Entfesselt
Gemeinsamkeiten gab es schon lange nicht mehr. Ihre Ehe existierte nur noch auf dem Papier und um ihren Ruf nicht zu ruinieren. Auf den zahlreichen Banketten, die sie besuchten, spielten sie das perfekte Ehepaar, deren Zusammenspiel auch noch nach mehr als 15 Jahren funktionierte. Doch die Realität sah anders aus.
Jeden Morgen machte sie ihm das Frühstück. Er aß, trank seinen Kaffee und verschwand ins Büro. Sie blieb allein zurück, mit dem dreckigen Geschirr auf dem Tisch. Wie jeden Morgen.
Schon oft hatte sie daran gedacht auszubrechen, alles hinzuschmeißen, ihn vor die Tür zu setzen. Gewagt hatte sie es nicht.
Als sie ihn heiratete, überredete er sie ihren Job aufzugeben. Sie hatte ihm vertraut und nun war sie abhängig. Abhängig von ihrem Mann, der sie schon seit Jahren nur noch als Haushälterin brauchte. Es hatte lange gedauert, bis sie verstand, dass er die Stunden mit seiner Geliebten genoss, während sie bis tief in die Nacht auf seine Rückkehr wartete.
Doch an diesem Morgen fasste sie einen Entschluss. Sie würde ihr Leben umkrempeln.
Sie stand auf, ging in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Irgendwo hier befand sich der Schlüssel, das wusste sie genau. Systematisch begann sie das gesamte Zimmer zu durchsuchen, stets bemüht keine Spuren zu hinterlassen.
Ihre Geduld war bald am Ende. Sie tastete nun schon zum zweiten Mal die Vertäfelung der Wand ab, als sie mit den Fingern einen kleinen Spalt spürte. Das vorgeschobene lose Brett nahm sie ab und entdeckte dahinter den Schlüssel. Sie nahm ihn an sich, durchquerte das Zimmer und klappte das Porträt ihres Mannes zur Seite.
Klickend drehte sich der Schlüssel im Schloss. Dann sprang der Tresor au. Ihr Blick viel auf den Stapel gebündelter Geldscheine.
In aller Ruhe nahm sie die Bündel heraus, steckte sie in eine Tasche, schloss den Tresor und legte auch den Schlüssel an seinen Platz zurück.
Im Schlafzimmer packte sie ihren Koffer. Um punkt zwölf Uhr zog sie die Haustür hinter sich zu und schloss ein Kapitel ihres Lebens ab.
Auf direktem Weg ging sie zur Bank, bei der sie ein Konto eröffnete. Niemand stellte Fragen. Sie hatte es sich nicht so leicht vorgestellt.
Als nächstes checkte sie in ein Hotel ein, bezog ihr Zimmer und begab sich daraufhin in die Hotelbar.
Sie bestellte Champagner. Der Tag bedeutete einen Befreiungsschlag für sie.
Die Sonne schien auf ihr Gesicht und sie beschloss es mit einem Finale zu beenden.
Ihr Blick viel auf den Nachbartisch und den Mann, der sich genüsslich eine Zigarette anzündete. Eine Welle des Wohlbefindens durchlief ihren Körper. Er schaute sie nun unverwandt an, drückte seine Zigarette aus, legte einige Scheine auf den Tisch und verließ mit ihr zusammen die Bar.