sich – so klar wie Ellis’ verwirrten himmelblauen Blick, als er sie damals am Messestand nach ihrem Namen fragte. Dieses scharf belichtete Bild durchdrang all die Jahre mit Leichtigkeit und überfiel ihn in den unpassendsten Momenten. Seit er denken konnte, betrachtete er das Leben als eine unerbittliche Abfolge von Entscheidungen. Manche Weichenstellungen erwiesen sich als verhängnisvoller als andere. Am Ende fasste er nach dem Portemonnaie. Er tat es mit der kribbeligen Aufgeregtheit eines Jungen, der seine Modelleisenbahn willkürlich zum Entgleisen bringt. Doch für ihn würde es keinen Unterschied machen. Es war nur eine Variante, für die er sich entschieden hatte.
"Du solltest mit dem Rauchen aufhören", sagte Ellis, als er ihr mit vorgehaltener Hand das Foto reichte.
"Ich sollte mit einigem aufhören."
"Sie ist hübsch. Wir sollten uns nicht wiedersehen." Sie reichte ihm das Bild zurück und seufzte theatralisch.
Harold nickte.
"Naja. Vielleicht ein letztes Mal." Ihr Kuss schmeckte eiskalt, doch der Lippenstift war nun im Licht der Kerze eine Spur zu grell. Er wusste nichts zu sagen. Sie lehnte lange an seiner Schulter. Irgendwann sprang der Stundenzeiger nach vor, und die Musik hörte unvermittelt auf.
"Ich muss bald zum Bahnhof."
Harold beglich die Rechnung im Stehen. Sie strich ihm das Revers gerade. Das Attest raschelte in seiner Brusttasche, und nur das dünne Flanell trennte sie in diesem Moment von dem Wissen um seine Lage. Als Harold ihr die Schwingtür aufhielt, trat ihnen ein Mann in schwarzem Anzug entgegen. Harold griff nach seinem Hut und sprach ein paar Sätze mit ihm. Am Ende lachte der Mann und klopfte ihm auf die Schulter. Als er verschwunden war, richtete Harold sich wieder zur vollen Größe auf.
"Wer war das?", fragte Ellis erschocken.
"Niemand. Er hat in der Stadt einen Teesalon. Zweimal im Jahr kontrolliere ich seine Maschinen."
Er bot ihr den Arm. Sie bewundere die Behändigkeit, mit der er zwischen der Tatkraft des Sportlers und der Fügsamkeit des Vertreters hin und her schwang. Er war immer noch ein gutaussehender Mann, auch wenn er im letzten Jahr irgendwie an Glanz verloren hatte. Als sie den Pier betraten, sank die Sonne ins Meer. Zwischen dem Horizont und den Wolken hatte sich ein dünner Streifen gebildet, der sich erst rot, dann violett färbte, großartiger als ein Maler es je zustande bringen könnte. Ein rosa Schein fiel auf den Pier und überstrahlte die filigranen Bauten aus blauweißen Brettern. Auch wenn man sich auf einem wackeligen Steg befand, musste man die Szene widerstrebend schön nennen. Ellis liebte es, diese Stunde im Freien zu verbringen. Im Westen dämpfte der Abend die Hässlichkeit der Hafenanlagen, die im schiefergrauen Licht des Tages auf ihnen lastete wie ein staubiger Deckel.
Auf der Mitte des Piers blieb Harold stehen, zündete sich eine Zigarette an und bekämpfte zugleich das seltsame Verlangen, auf das Geländer zu steigen, die Arme auszubreiten und sich abzustoßen. Er schielte hinüber zu Ellis, die sich für eine bettelnde Möwe begeisterte. Das gierige Tier stand im Wind wie ein Drachen an einer Leine und hielt mit ihnen Schritt. Er konnte sich an Ellis’ Lachen nie satt sehen, vor allem heute nicht; das Leuchten eines toten Sterns, der viele Lichtjahre entfernt war, und dessen Strahl vom Verlöschen seiner Quelle nicht das Geringste ahnte. Der Vogel drehte ab und sie war mit einem Schlag ganz abgeklärt. So war Ellis. Sobald sie den Blick eines Betrachters spürte, reckte sie das Kinn nach vor und setzte ihr überhebliches Gesicht auf. Das alles, schien sie zu sagen – der Pier, das Meer, die untergehende Sonne – ist doch nichts im Vergleich mit der Pracht meiner besten Jahre. Wahrscheinlich hatte sie Recht.
"Du weißt, dass ich bereit bin, wenn du ..."
Er führte den Finger an die Lippen.
"Warum?", flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf, und sie begann zu heulen, wie jedes Jahr.
"Warum hast du mich damals überhaupt angesprochen? Warum nicht Martha oder Rosie?"
Er schwieg und schritt mit ihr über die ächzenden Planken bis zum Ende des Piers. Als sie an Land waren, blieb er stehen und sah ihr ins Gesicht.
"Weil du nicht besonders hübsch bist."
Ellis gaffte ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie war plötzlich ganz ernst, und doch lag ein Anflug von Freundlichkeit über ihrem Gesicht, als hätte sie ihn bloß nicht richtig verstanden.
"Es ist die Wahrheit: Ich habe dich angesprochen, weil du von den drei Mädchen das hässlichste warst." Harold warf seine Zigarette in das dunkle Wasser. "Ich dachte, die Chance zu scheitern, wäre bei dir am geringsten. Ich war betrunken. Und es war der letzte Messetag."
"Ist das dein Ernst?" Sie wankte. "Dann verschwinde aus meinem Leben. Sofort."
Er blieb stehen.
"Verschwinde!"
Sie hatte das Wort bloß gehaucht, doch beim zweiten Mal schleuderte sie es ihm ins Gesicht.
Er rührte sich nicht.
"Du bist … du bist Dreck", schluchzte sie und versuchte ihn über die Planken in das kalte Wasser zu stoßen, doch er stemmte sich ihr entgegen wie ein Mast. Sie stürzte, raffte sich auf, und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. Dann taumelte sie auf schwankenden Beinen zurück auf den Pier. Über ihrem Hut gellte das endlose Gelächter der Möwen, als wäre die Welt ein Scherz.