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Engel
Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen. Die Tage wurden kürzer, die Temperaturen sanken Tag für Tag, Grad um Grad, und die großen Ferien waren bereits lange vorbei. Unsere kleinen und großen Ferienerlebnisse verblassten nach und nach zu einer Erinnerung, die man wie ein Fotoalbum gerne zur Hand nahm, aber ansonsten im Schrank verstauben ließ, bis man sie schließlich vergaß. Doch das, was ich mein Leben lang niemals vergessen werden kann, passierte nicht in den Sommerferien, die Begegnung mit einem Engel geschah kurz bevor der Herbst kam.
Frank und ich waren damals die besten Freunde, so eng und unzertrennlich, wie man es mit neun Jahren sein konnte. Wir wohnten in der gleichen Straße, gingen den Schulweg gemeinsam, teilten uns die Schulbank und trafen uns noch fast täglich nach der Schule. Oft lungerten wir dann einfach im Garten seiner Eltern herum, oder gingen unsere Strasse auf und ab, um andere Kinder zu treffen, oder um nach Abenteuern zu suchen, die wir manchmal fanden, manchmal nicht. Die meisten Tage in diesem September waren von Langeweile geprägt, wenn es das Wetter zuließ, gingen wir nach Draußen, wenn es regnete, blieben wir zu Haus.
An jenem Tag saßen wir bei milden Temperaturen im Garten, jeder mit einem Glas Milch in der Hand, und machten es uns auf einer Bank gemütlich. Franks Eltern schworen auf Milch, es gäbe nichts Besseres für heranwachsende Jungen, und obwohl Frank stets behauptete, seine Eltern wären sehr streng, machten sie auf mich immer einen herzlichen und freundlichen Eindruck, weshalb ich auch immer gerne dort war. Zumal wir leider keinen Garten besaßen. Und so nippten wir an unserer Milch, amüsierten uns königlich über unsere Milchbärte, alberten herum und versuchten uns die Langeweile zu vertreiben. Natürlich durfte auch an diesem Tag das obligatorische Kräftemessen nicht fehlen, mindestens einmal am Tag versuchten wir herauszufinden, wer von uns beiden der Stärkere war, und so balgten und rangen wir schließlich auf dem Rasen, bis uns die Puste ausging. Ohne erkennbaren Gewinner ließen wir lachend voneinander ab, warfen uns ins Gras und beobachteten eine zeitlang schweigend den blauen Himmel.
„He, Dörk!“
Ich hasste es, wenn er meinen Namen so verunstaltete, also ignorierte ich ihn.
„Di-hirk!“, kam es mit Nachdruck.
„Mhm?“
„Was machen wir jetzt?“
„Keine Ahnung.“
Er richtete sich langsam auf und warf einen suchenden Blick durch den Garten. Unversehens sprang er auf und hastete zu dem alten Schaukelgestell, das rostend ein verschmähtes Dasein in der hintersten Ecke des Gartens führte.
„Komm her“, rief er voller Überschwang.
Gelangweilt stand ich auf.
„Vergiss es, auf Schaukeln hab ich echt kein’ Bock.“
„Ne, schau’ mal, wir können den Sitz abmachen.“
Er fummelte an dem von der Sonne ausgebleichten roten Plastiksitz herum.
Mit den Händen in den Hosentaschen stellte ich mich daneben, und demonstrierte mein Desinteresse.
„Warte, warte, ich hab’s gleich“, presste er mühsam heraus, während er konzentriert an dem Knoten herumwerkelte. Dann löste sich die eine Seite, der Schaukelsitz klappte herunter und gab den Strick frei.
„Ha, ich hab meine Liane, sieh zu, wie du deine bekommst“, frotzelte er, warf sich mit Schwung in das Seil und baumelte grinsend neben mir.
Mein Ehrgeiz war geweckt, das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Sofort machte ich mich daran, die andere Seite zu lösen, allerdings gelang es mir nicht so recht.
„Ich Tarzan, du Jane“, rief er mir hämisch zu, während er neben mir hin- und her pendelte.
Endlich hatte ich es geschafft, der Plastiksitz fiel zu Boden, mit einem schnellen Tritt beförderte ich ihn aus dem Weg, ergriff das Seil und stürzte mich nach vorn.
Die alte Metallkonstruktion ächzte bedrohlich, aber sie hielt.
„Ha, du bist das Mädchen, also bist du Jane“, rief ich lachend und schwang noch höher.
Der imaginäre Dschungel wurde uns bald zu klein, doch Frank fand eine neue Variation indem er sich auf einen umgedrehten Wäschekorb stellte, mit Schwung absprang, los ließ und sich fast bis zum Gemüsebeet katapultierte.
„Harr“, schnarrte er, „alles klar zum Entern!“
Zusammen enterten wir Dutzende von Booten.
Wer entert, der macht Gefangene, und wer Gefangene macht, der musste sie auch hängen. Frank kletterte auf das Gerüst, machte eine Schlaufe in das Seil, legte sich die lockere Schlaufe um den Hals und ließ sich mit beiden Händen vom Gerüst hängen. Dabei verzog er sein Gesicht, streckte die Zunge heraus und sah dabei aus, wie ein Hampelmann, der seinen Verstand verloren hat. Das sah einfach zu komisch aus, ich konnte nicht mehr vor Lachen und prustete los. Auch Frank konnte die Grimasse nicht mehr halten und fing ebenfalls lauthals an zu lachen. Dabei zog er sich wieder langsam nach hoben und kletterte geschickt zurück auf die Querstange.
Das wollte ich auch machen, unbedingt sogar. Sofort erklomm ich das schräge Standbein und zog mich mühsam rauf. Bei Frank sah das viel einfacher aus. Keuchend hockte ich mich auf die Querstange und rückte in langsamen Hopsbewegungen zur Mitte, dorthin, wo Frank saß und sich wieder auf die Schlaufe konzentrierte.
„He, lass mich auch mal.“ Meine Stimme war voller Ungeduld und kindlicher Freude zugleich.
„Ne, ich will selbst, mach dir deinen eigenen Strick“, blaffte er mich an.
Ich griff nach dem Seil, das unter mir hing, und zog es herauf. Sofort versuchte ich fast fieberhaft eine Schlaufe zu binden, die möglichst echt aussah, schließlich wollte ich Frank übertrumpfen. Ich schielte zu ihm hinüber, sein Knoten sah fast aus, wie ich es aus den Western-Filmen kannte, geradezu echt, ich wurde richtig neidisch. Es war ein Wettlauf, wer wurde eher fertig und hatte den besseren Knoten, ein Wettlauf in drei Meter Höhe, balancierend auf einem rostigen Stahlrohr. Es war aufregend, wir blickten uns immer wieder gegenseitig an, und prüften, wie weit der andere jeweils war.
Ein lauter und durchdringender Ruf unterbrach unsere Konzentration und riss uns aus unserer Beschäftigung heraus. Die Faszination und die innerliche Anspannung fielen abrupt von mir ab.
„Frank! Frank, kommst du mal bitte? Papa ist da.“
Wenn sein Vater nach Hause kam, musste Frank immer rein und ihn begrüßen, was für Frank das Normalste überhaupt war, und mich immer wieder aufs Neue ins Staunen versetzte, denn solche Rituale kannte ich von zu Hause nicht. Franks Familie war in vielen Bereichen etwas anders, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass wir beste Freunde waren.
„Ja, bin schon unterwegs“, antwortete Frank, ließ sein Seil los und machte sich auf den Weg nach unten.
„Bin gleich wieder da“, sagte er zu mir und rannte davon.
Die Spannung war weg, und wenn sein Vater nach Hause kam, dann musste es bereits nach fünf sein, und um sechs gab es bei uns schon Abendessen. Der Tag ging viel zu früh zu Ende. Sehnsüchtig blickte ich auf seinen Knoten. Der sah gut aus. Ich ergriff ihn und betrachtete ihn näher. Ein wirklich guter Knoten, fast genau so, wie ein Henkersknoten aussehen sollte, während meiner eher kümmerlich wirkte. Mit gemischten Gefühlen aus Neid und Anerkennung legte ich mir Franks Strick um den Hals. Okay, er war etwas kurz, wenn ich mich an die Stange hängen würde, bliebe nicht viel Spielraum, das Seil wäre fast straff gespannt. Aber der Anblick, wie Frank da hing, die Zunge rausgestreckt, die Augen schielend, das war einfach zu lustig und brachte mich wieder zum Schmunzeln. Ich dachte nicht lange nach, ließ den Strick um meinen Hals hängen, drehte mich so herum, dass ich mich am Gerüst festhalten konnte und glitt langsam nach unten. Ich hing an der Schaukel, wie zuvor Frank, und spielte den Gehängten, ganz für mich alleine. Allerdings war der Strick wirklich sehr straff, es war ganz und gar nicht so lustig, wie ich dachte. Im Gegenteil, es war äußerst unangenehm. Ich zog mich etwas herauf, um das Seil zu lockern, nein, das machte überhaupt keinen Spaß, das sah bei Frank viel lustiger aus. Ich wollte aufhören, mich ganz hochziehen, aber ich konnte nicht. Ich bekam Angst, verzweifelt zog ich mich wieder nach oben, schaffte es aber gerade mal, mit meiner Stirn die Stange zu berühren. Aus Angst wurde eine schleichende Panik, ich konnte mich nicht mehr lange so halten, hoch ziehen konnte ich mich auch nicht, mir wurde plötzlich die ausweglose Situation bewusst, in der ich mich befand. Bei Frank sah das alles so einfach aus, und ich konnte jetzt nicht vor und nicht zurück. Ich begann zu schwitzen, lange konnte ich mich nicht mehr halten, meine Hände wurden feucht, ich spürte, wie sie langsam abrutschten. Ich versuchte zu schreien, aber bekam keinen Ton raus, nur ein erstickter, unartikulierter Laut ging mir über meine zitternden Lippen. Oh Gott, ich hatte solche Angst, meine Kraft ließ nach, ich konnte mich nicht mehr halten...
Meine Finger verloren ihren Halt und rutschen ab, ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Nacken, das Atmen fiel mir auf einmal unglaublich schwer, eine Kraftanstrengung, die ich nicht lange zu leisten vermochte. Mir wurde schwarz vor Augen, tausend Sterne flimmerten in dieser Dunkelheit, ich konnte nicht mehr klar denken, versuchte nur noch, so viel Luft zu bekommen wie möglich, so lange wie möglich. Mir wurde heiß, spürte bis auf meinen Hals und meine Lungen kein Körperteil mehr, wusste nicht, wo oben und unten war. Vor mir verschwammen die Konturen, nichts war mehr deutlich zu erkennen. In meiner Verzweiflung versuchte ich, alle meine übrig gebliebenen Kräfte zu mobilisieren, mit Restenergie zu schreien, aber ich schaffte es nicht, ich brauchte Luft. Vor Schmerzen riss ich meine Augen weit auf, mein Brustkorb drohte zu explodieren.
Im Schleier meines Blickfeldes sah ich eine Gestalt, das musste Frank sein, ich hoffte es so sehr. Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte zu erkennen, wer dort vor mir stand, versuchte den Nebel vor meinen Augen zu vertreiben, und da sah ich ihn. Einen Jungen in meinem Alter, aber es war nicht Frank. Die Schlieren um den Jungen verzogen sich, ich konnte ihn klar sehen, während alles um ihn herum weiter schwammig blieb. Er schien zu leuchten, und nicht nur das, er schwebte über den Boden und sah mich mit einer unendlichen Traurigkeit im Blick an.
„Wer bist du?“, fragte er, wobei ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, seine Stimme aber nur in meinem Kopf wahrnahm. Ruhe überkam mich, unendliche Ruhe, die meine Angst und meine Verzweiflung weg wischte und meinen Schmerzen ihren Schrecken nahmen. Ich wollte dem Jungen antworten, aber das konnte ich nicht. Ich sah ihn einfach nur an. Unvermittelt fing der Junge an zu lächeln, er strahlte förmlich.
„Leb wohl, Dirk!“ sagte er, dann löste er sich auf, einfach so. Ich schloss die Augen.
Es ruckelte, ich stieß mit dem Kopf gegen die Eisenstange und hörte Jemanden laut Fluchen. Ich konnte wieder atmen und zog tief einen Schwall frischer Luft ein, der meine Lungen erneut brennen ließ. Es war schmerzhaft und wunderbar zugleich.
„Boa, du Vollidiot, was machst du da?“
Ich öffnete die Augen, die Welt bekam ihre Konturen wieder, und anscheinend auch mich zurück. Frank stand auf dem Wäschekorb, hielt mich im Arm und drückte meinen Körper ein Stück nach oben. Dabei versuchte er mit der anderen Hand, mir den Strick über den Kopf zu ziehen, aber seine Arme waren zu kurz. Mit müden Bewegungen übernahm ich das, der Strick hing nur noch locker um meinen Hals, es bedurfte keiner großen Anstrengung. Frank ließ mich los, ich fiel ins Gras, völlig erschöpft, mit pochendem Hals und einem fürchterlichen Tosen in meinen Lungen.
„Verdammt, du könntest tot sein!“
Ja, irgendwie hatte ich das Gefühl, ich war nah dran.
Natürlich gab es einen großen Aufruhr, Franks Eltern waren total außer sich und riefen erst einen Notarzt und dann meine Eltern. Da ich glücklicherweise keine schlimmeren Verletzungen davon getragen hatte, schickte mich der Arzt mit meinen Eltern nach Hause. Die waren natürlich total aufgelöst, drohende Vorwürfe und hilflose Gesten der Freude wechselten sich im Minutentakt ab. Was hätte nicht alles passieren können, ich könnte tot sein, wie gut, dass nichts Ernsthaftes geschehen war, so was dürfte ich nie wieder machen.
Ich konnte glaubhaft versichern, dass mir auch nicht der Sinn danach stand, derartiges zu wiederholen.
Meine Mutter meldete mich am nächsten Tag von der Schule ab, mein Vater nahm sich einen Tag frei und blieb zu Hause. Als ich zum Frühstückstisch kam, bombardierten mich beide weiter, wie es mir ginge, ob ich noch Schmerzen hätte, so was dürfte ich nie wieder machen, ach, das hätte schlimm enden können.
Ich ließ es über mich ergehen, es blieb mir schließlich auch nichts anderes übrig. Nach einiger Zeit legte sich der Sturm und wir widmeten uns unserem Frühstück, die Situation entspannte sich. Mein Vater schlug, wie jeden Morgen, die Zeitung auf, ich schmierte mir ein Toast, Mutter trank ihren Kaffee, alles war wieder fast normal.
Kurz darauf räusperte sich mein Vater.
„Verdammt, dein Unfall gestern war wohl nicht der einzige hier in der Straße.“
Er tauschte einen kurzen Blick mit meiner Mutter aus, dann las er uns den Artikel vor, während ich weiter mein Toast kaute und mich auf die Krümel konzentrierte, die sich nach jedem Biss auf meinem Teller mehrten.
Gestern, um viertel nach fünf, stürzte ein Junge im Alter von zehn Jahren die Treppe herunter, wobei er sich das Genick brach und sofort verstarb.
Neugierig, ob ich den Jungen vielleicht sogar kannte, hielt mir mein Vater den Lokalteil entgegen, in dem ein Bild des Jungen abgedruckt war.
Ja, ich hatte ihn tags zuvor kurz kennen gelernt, aber das behielt ich für mich.