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Entscheidung am Spätnachmittag

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14.10.2001
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Entscheidung am Spätnachmittag

Entscheidung am Spätnachmittag


Draußen ging die Herbstsonne unter und ein scharfer Wind kam auf.
Im Zimmer war es hell und warm.
Sie saß mit den beiden Männern zusammen, die sie liebte.

Fast ihr ganzes Leben hatten sie miteinander verbracht. War sie gut, die Entscheidung, die sie ihnen heute mitteilen wollte?

Sie beugte sich in ihrem Sessel vor und nahm noch einen Schluck Tee.

Was sagte man in einer solchen Situation? „Ich weiß nicht, was richtig ist“, war das Einzige, was ihr einfiel.

„Du musst dich endlich zwischen uns entscheiden“, verlangte der Mann, der ihr gegenüber auf dem Sofa saß.
„Und zwar heute!“, ergänzte der andere in bestimmtem Ton.

Sie senkte den Blick. Niemand hatte bisher von dem Kuchen genommen. Auf der Tischdecke fiel ihr ein kleiner dunkler Fleck auf. Sie studierte ihn genau: seine Form, seine Farbe. Dabei nahm sie noch einen Schluck Tee. Er war sehr heiß.

„Ich kann nicht. Ich liebe euch beide!“
„Und wir lieben dich.“
Der andere nickte zustimmend.

Wie durch einen Schleier sah sie die Männer dort sitzen: den einen mit dem graumelierten Haar, das sich immer noch so kräftig anfühlten, wenn man mit der Hand hindurchfuhr. Und den anderen mit den dunklen Locken, die sich schon deutlich gelichtet hatten. Wie gerne würde sie sich jetzt zwischen die beiden setzen, sich an die Schulter des einen lehnen und dabei die Hand des anderen halten. Aber es war nicht möglich, es war ganz und gar unmöglich, sie musste es einsehen.

„Was würdet ihr an meiner Stelle tun?“
„Das musst du selbst wissen.“

Wie sehr sie das warme, dunkle Timbre ihres Mannes liebte! Sie wusste schon jetzt, dass sie sich unaufhörlich danach sehnen würde.

„Er hat Recht!“

Der andere, ihr bester Freund, sprach leise und leicht rau. Manchmal jagte ihr der Klang seiner Stimme einen feinen Schauer über den Rücken. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie leben sollte, ohne sie zu hören.

„Können wir denn nicht weiter alle zusammen ...“
Sie unterbrachen sie gleichzeitig.
„Auf gar keinen Fall!
„Das kommt nicht in Frage!“

Sie waren sich einig. Die Männer waren zu beneiden. Sie wussten genau, was sie wollten – nämlich sie.

„Vergiss nicht, wir sind verheiratet!“

Die Stimme ihres Ehemannes klang noch dunkler als sonst, wie immer, wenn er versuchte, seine Gefühle im Zaum zu halten.

„Mich kennst du genauso lang wie ihn. Schon damals hättest du beinahe mich genommen.“

Sie lehnte sich zurück. Wie schön war es gewesen, ganz am Anfang, als sie noch sehr jung waren, alle drei nur befreundet, ohne Liebe, ohne Leidenschaft, einfach bloß zusammen und fröhlich.

„Könnte es nicht wieder so werden wie früher?“
„Du weißt, dass es unmöglich ist!“ Er griff sich mit seiner schmalen Hand in die Locken, wie immer, wenn er sich hilflos fühlte. „Du und ich, wir haben schon vor langer Zeit diese eine, letzte Grenze zwischen uns überschritten, und seitdem gibt es kein Zurück mehr.“

Sie empfand nichts als Liebe, während sie ihn ansah. Er sprach die Wahrheit. Nicht nur ihrem Ehemann, auch ihm war sie ganz nah gekommen. Und sie konnte es trotz allem nicht bereuen.

„Aber warum hast du mich dann überhaupt geheiratet? Du hättest doch gleich ihn wählen können!“

Seine breiten Schultern waren leicht vornübergebeugt. Sie spürte deutlich, wie sehr er sich bemühte, seine Bitterkeit zu unterdrücken. Er war ihr so vertraut nach all den Jahren. Es schmerzte, ihm zuzuhören. Und er hatte Recht. Zu der Entscheidung, die sie vor vielen Jahren traf, hätte sie stehen müssen. Stattdessen hatte sie seine Treue und Zuneigung verraten.

„Willst du bei ihm bleiben, nur weil du zufällig mit ihm verheiratet bist? Und was soll aus unserer Liebe werden?“

Auch er musste ihretwegen leiden. Wahrscheinlich wäre es für alle besser gewesen, wenn ihre Lebenswege sie weit voneinander weg geführt hätten.

„Wir sind nicht nur zufällig verheiratet“, hörte sie ihren Ehemann erwidern. Er wandte sich ihr zu. „Denk daran: Du hast nicht nur mir, sondern auch Gott versprochen, dass du zu mir stehen wirst, solange du lebst.“

Wie sehr sie dieser Gedanke quälte! Würde ihr jemals vergeben werden können?

„Wie kann diese Ehe gottgewollt sein, wenn du mich so sehr liebst?“ Ihr bester Freund sprach ungewöhnlich laut, so dass seine raue Stimme fast heiser klang. Dann sah er sie mit seinen grauen Augen Zustimmung heischend an.

Auch diesen Gedanken hatte sie schon oft gehabt. Wie ein Pendel war es in ihrem Kopf immer hin und her gegangen. Beide sprachen wieder einmal genau das aus, was sie dachte.

„Nur die wenigsten Ehen haben Bestand. Wieso sollte ausgerechnet eure dazugehören?“
„Woher willst du wissen, dass unsere Ehe n i c h t dazugehört?“ Die dunkle Stimme ihres Mannes wurde härter und seine braunen Augen verengten sich.

Diese kaum merklichen Veränderungen waren für sie überdeutlich. Oft erahnte sie seinen aufkeimenden Ärger schon, bevor er selbst sich dessen bewusst wurde.

Beide blickten sie zu ihr herüber.

Sie fühlte, wie der Schmerz im Raum ihr fast den Atem nahm. Abwehrend schüttelte sie den Kopf. In diesem Augenblick sehnte sie sich nur danach, endlich Frieden zu finden.

„Willst du, der du unser bester Freund bist, unser gemeinsames Leben zerstören?“
„Und du? Wenn du wirklich von ihr verlangst, dass sie mich aufgibt, stellst du dich, und nicht sie, in den Mittelpunkt.“
Unverwandt blickten die Männer sich an. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Sie schaute in ihre halbleere Teetasse.
„Ich bin schon so lange mit ihr verheiratet!“
„Eben. Viele Jahre warst du mit ihr zusammen.“ Die Stimme ihres Freundes hatte einen fordernden Klang angenommen. „Es wäre nur gerecht, wenn der Rest ihres Lebens mir gehören würde.“
„Willst du uns tatsächlich die Möglichkeit nehmen, bis an unser Lebensende beisammen zu sein?“
„Und bist du sicher, dass sie glücklich sein wird, wenn sie an der Ehe mit dir festhält? Mit mir zumindest kann sie lachen. Aber wann habt ihr jemals so richtig miteinander gelacht? Ich weiß, wie sehr sie das vermisst hat.“

Er hatte einen wunden Punkt getroffen. Sie war lebhaft, ihr Ehemann ruhig, sehr ernst, und er konnte stundenlang schweigen. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl gehabt, ihm lästig zu sein.

„Zugegeben!“ Die Stimme ihres Mannes klang nun fast scharf. „Aber hat sie mit dir ernsthafte Gespräche führen können, so wie mit mir?“
„Natürlich! Wir sprechen viel über Kunst. Sie berät mich bei meinen Bildern. Unser Interesse für Malerei verbindet uns.“

Auch das traf zu. Mit ihrem besten Freund war es nie langweilig gewesen. Sie hatten nicht nur viel gelacht, sondern in all den Jahren auch immer etwas gefunden, worüber sie sich unterhalten konnten.

„Mit dir redet sie über Bilder und mit mir über alles.

Ja, auch mit ihrem Mann hatte sie sich im Laufe der Jahre viel ausgetauscht und sich in seiner ruhigen Gelassenheit stets geborgen gefühlt.

Die beiden Männer starrten vor sich hin.

Sie wünschte verzweifelt, sie könnte sie trösten. Stattdessen musste sie ihnen wehtun.

Totenstille breitete sich im Raum aus. Es war ihr Ehemann, der sie schließlich durchbrach. „Wir beide sind doch Freunde“, sagte er zu dem anderen. „Und wir werden es auch bleiben, ganz gleich, wie sie sich entscheidet“ – er wandte sich ihr zu – „ganz gleich, wie d u dich entscheidest.“
„Es stimmt, was er sagt. Auch ich werde jede Entscheidung hinnehmen, die du triffst. Denn im Grunde wollen wir beide doch nur eins: dass d u glücklich bist.“

Es gab keine andere Lösung. Ihr Mann und ihr bester Freund liebten sie aus ehrlichem Herzen, und sie liebte sie auch. Mit beiden war sie unendlich gern zusammen. Die Lage war ausweglos.

„Sag doch was!“
„Warum sagst du nichts?“
Sie blickte ihnen lange in die Augen, erst dem einen, dann dem anderen. Es fiel ihr so schwer zu sprechen, dass ihre Worte nur ein heiseres Flüstern waren. „Ich kann keine Entscheidung fällen. Jemand anders muss es für mich tun.“
„Wer?“
„Wer könnte das sein?“
„Der Tod.“
Die Männer fuhren zusammen. Ihre ängstliche Anspannung wich sprachlosem Entsetzen.
Sie räusperte sich, versuchte, Kraft in ihre Stimme zu legen. „Wir drei sind über sechzig. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der erste von uns gehen muss.“
„Du willst warten, bis einer von uns stirbt?“
„Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Es ist mein voller Ernst. Ich habe lange darüber nachgedacht.“
Die beiden Männer sahen sich an, als würden sie Rat und Hilfe beim anderen suchen.
Sie räusperte sich erneut. „Ich werde fortgehen. Alles Weitere überlasse ich dem Schicksal.“
„Aber damit zerstörst du unser aller Leben. Ist dir das klar?“
„Dein Mann hat Recht. Das können wir nicht zulassen!“
„Ihr habt keine andere Wahl, genauso wenig wie ich. Es gibt Entscheidungen, die Menschen in ihrer Begrenztheit nicht fällen können.“
Müde, aber entschlossen, stand sie auf.
Mit einem leisen Geräusch fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

 

Moin Jakobe,

wunderschön-traurige Geschichte. Zwar wurde mir etwa bei der Hälfte klar, das sie sich gegen Beide entscheiden würde, aber das tat der Spannung keinen Abbruch.
Auch dieses "Frau kann sich nicht entscheiden" hast du herrlich bis zum Ende durchgezogen mit dieser Pseudo-Entscheidung: Ich will mit dem Leben, der am längsten lebt. Um der Entscheidung aus dem Weg zu gehen mit Beiden schluss zu machen.
Genial.
Das einzige was mich als Mann stutzig gemacht hat war die Stelle

"Wir beide sind doch Freunde. Immer noch. Und wir werden es auch bleiben, ganz gleich, wie sie sich entscheidet - er wandte sich ihr zu - wie du dich entscheidest."
OK, vielleicht hat er das nur gesagt um sie auf seine Seite zu bringen, aber eine so faustdicke Lüge würde ich bei so einem Gespräch nicht erwarten. Männer können einfach keine Freunde sein, wenn sie die gleiche Frau lieben. Da setzen sich die Urinstinkte durch. Von daher fand ich den Schlagabtausch noch relativ harmlos.
Grüße,
Jack

 

Danke, Jack, für deine Rückmeldung. Es ist sicher schwer, mit seinem Rivalen befreundet zu sein. Ich weiß nicht, ob es so etwas in Wirklichkeit geben könnte. Vielleicht ist es möglich in diesem Fall, weil die drei Personen fast ihr ganzes Leben miteinander verbracht haben?
Viele Grüße!
Eva

 

Ich denke nich, dass alle Männer wirklich so hinterhältig sind...aber das ist eben Ansichtssache! :D
Ich fand die Gesichte sehr schön und hab sie bis zum Ende aufmerksam verfolgt!
Immer weiter so!

*hut zieh*
Mad Hatter

 

Hallo Jakobe,

eine scheinbar auswegslose Situation.
Dabei haben die Männer einen Riesenvorteil:
Sie sind nicht in der Bredouille. Ich als einer der Männer (aber Männer sind eben anders :hmm: ) hätte mich gegen die Frau entschieden; wenn sie mich nicht wollte, hätte sie mich auch nicht verdient. Punktum.

Davon abgesehen ein gut gezeichnete Szene, die aber wohl seltenst so alltäglich ablaufen wird. Hab ich sehr gerne gelesen und hat mir zu denken gegeben.

Lieber Gruß
bernadette

 

huhu jakobe

die geschichte war wirklich gut. und wie du die atmospäre am anfang beschrieben hast. das konnte ich mir bildlich sehr gut vorstellen. aber ich habe die ganze zeit gedacht, dass diese drei personen sehr jung sind (um die 30/35 vielleicht) und ich war leicht geschockt, als ich gelesen habe, dass sie alle über 60 sind.
wahrscheinlich war aber ihr alter der grund, warum die beiden männer nicht aufeinander los gegangen sind.
ansonsten, teile ich die meinung mit bernadette.

Ich als einer der Männer (aber Männer sind eben anders ) hätte mich gegen die Frau entschieden; wenn sie mich nicht wollte, hätte sie mich auch nicht verdient. Punktum.

by

 

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