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Endorphin
Wieso bin ich mitgegangen?
Vor einer Stunde ist Alex bei mir aufgekreuzt und hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte mit ihm feiern zu gehen. Kein Problem hab ich ihm gesagt. Und jetzt steh ich hier im Regen.
Unter "feiern" hatte ich mir eigentlich einen ganz normalen Abend in einer Bar vorgestellt. Doch dann kam alles anders...
Jedenfalls hab ich gesagt kein Problem. Und er: "Gut".
Ich hab mir meine Jacke geschnappt und wollte an ihm vorbei aus der Tür, als er mir nachgerufen hat: "Vielleicht solltest du dich umziehen..." Ich hab ihn natürlich erstmal angeschaut, als käme er vom Mars. - Ich meine von welchem Typen lässt man sich schon gerne sagen, man sei falsch angezogen!?
Ungläubig hab ich ihn angestarrt, da ist mir aufgefallen, dass er vollkommen schwarz angezogen war.
"Schwarz?" Er nickte: "Ja, zieh dir was schwarzes an."
Also lief ich hoch in mein Zimmer und suchte in meinem Schrank nach ein paar schwarzen Sachen. Hab mir ein trägerloses Top und Jeans angezogen und bin wieder die Treppe runter zu ihm. Alex musterte mich. "Fast perfekt. " meinte er und nahm seine Kette vom Hals und hängte sie mir um. Ein Lederband mit einem eigenartigen keltischen Symbol daran. Weiß nicht was das bedeutet. "Jetzt ist es super. Die Kette kannste behalten. - Steht dir echt gut!" Fand ich echt süß, was er da sagte. Ich wurde ein bisschen rot, und hoffte, dass er davon nix mitbekäme; ich mein, wir sind schließlich Kumpel. Ich folgte ihm hinaus zu seinem Auto. Wir fuhren los.
Fabrikhalle. Keine Bar - eine alte, graue, heruntergekommene Fabrikhalle! Die teilweise zerbrochenen Fenster strahlten in Neon-grün und pink. Laute Musik. - Hörte man bis hier her.
"Komm mit." Alex war schon auf meiner Seite und hielt mir die Tür auf. Ich stieg aus. Deshalb der komische Aufzug. Eine Rave-Party.
Wir nährten uns dem Gebäude. Eine Menge eigenartiger Leute wuselte hier herum, bei den meisten war organisches Gewebe eher ein nebensächlicher Bestandteil ihrer Körper - Metall überwog.
Die Musik klang nach Dark Wave. Das Lied kannte ich. Der Text war sogar deutsch. Wolfsheim heißt die Gruppe, dachte ich. Hatte ich schon mal irgendwo gehört. Wir standen am Eingang. Alex zahlte. Wir wurden von einem Glatzköpfigen mit einem Pierceing im Nasenrücken eingelassen. Der Gestank von künstlichem Nebel, Schweiß und Alkohol war unglaublich stark. Mir verschlug es den Atem.
Alex fasste meine Hand und wir gingen gemeinsam durch die Menschenmasse. - Gehen ist das falsche Wort, glaub ich. Wir quetschten uns durch das Gedränge. Hier brauchte keiner zu fragen, ob man tanzen wolle. Hier wurde kein Wort gesprochen. Es war ein kollektives, rhythmisches Zucken, das alle in Bewegung hielt. Verehrung des Beats, ein Leben für den Augenblick. Ich schätze es waren mehr als 600 Leute hier drin. Aber im schätzen war ich noch nie gut. Könnten auch mehr oder weniger gewesen sein. Mir kam es vor als wären es 1000 gewesen.
Grelle Laserstrahlen blendeten mich. Das einzige Licht hier drin. Über den Boden kroch der weiße Dunst aus einer Nebelmaschiene. Alex führte mich zu einer Wendeltreppe am anderen Ende des Saals. Wir stiegen hoch; waren jetzt über den Tanzenden auf einer Plattform. Die Musik war noch ein bisschen Lauter als Unten. Ich stellte mich an den Rand der Brüstung und schaute den Menschen dort zu. Ich glaube keiner von denen war älter als fünfundzwanzig. Alle trugen schwarz. Der DJ wechselte auf ein neues Lied. Den Titel kannte ich nicht. Tänzerinnen - in eine Art Alufolie gewickelt - wanden sich auf Podesten in der Mitte des Raumes, schwangen an Ringen durch die Luft. Mir fiel auf, dass die Gesichter der Leute teilweise mit verschlungenen Mustern bemalt worden waren. Viele hatten glitzernden Puder auf der Haut. Die Frauen trugen nur die nötigsten Kleidungsstücke. Viel nackte Haut. Alex stand plötzlich neben mir. "Gefällt es dir?" brüllte er mir ins Ohr. Trotzdem verstand ich ihn kaum. "Ja ist toll. " schrie ich zurück, obwohl ich mir da noch nicht so sicher war. Irgendwie kam ich mir fehl am Platze vor. "Willst du, dass ich dich schminke?" fragte er.
"Was?" echote ich.
"Willst du auch so ein Muster, wie die anderen?" erklärte er mir.
"Oh, ja." antwortete ich.
"Lass uns zu den Toiletten gehen."
Wieder folgte ich ihm. Mit beiden Händen klammerte ich mich an seinen Ledermantel.
Endlich waren wir bei den Klos. Er deutete mit dem Finger auf den Gang vor der Herrentoilette:
"Da sind nicht so viele Leute, lass uns dahin gehen."
Ich lehnte mich an die Wand. Die Musik klang hier dumpf und es war auch nicht mehr so ohrenbetäubend laut. Er kramte in den Taschen seiner Hose und förderte einen schwarzen Schminkstift zutage.
"Im Gesicht?" er blickte mich fragend an.
"Ja, am Auge vielleicht."
"Knie dich hin."
Ich hockte mich hin und schaute zu ihm hoch. Er legte eine Hand unter mein Kinn und drehte meinen Kopf zu sich. Alex malte vorsichtig eine Linie von meiner Augenbraue über meinen Wangenknochen. Dann verzierte er das Ganze.
"Fertig!" sagte er nach etwa zehn Minuten.
"Warte hier! Ich schaue mir das Kunstwerk mal an. "Ich stand auf und ging in die Toilette.
Dabei wäre ich fast über ein Mädchen gestolpert, das schief im Türrahmen lag. Sie starrte mich aus glasigen Augen an. "´Tschuldigung." murmelte ich und ging zum Spiegel. Ich denke nicht, dass sie mich gehört hat. Kein Wunder, jeder Blinde hätte die Zeichen deuten können. - Ihren entblößten Arm, die Spritze, die roten Einstiche. Ich hatte schon in den Ecken der Halle einige gesehen, die dort, tief im Drogenschlaf versunken lagen.
Ich betrachtete das Muster im Spiegel und versuchte dabei nicht auf die blutigen Spritzer im Waschbecken vor mir zu achten. Nicht schlecht, dachte ich.
"Da fehlt noch was."
Erschrocken blickte ich mich um. Eine Frau, zirka dreiundzwanzig hielt mir eine Dose Glitzerpulver entgegen. "Darf ich?"
Ich nickte. Sie strich ein bisschen auf mein Augenlid und auf meine Arme.
"Du bist das erste Mal hier, richtig?"
"Sieht man mir das so deutlich an?"
"Schon irgendwie...”
Sie stellte sich mir als Lilian vor (das war natürlich nicht ihr wirklicher Name, denn es ist Mode in dieser Szene, sich eine Art Künstlernamen zu geben) und fragte mich nach meinem Namen.
"Summerrain.” fiel mir spontan ein.
"Schöner Name."
Wieder nickte ich.
Kritisch musterte sie mich aus grünen Augen. In mir keimte sofort der Wunsch ebenfalls solch stechend grüne Augen zu haben.
"Diese Jeans passt nicht hierher."
"Ausziehen kann ich sie schlecht." - Verflucht, das klang ein wenig zu sarkastisch.
"Ich mein ich hab nichts anders." korrigiere ich mich, um nicht unhöflich zu sein.
"Macht nix, die können wir kürzen, wenn's dich nicht stört. " meinte Lilian.
"Ok."
Sie fischte eine Nagelschere aus ihrer Handtasche und begann die Hosenbeine an meinen Oberschenkeln abzuschneiden.
"So ist es besser! Warte, ich hab noch was..."
Sie reichte mir Kajal und schwarzen Lippenstift. Während ich die Schminke auftrug steckte sie mein dunkles Haar hoch.
Zwei Minuten später starrte ich in den Spiegel und erkannte mich nicht wieder.
"Danke. " stammelte ich.
"Keine Ursache. Wollte dir nur ein bisschen helfen. Sahst ein wenig verloren aus. Jetzt bist du eine von uns."
Mit diesen Worten verließ Lilian das Klo und ich stand alleine da. Ich rannte ihr hinterher hinaus auf den Gang. Aber ich konnte sie nirgends entdecken. Stattdessen stand plötzlich Alex vor mir und starrte mich aus seinen blauen Augen an. "Wow." war der einzige Kommentar, den er zu meinem neuen Äußeren abgab.
"Ja, wow" sagte ich und lächelte ihn an.
"Lass uns wieder in die Halle gehen."
Wir gingen nach Oben und tanzten ein bisschen in der Menge. Wobei wohl eher die Menge mit uns tanzte. Ich kam mir dabei vor, wie ein Stück Treibholz in einem reißenden Fluss.
“Probier mal...“ Alex hielt mir einen in der Mitte geknickten Bierdeckel mit einem weißen Pulver darauf hin. Ich nahm es.
Mein Blut floss sofort schneller; in meinem Kopf wurde es von einem Moment auf den anderen sonderbar klar, als hätte ich alle unwichtigen Gedanken und Sorgen hinausgespült und ich wusste, dass Tanzen das einzige war, dass ich wollte.
Es war furchtbar eng und stickig und nach einigen Minuten war mir richtig schlecht. Ich wusste nicht, ob das an der miesen Luft, oder an dem Gedränge lag. Oder wohl doch eher am Stoff...
Die Musik wurde noch lauter, die Bässe dröhnten. Druck auf meinen Ohren, wie beim Tauchen. John the Revelator - ein Remix des Depeche Mode Klassikers wurde eingespielt. Das ganze klang schrecklich verzerrt und elektronisch. Kopfschmerzen.
Die Leute um mich herum begannen teilweise zu springen und irre zu kreischen. Sie lösten sich in bunte Umrisse auf. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie viel ich getrunken hatte.
Ein irre dreinblickender Kerl tauchte vor mir auf. Hüpfend. Der Schweiß hatte die Bemalung auf seiner nackten Brust in einen hässlichen, schwarzen Fleck verwandelt. Er verdrehte seine Augäpfel nach oben, so dass nur noch das Weiße zu sehen war und bleckte seine Zähne. Ich stolperte rückwärts. Alles begann sich um mich zu drehen. Ich suchte nach Alex, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Taumelnd erreichte ich den Ausgang und drängte mich nach Draußen. Es war, als wäre ich zulange Unterwasser gewesen. Die kalte Nachtluft strömte in meine Lungen. Ich fiel auf die Knie und erbrach mich.
Nach einer Ewigkeit hatte ich mich wieder einigermaßen gesammelt. Als ich mich aufrichtete regnete es in Strömen.
“Jetzt bist du eine von uns.” Die Stimme von Lilian geisterte durch meinen Schädel.