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Entertainment
Unsägliche Schmerzen reißen mich aus der Bewusstlosigkeit. Ich erwache.
Ärzte pressen auf meinen Bauch und versuchen vergeblich die Wunde zu stoppen. Die Verzweiflung verzieht ihre Gesichter zu starren Fratzen. Zum Glück reden sie nicht mit mir. Zum Glück lassen sie dieses „Das wird schon wieder“ -Gefasel. Schließlich sollen sie nicht lügen, sondern sich auf ihre Arbeit konzentrieren.
Ein kleiner japanischer Arzt - vielleicht auch Chinese (im entscheidenden Moment verwechselt man das ja oft) - redet beständig mit seinen zwei Kollegen, während diese langsam, aber bestimmt meine Trage schieben. Als sei sie ein Einkaufswagen, mein Gedärm getrocknete Tomaten, Litschi-Limonade und eine Maracuja-Vollkorn-Schnitte. Der Arzt sieht emotionslos, fast gelangweilt aus und doch lodert da irgendwo in seinen Augen eine kleine Flamme. Er ist angespannt, trägt Angstschweiß auf der Stirn und zittert leicht. Letzteres wäre ja nicht weiter schlimm, steckten seine Hände nicht zufällig gerade in meinem Bauch, sorgten sie nicht zufällig dafür, dass meine Organe an Ort und Stelle bleiben. Durch sein Zittern fühlt es sich an, als wäre da eine ratternde Bandsäge in meinem Bauch. Der Schmerz ist keine normale Empfindung mehr, sondern ein zäher Sumpf, in dem ich ertrinke ohne meine Gedankenwelt mitnehmen zu können. Er ist so stark, dass ich ihn beinahe genieße.
Der Arzt bemerkt, dass ich meine Augen leicht geöffnet halte. Er verzieht einen Mundwinkel zu einem beruhigenden Lächeln. Lach nicht, du Bastard, denke ich. Mach deine verfickte Arbeit! In solchen Situationen werde ich schon mal ausfällig. Er zieht seine Hände ruckartig aus meinem Bauch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Meine Organe spielen Reise nach Jerusalem. Die Schmerzen werden heftiger. Mir bleibt nur noch die Bewusstlosigkeit.
Endlich kommt der Wagen zum Stillstand. Ich wache wieder auf. Wir befinden uns in einem kleinen Raum. Zum Glück bin ich allein. Zum Glück kann ich mich nicht umdrehen, nicht die stinkende Blutspur beäugen, die sich hinter mir hergezogen haben muss. Die Wände sind weiß wie Schnee, fast schon hellblau, über mir hängt eine Lampe von der Größe eines Nierentischs. Neben mir stehen wahrscheinlich ein paar Geräte. An Wänden und Decke zeichnen sich Schattengestalten ab. Sporadisch tanzende Lichtspiele. In einer Zimmerecke hängt ein Fernseher mit übermäßig großen Knöpfen, leider nicht eingeschaltet. Jetzt könnte ich das Geflimmer wirklich gebrauchen. Nur so. Zur Ablenkung.
Ein Arzt schneidet mir meine Klamotten vom Leib. Die Hose macht ihm keine Probleme, sie ist nach zwei langen Schnitten weg. Aber mein T-Shirt wurde von der klaffenden Wunde in meinem Bauch verschluckt. Es dauert einige Zeit, bis er die vielen kleinen Stofffetzen und -fäden aus dem Schnitt, der sich von meinem Brustbereich beinahe bis zum Hodensack zieht, aufgelesen und entfernt hat. Der Vorgang brennt natürlich höllisch, auch mit Schmerzmittel. Ein anderer Arzt baut eine mannshohe Apparatur neben mir auf, an der mehrere Schläuche hängen. Zwei von ihnen steckt er in meine Wunde, um danach ein Feintuning mit einem winzigen Monitor vorzunehmen. Ich spüre, wie die Schläuche an meinen Organen entlang kriechen und irgendwann endlich zum Stillstand kommen. Der Arzt atmet erleichtert aus, nimmt sich einen Spiegel und untersucht meinen Genitalbereich.
Nach einer Weile nehmen beide Ärzte ihre Finger von mir, schauen sich gegenseitig an, nicken stumm und verlassen den Raum. Hätten sie sich für mich interessiert, bemerkt, dass ich wach bin, hätten sie vielleicht etwas wie: „Wir brauchen ein stärkeres Betäubungsmittel.“ gesagt oder: „Sollen wir Ihnen auch ein Yufka von der anderen Straßenseite mitbringen?“ Die Frage hätte ich sogar mit einem Ja beantwortet. Ich bin einer dieser Menschen, denen es nicht schwer fällt, immer und überall zu essen. Außerdem fühlt es sich gerade an, als hätte ich ein Loch in meinem Bauch… Moment mal…
Die Ärzte haben die Tür hinter sich geschlossen. Sie sind schon eine Weile unterwegs. Da ich mich nicht bewege und niemand mehr an mir herumfummelt, sind die Schmerzen fast ganz weg. Mir wird langweilig. Ich untersuche die Decke auf optische Kuriositäten obwohl ich eigentlich schon weiß, dass ich keine finden werde.
Ich konzentriere mich auf die restlichen Sinne. Was würde ich jetzt um ein Radio geben… um traurige Songs von Jimi Hendrix oder Ben Harper. Irgendwo im Krankenhaus schreit eine alte Frau. Ihre kratzige Stimme hat genug Höhen, um zu mir vorzudringen. „Ich will bleiben!“, schreit sie und ich kann es ihr nicht mal übel nehmen. Denn draußen scheint es auch ziemlich öde zu sein. Noch ein paar Tage und die Ärzte wären womöglich meine besten Freunde, sie würden mir ein Radio holen oder den Fernseher anschalten, ich würde mir einen Kuli zulegen, ihn fallen lassen, wenn heiße Krankenschwestern in der Nähe wären, Sudoku spielen und mein Frühstück im Bett serviert bekommen.
Nachdem ich der alten Frau schon viel zu lange gelauscht habe, steigt mir der Gestank meiner klaffenden Wunde in die Nase. Er erinnert mich an den letzten Urlaub, als ich allein an der Nordsee einen kalt gewordenen Döner aß. Die Ärzte lassen auf sich warten. Mir wird klar, dass ich im sterben liege.
Ich drehe meinen Kopf zur Seite, in Richtung Fernseher und Fenster. Draußen steht ein kahler Laubbaum. Keine Vögel oder Eichhörnchen. Darunter eine leere Bank. Keine Kinder, die mit ihrem Spielball Autofahrer in den Wahnsinn treiben oder sich die Birne wegkiffen. Keine Spaziergänger oder zerlesene Zeitungen, die vom Wind sachte hin und hergeweht werden. Ich habe weder eine Erleuchtung, noch zieht mein Leben an mir vorbei. Und melancholisch bin ich auch nicht gern. Ich versuche, an einen Witz zu denken… einen wirklich lustigen Witz. Natürlich lande ich bei Oswald die glückliche Tuba, der Lieblingscartoonserie aus meiner Kindheit. Ich blättere im Geist eine Reihe von Episoden durch und erinnere mich, wie ich früher Nächte davor gesessen bin, Spekulatius gegessen und H-Milch getrunken habe. Ich sterbe.
Da ist ein schwaches rotes Licht. Es wird stärker. Ich höre einen feinen Ton. Es wird wieder schwächer. Der Ton ist weg. Es wird wieder stärker… Ebbe und Flut. Im Halbdunkel sehe ich ein kleines glitzerndes Auge. Ich nehme es nicht aktiv wahr, sondern eher wie ein unterschwelliges Gefühl, dass aus einem tiefen Winkel meines Schädels kommt. Auf einmal bin ich hellwach. Ich habe eine schreckliche Entdeckung gemacht. Hätte ich da nicht diese Wunde, würde ich von der Trage springen und laut brüllen. Da in der grauen Zimmerecke, über dem Fernseher, hängt zwischen wenigen Spinnweben im Nebel schwarz-grauer Schlieren eine Überwachungskamera.
Sie schaut mich breit grinsend an, wie ein dickes Kind, das statt dem üblichen Pausenbrot von der Mutter einen Schokokuchen eingesteckt bekommen hat. Ich sehe die Kamera jetzt deutlich vor mir, jede feine Kante ihres Gehäuses ist mit Tusche gezeichnet. Die Linse, kaum größer als ein Pfeilgiftfrosch, brennt sich in mein Auge wie der strahlende Vollmond einer Novembernacht. Es schmerzt. Das piepsende rote Licht ist zu einem Hamster geworden, der genüsslich an der Rinde meiner Gehirnmasse nagt. Die halbkreisförmigen Reflexionen der Linse verdrehen sich langsam ineinander. Die Lampe über mir leuchtet intensiver. Mir fährt ein kalter Schauer den Rücken herunter. Da stellt jemand scharf.
Es war also nicht Zufall, dass ich direkt unter eine riesige Lampe geschoben wurde, in einen leeren Raum, dass ich nackt ausgezogen wurde von Ärzten, die auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Jemand will filmen, wie ich abkratze. Irgendein Perversling will meinen letzten Atemzug, die letzten Zuckungen auf Band, will aufzeichnen, wie mir der letzte Hauch Lebensenergie in kleinen Wölkchen aus dem Mund steigt. Und was dann? Meinen Todeskampf mit Lachern aus der Dose unterspielen und als Sitcom verkaufen? Das Video in einem körnigen Schwarz-Weiß unter Aufnahmen einer New Metal-Band mischen, damit es zur Primetime bei MTV läuft? Oder doch lieber „nur“ YouTube, wo es vielleicht 4.5 der möglichen 5 Sterne bekommt? Ich denke nach und fühle mich zunehmend schlechter, da mir jede neue Idee zur Verwendung des gefilmten Todes einer völlig unbekannten Person realistischer erscheint.
Ich versuche so zu tun, als hätte ich die Kamera nicht bemerkt und drehe meinen Kopf in eine andere Richtung. Noch mehr Kameras! In jeder Ecke des Zimmers. Wahrscheinlich sind sogar die Schatten werfenden Apparaturen neben mir Kameras, die für Details meines Ablebens zuständig sind. Vielleicht nimmt eine im Close-Up die Bewegungen meiner Hand auf. Wie in einem Western, kurz bevor Clint Eastwood seinen Colt zieht. Eine andere könnte für die Schweißperlen auf meiner Stirn zuständig sein, welche sich durch die Runzeln kämpfen, wie Forscher durch einen dicht bewachsenen Dschungel. Vermutlich befinden sich auch zwei Kameras über der Nierentisch-großen Lampe, die vorsichtig über deren Rand lugen und jeweils für eins meiner Augen zuständig sind. Ich kann sie nicht erkennen, direkt über mir ist viel zu hell. Aber es erschiene mir sinnvoll. Bei einem Sterbenden machen die Augen sicher am meisten Spaß. Zusammen mit den Lippen, welche sich bei Schmerzen winden, wie diese Glückskeks-Schnipsel in einem Lagerfeuer.
Die Schläuche in meinem Bauch… auch Kameras? Mir wird schlecht. Hat der Arzt sie nicht sorgfältig montiert und danach noch an einem Monitor gearbeitet, wie ein Kameramann, der die Einstellung sucht? Ist in meinem Bauch überhaupt genug Licht für so was? Womöglich arbeiten sie mit Nachtsichtgeräten. Oder nur ein Schlauch filmt, während an dem anderen eine Lampe hängt.
Ihr wollt also Action. Ich bewege meinen Bauch unter höllischen Schmerzen. Ich spüre förmlich, wie die Schläuche an den Organen entlang scheuern, diese vielleicht sogar aufkratzen. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Das Schmerzmittel lässt nach. Ich wünsche mir wieder die Langweile.
Was war das eigentlich mit der Genitaluntersuchung? Wurde da unten etwa auch eine Kamera installiert? Man könnte uns einen Dialog in den Mund legen… um die Situation etwas aufzulockern oder so.
„Herr Doktor, wie steht’s um meinen Penis?“
„Ich such ja schon, ich such ja schon.“
Die Lippenbewegung sieht man aus dem richtigen Winkel und einer bestimmten Entfernung sowieso nicht mehr. Oder sie wird nachträglich mit dem Computer eingefügt. Rein technisch gesehen, ist heutzutage ja sowieso alles möglich. Mein Film könnte im Kino gezeigt werden und die Zuschauer würden in ihm nichts sehen, als eine weitere Aneinanderreihung authentischer Effekte. Er würde bei Gothic-Discos im Hintergrund laufen während sich voll gedröhnte Teenies gegenseitig das Blut aus den gepiercten Hälsen saugen. Ich sehe schon das Filmplakat: „Wer länger stirbt, ist später tot… nominiert für 7 goldene Heinrichs“.
Moment mal… Es ist mein Film. An dem Ende kann ich zwar nichts mehr ändern, aber was Länge und Genre anbelangt, sind mir - und nur mir - eigentlich keine Grenzen gesetzt. Ich könnte mir Text einfallen lassen. „Kinder, hört nicht auf eure Eltern! Spielt mit spitzen Gegenständen! Sonst seid ihr nicht geübt, wenn’s mal drauf ankommt und es ergeht euch wie mir.“ Ich lache innerlich, begleitet von einem brennenden Krampf.
Ich könnte den Filmemachern einen Strich durch die Rechnung machen, indem ich das Filmkonzept „Mann stirbt qualvoll“ entweder unter- oder überspiele. Ich könnte lächeln, geradezu vergnügt wirken, mich darauf konzentrieren, dass die Augen auch immer schön mit Lachfältchen umgeben sind, ruhig atmen, den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn tupfen und dieses anschließend liebevoll zusammenfalten. Ich könnte versuchen, Raindrops Keep Falling On My Head zu pfeifen und dabei mit den Händen schnippen. Ich könnte an den umpassendsten Stellen mit der Zunge schnalzen, mir genüsslich eine Gauloises anstecken (irgendwie würde ich die schon aus meiner Hosentasche bekommen). Vielleicht würde der Rauch ja aus meinem Bauch wieder rausqualmen. Ich stelle mir den Effekt vor, wenn er, durch meine Gedärme gekühlt, an den Rändern der Wunde vorbei und meine Haut hinunter gleitet, während ich verschmitzt „Liberté toujours“ sage. Eine geradezu mystische Stimmung. Wie auf diesen nebligen Schatzinseln in Piratenfilmen.
Ich könnte aufstehen und mit der Leichtigkeit einer jungen Gazelle durch das Zimmer springen. Ich könnte die Schläuche aus mir ziehen und in die Speiseröhre oder das Arschloch stecken. „Voilà, ihr perversen Schweine! Amüsiert euch!“ Ich könnte meine Leber packen, aus dem Bauch reißen, durch die Arschkurve ziehen, um herzhaft hinein zu beißen und dann eine der Kameras mit dem vergammelten Stück Fleisch zu bewerfen. Das wäre Entertainment.
Meine Augenlider werden schwer. Ich könnte mit ausgestreckter Zunge am Boden herum robben, fluchen, Blutengel machen, das hämische Grinsen eines Batman-Bösewichts aufsetzen, lechzen, spucken, grunzen, in die Zimmerecke scheißen, mich zerkratzen, kreischen, die Zähne fletschen, schmatzen, mich mit Blut einreiben, es auflecken, wieder raussabbern. Völlig durchdrehen, wie ein aufgespießter Brüllaffe, der in Flammen steht und seine Tage hat. Die Keule der Müdigkeit fällt krachend auf meinen Kopf. Ich könnte… Mein kreativer Fluss bleibt ungestört. Ich könnte…