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Endlich Lungenkrebs
Ich weiß noch, als sei es gestern gewesen, wie ich mit der Frau, die sich mir einst als meine Mutter vorgestellt hatte, meinen Onkel Frank im Krankenhaus besuchte.
Frank war ihr Bruder und war nicht wie sie in den Siebzigern nach Deutschland ausgewandert, also mussten wir erst mit der Fähre über den Kanal um ihn zu sehen.
Ich hatte meinen Onkel zuvor erst einmal getroffen, aber schon da hatte er mit seiner lässig in den Mundwinkel geklebten Zigarette einen mordsmäßigen Eindruck bei mir hinterlassen. Damals nahm er mich zur Seite und zeigte mir, wie er nur mithilfe seiner Lippen die halb aufgerauchte Kippe in seinem Mund verschwinden lassen und wieder hervorzaubern konnte, wobei schwadige Ringe aus seiner Nase entstiegen.
Als wir an seinem Krankenbett standen und Frank uns stolz den Stumpf präsentierte, unter dem vor ein paar Wochen noch sein Knie fröhlich knackte, hatte er schon etwas an Glanz eingebüßt, ließ sich aber nicht davon abhalten mich mit neuen Tricks in seinen Bann zu ziehen. Ich weiß heute, dass es physionomisch nicht möglich ist, aber damals war ich mir hundertprozentig sicher, dass sich genau das abspielte, wovon ich nun berichte. Er zog genüsslich an seiner Lucky Strike, verschloss den Mund, verdrehte leicht die Augen und da waren sie: feine Rauchfäden kringelten sich aus seiner linken Ohrmuschel, schlangen sich durch seine wuchtigen Koteletten, bevor sie sich verteilten und in den Londoner Morgenhimmel stiegen. Er schaute mich mit seinen gelben Augen erst eindringlich an und zwinkerte mir dann fröhlich zu.
„That’s magic, boy.“
Frank starb eine Woche, nach unserer Heimkehr. Zu seiner Beerdigung fuhr meine Mutter alleine, während ich zu seinen Ehren hinter unserem Gartenhäuschen stand und versuchte den inhalierten Rauch durch mein Trommelfell zu pressen.
Als ich dann in den Kindergarten kam, war ich bereits bei einer Schachtel Ernte 23 in der Woche, die ich, wenn meine Mutter wieder betrunken auf dem Sofa eingeschlafen war, vom Wohnzimmertisch stibitzte und im Turm meiner Playmobil Ritterburg versteckte.
Auch als sie wegen der Brandwunden, die meine Lippen und manchmal sogar meine Nasenspitze zierten eine Vorladung zur Kindergartenleitung bekam „zwecks Klärung des Verdachtsmoments“, schöpfte sie keinen Verdacht, was sie nicht davon abhielt, mir einmal mehr den Hintern kräftig zu versohlen.
„Wo kommen die Wunden her, du Drecksau?“ Ich muss an dieser Stelle die arme Frau etwas in Schutz nehmen. Ihr Umgangston war nicht der Beste, aber sie hat es auch nicht immer leicht gehabt.
Ich unterbrach jedenfalls für einige Zeit die Trainingseinheiten im Kippenschlucken und widmete mich dafür umso intensiver dem Ohrmuschelrauchen. Das ging mit weniger Verletzungsgefahren einher, war aber vonseiten des Materialverbrauchs aufwendiger, sodass ich mich schnell hoch dosieren musste. Daraus wiederum resultierte ein höherer logistischer Aufwand, da meine Mutter selbst täglich eine Schachtel rauchte. Also fing ich an, Geld aus ihrem Portemonnaie zu stehlen.
Die Einschulung nahte und eine Packung reichte längst nicht mehr. Das Training hatte ich aufgegeben und gegen schlichtes Inhalieren eingetauscht. Mein Mund war einfach noch zu klein um eine Kippe darin verschwinden zu lassen und den Trick mit den Ohren durchschaute ich auch nach manch durchgrübelter Nacht nicht.
Ich schiebe es nicht ausschließlich auf meine teure Leidenschaft, aber das Geld für eine ausgewogene Ernährung fehlte und so kam es, dass meine Mutter ein wöchentlich wechselndes Arsenal von Delikates Fischkonserven auftischte. Ich musste mich an die vereinzelten Erbsen, in dem besonders häufig vorkommenden „Thunfisch in Tomatensoße“ halten, um meinen Bedarf an Vitaminen abzudecken, aber ich war auch nie ein großer Freund von Gemüse gewesen.
Sie schien mit unserer Art zu leben, nicht sonderlich zufrieden zu sein, zumindest begann ich das aus ihrer seit Monaten anhaltenden Sprachlosigkeit zu schließen.
Mir war das Essen nicht so wichtig, schmeckte ja eigentlich sowieso alles gleich fade.
Als ich in der achten Klasse war, wurde ich von Fräulein Schmelzer, unserer Schuldirektorin aus dem Sportunterricht geholt, der für mich so aussah, dass die anderen sich sportlich betätigten und ich mir im Mattenlager gemütlich eine durchzog.
„Du musst jetzt ganz tapfer sein, mein Junge.“
„Wäre ich nicht tapfer, wäre ich wohl kaum hier, Fräulein Schmelzer.“
„Eure Nachbarn haben deine Mutter in der Badewanne gefunden.“
„Sie werden es kaum glauben, aber das ist mir ab und zu auch schon passiert.“
„Sie ist tot, mein Junge.“
„Ich brauch ne Zigarette.“
Neben dem Eingang der Polizeiwache stand ich an jenem Nachmittag und rauchte. Das Ehepaar Schmidetzky hatte sie gefunden in einer Mischung aus Wasser, Badedas und Blut.
Der eher freundliche Polizeioberwachtmeister Paulsen hatte mir erklärt, dass das Unglück meiner Mutter für uns unvorstellbar sein musste. Noch nie hätte er erlebt, dass sich jemand mit einem Bimsstein das Bein bis zum Oberschenkel wegschmirgelte.
„Was war nur los mit deiner Mutter?“
„Was war nur los mit meiner Mutter?“ Eine elementare Frage, die bloß noch von einer in ihrer Unlösbarkeit übertrumpft wurde:
„Was hatten diese blöden Schmidetzkys in unserer Wohnung zu suchen gehabt?“
Ein Rätsel, das ich nicht mal im Kinderheim Sonnenblume zu lösen vermochte, wo ich als Elternloser nun meine Zeit bis zur Volljährigkeit verbringen sollte.
Die Vorteile, des Heimalltags erschlossen sich mir schnell.
Ich teilte mir ein Zimmer mit Florenz, einem fünfzehnjährigen Sachsen, dessen Eltern bei einem Riesenradunfall überrollt worden waren.
Florenz war wie ich Kettenraucher und zeigte mir in einem abgegriffenen Stern gerne Fotos von Raucherlungen und Metastasengärten. Die Bilder waren von einer so umwerfenden Schönheit, dass mir oft Tränen der Rührung in die Augen schossen und ich unweigerlich an Frank denken musste.
„Mein Onkel ist auch an Krebs gestorben“, sagte ich mit belegter Stimme. „Er hatte nur noch ein Bein.“
Von da an durfte ich mit Florenz und seiner Clique abhängen, wie sie es nannten. Wir rauchten und lachten. Mann, war das eine schöne Zeit ...
Aber so wie eine Zigarette schnell geraucht ist, ging auch dieser Abschnitt meines jungen Lebens wie im Fluge vorbei und ich wurde achtzehn.
„Zeit auf eigenen Beinen zu stehen“, sagte Rüdiger, unser Sozialarbeiter und hielt mir eine Schachtel Camel unter die Nase. Ich griff beherzt zu.
Rudi, wie wir ihn nannten, hatte mir einen Praktikumsplatz bei Adonis besorgt, einem Aufsteller von Spiel- und Zigaretten Automaten, dessen Betreiber, der dicke Günther Lempen, sich, wegen der von ihm angestrebten Aufstellung von Glücksspielautomaten mit Geldkartenzahlung, offen im Streit mit der Stadt befand.
„Alles Hurenböcke“, pflegte er zu sagen. Was konnte ich da schon tun, außer nicken?
Rauchen. Und das tat ich, drei Schachteln mittlerweile. Damit war ich immer noch eine unter Lempen, der war aber auch schon fünfzig.
Nach meinem Praktikum bekam ich vom Lempen das Angebot:
„Die Automaten neu bestücken.“
„Ich?“
„Ja, du.“ Wie hätte ich da nein sagen können?
Ich konnte mir ein eigenes Zimmer im City Apartel, einem Apartment Komplex in der Nähe des Hauptbahnhofes, leisten. Die Wände schmückte ich mit den mittlerweile leicht zerfledderten Bildern aus Florenzens Stern, die er mir zum Abschied feierlich überreicht hatte.
„Du kannst damit bestimmt mehr anfangen als ich“, sagte er damals mit bebender Stimme.
„Das denke ich auch“, antwortete ich, nicht ohne leicht sarkastischen Unterton. Florenz hatte aufgehört.
Jeden Morgen verließ ich meine Wohnung, fuhr die zwanzig Minuten mit der Bahn hinaus zur Zentrale und nahm den Adonis Firmenkleintransporter mit der schon leicht abgelebten Aufschrift Adonis, mehr Rauch als Schall und fuhr in die umliegenden Gebiete, um Lempens Automaten frisch zu bestücken. Dass dabei auch für mich etwas abfiel, muss ich wohl kaum erwähnen. Geld raus, Schachteln rein. Eine Stellenbeschreibung, wie ich sie mir als Kind nicht auszumalen gewagt hätte.
Und so lebte ich mein Leben in Eintracht und Wohlgefallen, bis ...
„... vielleicht mal zum Arzt gehen.“ Lempens von Wulsten umgebene Augenpartie fixierte mich streng.
„Wer, ich?“ Auf dem Schreibtisch meines Chefs direkt vor mir lag ein dicker Klumpen blutigen Schleims.
„War ich das?“ Lempen nickte, mittlerweile mehr unbeteiligt.
Ich hatte wohl bemerkt, dass sich mein einst saftiger Morgenhusten in ein eher trockenes, minütlich auftretendes Keuchen verwandelt hatte, aber wer hält sich schon gerne mit solchen Nichtigkeiten auf.
Am Abend dieses Tages stand ich mal wieder vor dem Badezimmerspiegel meines Apartments und genoss die Vorstellung von Franks altem Trick.
Lempen hatte mir einen Termin bei einem befreundeten Arzt organisiert und mir zugesagt, zumindest die Kontrolluntersuchung zu bezahlen, was ich angesichts meiner fehlenden Krankenversicherung als ziemlich nette Geste auffasste.
Zehn Jahre hatte ich nun für Lempen gearbeitet und er hatte sich mir gegenüber stets fair verhalten, also beschloss ich, den Termin trotz meiner Antipathie Ärzten gegenüber, wahrzunehmen.
„Rauchen Sie?“
„Gelegentlich.“ Vor mir saß ein Mittvierziger, in dessen sorgenvoll verzogenen Stirnfalten man problemlos eine Zigarette hätte verschwinden lassen können. Ich schaffte es aber, mich zu beherrschen.
„Das sieht nicht gut aus.“ Die auftretende Stille war nicht grade ein Zeichen von Gesprächigkeit.
Der Doktor seufzte und richtete sich unbehaglich auf seinem Sessel auf. Er lupfte einen Stapel Bilder aus einem hellbraunen Umschlag, bedacht, sie nicht durch Fingerabdrücke zu verschmieren.
Er schob den Stapel in meine Richtung und blickte auf seine Hände.
„Bitte sehen sie selbst.“
Ich kannte, was dieser Provinzarzt mir da zeigte, ich hatte es an meiner Zimmerwand altern sehen. Ich hatte es seit Jahren in meinen Träumen gesehen. Ich war durch das Dickicht gewandert, auf der Suche nach mir selbst, doch ich fand nur das zwinkernde Auge meines Onkels.
Dieses Gefühl stieg wieder in mir hoch ... wie damals, als ich mir das erste Mal bei dem Versuch die Zigarette in meinen Mund zu manövrieren, die Lippe verbrannt hatte, wie einige Jahre später, als Florenz mir die Bilder aus dem Stern das erste Mal gezeigt hatte und wie noch einige Jahre später, als ich Franks Trick das erste Mal vor meinem Badezimmerspiegel vollführt hatte.
Erfüllt von diesem Gefühl, verschwammen die Bilder, die der Arzt mir an jenem Tage vorlegte, vor meinen Augen und verbanden sich mit den Bildern meiner Vergangenheit.
Wild wucherten die Gärten in meiner Lunge, in meinem Körper, in ihrer vollen Schönheit, in ihrer Unbesiegbarkeit.
Der Arzt deutete meine tränennassen Augen anscheinend falsch und blickte betreten auf die Bilder.
Ich erhob mich aus meinem Stuhl und reichte ihm die Hand.
„Danke, ich danke Ihnen.“
So hatte ich also mein Leben lang auf diesen Augenblick hin gearbeitet, das wurde mir nun klar. Von meinem Besuch in dem Londoner Krankenhaus, bis zu dem Blutfleck auf Lempens Tisch, alles mein Weg zu diesem Punkt.
Der Rest war dann aber leider doch nicht so toll, wie ich es mir vorgestellt hatte.