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Entscheidung in Trümmern
Ich erinnere mich noch, als der Schnee auf meinem Tisch den Anklang einer neuen Periode versprach. Als ich zu ihm sprach und fragte: wirst du mich in eine neue Welt entlassen? Ich dachte nur, dass ich ihm diesen einen Moment seines Daseins noch gönnen werde, bevor er eine Synthese mit meinen Schleimhäuten bildet. Der frische Neuschnee fällt auf mein Fensterbrett und je länger er dort liegt, desto weiter geht meine Erinnerung an eine bessere Zeit zurück. Ich blicke mit orientierungslosen Wahnsinn in den Augen aus dem Fenster und je weiter mein Blick durch den Nebel dringt, desto klarer sehe ich die Nacht, die ihn umhüllt. So gut die Zeit am Ende auch gewesen sein mag: ich will sie aus meinem Gedächtnis verbannen und gegen etwas Besseres eintauschen. Wie ich dorthin kommen möchte? Natürlich mit möglichst wenig Aufwand. Mein Auto steht nicht weit von hier perfekt in meine Garage geparkt. Dorthin, wo es hingehört. Aber was ist schon perfekt in der heutigen Zeit? Ist es der neu gefallene Schnee, der umgefahrene Briefkasten oder die Garage, die meinem Auto Schutz bieten soll? Schutz im Sinne eines Ziels, wonach diesem Auto und seinem Lenker verlangt. Nun, ich verzichte auf den Schutz und versuche es beim ersten Mal richtig zu machen. Natürlich funktioniert das nach äußeren Maßstäben nicht immer perfekt. Wenn man aber die Perfektion selbst definiert, dann hat man gar keine andere Wahl, als alles richtig zu machen.
Mein Schnee kennt das Wolkenfeld, das ihn entlassen hat, nicht mehr. Der Fall seiner Symmetrie im vernebelten Aufgang einer untergegangenen Last, sie findet sich in Farben eines Regenbogens, die so unwirklich wirken, wie das Fernsehbild einer Gameshow, die im Abendprogramm ihren Epilog von oben nach unten fallend dem Zuschauer präsentiert. Am Ende der Geschichte angekommen beginnt eine Neue, die letztendlich nicht mehr bewerkstelligt als die Wiederkehr der selben Sage aus der Feder eines anderen. So bin ich für den Moment verdammt dem Schnee beim Fallen zuzuschauen. Immer in der selben Jahreszeit, vielleicht an einem anderen Ort, aber ständig nach dem gleichen System. Wie komme ich hier heraus, wenn ich einmal in das Zeitalter der Kälte eingebrochen bin? Nichts verspricht mehr Kälte als die Sonne im Winter.
Ich steige ins Flugzeug und versuche dem Wetter zu entkommen, aber je weiter ich fliege, desto wechselhafter werden die Bedingungen, unter denen ich zu leiden habe. Der äußere Schein verfliegt unter meiner Klinge, die stets dazu drängt in den eigenen Leib einzutauchen um wieder hinaus, in ein neues Ziel, bei der Verwirrung über das Zielobjekt wieder in sich selbst sticht, bis das Blut tropft und der Kelch meiner Sorgen neu gefüllt ist. Wer möchte ihn nun trinken, wohin soll ich ihn leeren? Möchte die Kirche das Blut meiner Vorfahren trinken, das sie mir schuld- und sündhaft in den Körper gegossen haben? Wer möchte diesem Widerstand eine Auflösung entgegensetzen?
Nun sitze ich hier und warte auf das Entstehen eines neuen Sommertages, aber was ich sehe ist nichts weiter als ein nutzloser Mensch, der sich offenbar wichtig fühlt, wenn er versucht in einer ausweglosen Situation nach seinem Handy zu suchen. Ob er wohl versucht seinen Anwalt anzurufen? Huch, er könnte selbst Anwalt sein....Dann möglicherweise einen seiner Kollegen? Was würde er ihm sagen wollen? "Hol mich hier raus?" "Ich ersticke an den Rauchschwaden und brauche etwas frische Luft zu atmen, bevor ich in den Machtphantasien eines fremden Untergehe, die doch nur durch mein eigenes Handeln an Wirklichkeit bekommen haben?". Ich beobachte diesen Typen gegenüber von mir und vergesse dabei mich selbst zu fragen, warum mein Körper hier mit Stahlketten an die Heizung gefesselt ist. Warum bin ich hier unten eingesperrt und was hat mich hierher gebracht? Wars eine böse Macht? Eine verkleidete Sonne zur Mitternacht? Wurde ich aus einem schönen Traum gestossen und bin jetzt in der Wirklichkeit erwacht? Die Schmerzen an meinem Oberkörper deuten auf einen langen Kampf hin, die Fesseln alleine können für diesen tiefen Schmerz nicht Ursache sein. Ich muß Opfer eines Syndikats sein, einer verschworenen Macht. Der Typ hier gegenüber von mir hat beim Versuch sich selbst zu befreien offenbar schon aufgegeben.
Was ist Wahnsinn? Würde ich ihn erkennen, wenn er mir gegenübersteht? Die Beschreibungen verwarf ich schon vor einiger Zeit, seit ich diesem Gesicht tief in die Augen schaute. Aber jetzt, da ich etwas spüre, das die Innenwände meines Schädels hinauf kriecht, wie tausend Würmer und Kakerlaken, frage ich mich: fährt er jetzt in großen Zügen durch meinen Kopf? Die Wände welche er niederfährt, sie waren einst aus fester Vernunft gebaut? Erlebe ich diesen Wahnsinn alleine? Haben ihn andere schon mal durchgemacht, wie ist es für jemanden, wenn er nur noch Symbole wahrnimmt und in allem Analogien sieht, die ständig von der selben Geschichte erzählen, deren Bestandteile so abstrakt sind, dass sie keine Substanz mehr haben und sich gegenseitig auflösen? Gibt es jemanden, der für dieses Problem eine Lösung erdacht hat?
"Wer hat mich hier her gebracht? Wie ist dein Name? Warum kenne ich dich nicht? "
"Mein Name ist Richard, Arzt der allgemeinen Medizin, ich denke, wir sind uns vorher noch nicht begegnet. Komisch, dass wir uns ausgerechnet an einem solchen Ort wiederfinden. Wissen sie, warum wir hier sind?"
"Mein Name ist Josef, man nennt mich auch Peppi oder Fritzl, meine Eltern legten Wert auf die Weitergabe traditioneller Vornamen innerhalb der Familie." So entgegnete er mir seine Identität. "Wir müssen uns schon mal begegnet sein" antwortete ich ihm. "Kennen sie das Restaurant dort unten an der Straßenecke, waren sie letzten Dienstag nicht auch dort und haben sich mit einem Hummer den Magen vollgeschlagen? Ich habe ein gutes Gedächtnis, deswegen habe ich mich auch für die Juristerei entschieden. Mein Namens- und Gesichtsgedächtnis schwelgt von untergegangenen Sonnen, die oben, am Berg, zu fallen beginnen, wenn man sie an der Leine zieht und in die Dunkelheit ihrer neuen Existenz führt. Woher führt ihr Weg?"
"Mein Weg kommt direkt aus dem Krankenhaus, ich weiß nicht ein, nicht aus. Wer uns hier unten festgebunden hat muß wohl einen Plan haben aus unserer Situation Vorteil zu schlagen. Was könnten sie meinen, wäre nun der Grund, warum man uns beide ausgesucht hat, hier unten in diesem Keller angekettet zu warten? Und worauf? Wer soll hierher kommen, um diesem Ende einen neuen Anfang zu geben?"
"Ich denke, das werden wir bald erleben, es braucht nur etwas Zeit, dann wird sich auch der Stärkste seinem Willen ergeben. Aber warten sie einen Moment, ich erinnere mich an den Tag im Restaurant, als ich ihren Gesichtsausdruck das erste mal sah. Der Hummer schmeckte hervorragend, die Schale war hart, doch hat man sich erstmal durchgebissen, folgte zartes und warmes Vergnügen. Der Geschmack wollte niemals enden, der Moment war wie vom Himmel gesandt, ein Erlebenis, das man nicht in jedem Restaurant erhält. Doch erinnern sie sich auch an den Koffer am Tischbein meines Nachbarn? Ich vernahm dort ein seltsames Geräusch, ich dachte, entweder hat er dort ein Kind eingesperrt oder er trägt eine tickende Zeitbombe mit sich. Auf jedenfall drang etwas aus diesem Koffer und ich wusste nicht, wann es dort ausbrechen würde. Mir war, als fiel ich in einen Traum beim Anblick dieses Koffers und seines Trägers, die Last darin schien dem Werk seines Meisters nicht standzuhalten. Als ich diesen Gedanken dachte, kam auch schon der Kellner herbei und nahm den Koffer mit, ab diesem Moment wusste ich, ich stecke hier in einem falschen Spiel. Und ich dachte mir: Warum immer ich? Warum muß ich in solche verstrickten Tatsachen eingewoben werden, obwohl ich gar nicht will? Wer hat meinen Willen diesmal wieder unter seine Macht gebracht?"
"Der Koffer, ja, der wars, ich kann mich noch erinnern, ich saß gegenüber und sah ihn hinter der Menschenmasse verschwinden. Es war ein schöner Anblick, so lange ich ihn sehen durfte, ein feines Werk von sauberer Handwerkskunst. Selten hätte ich gedacht, dass so ein banales Objekt meine Aufmerksamkeit so stark an sich ziehen könnte. Wäre ich ihm doch nur nachgegangen und hätte der selben Neugier gefolgt, von der sie mir berichten, vielleicht wäre ich um eine Erkenntnis reicher und einem Schmerz ärmer geworden. Aber ich blieb sitzen auf meinem warmen Platz, ass den Hummer und grub nach seinem Schatz."
"Der Koffer muß es also gewesen sein, der uns in diesem dunklen Loch verbindet. Wir wollten uns beide nicht trauen ihm nachzugehen, also hat uns das Schicksal wohl befohlen, uns gegenseitig hier gefesselt anzusehen."
"Wie brechen wir nun aus? Anscheinend hat uns irgendeine Verbrecherbande hier unten festgehalten, weil wir zu viel gesehen haben. Ich mache ihnen einen Vorschlag: ich breche ihnen mit meinen Beinen ihre Beine. Dann wären sie in der Lage, noch bevor sie verhungern, unser Gefängnis zu verlassen und sich aus den Ketten zu winden. Sie könnten sich durch ihre neue Beweglichkeit, die sie dadurch erlangen, mit Leichtigkeit von ihren Fesseln befreien. Wäre das eine Idee? Sie sind Arzt, sie wissen, dass dies wieder heilen wird. "
"Und sie sind Anwalt und wissen, dass wir hier zugrunde gehen, denn es gibt kein Recht in dieser Welt. Müssen wir uns erst selbst vernichten, um in die Freiheit zu gehen? Nein, lieber sterbe ich hier als eine Entscheidung zu treffen, die mich noch tiefer ins Verderben führen könnte, so lange in mir noch ein Funken Hoffnung lebt, diesen Fleck gehend zu verlassen. Mich hat meine Idee nach einem besseren Leben als dem derzeitigen noch nicht allein gelassen. Auch wenn sie mich dafür hassen, ihr Plan wird nicht in dieses Geschehen passen."
"Gut, so nehme ich diesen Eispickel hier vom Boden und steche mir selbst in die Brust, sie sind mein Augenzeuge, ich verderbe ihnen die Lust. Die Lust hier rauszukommen, ohne etwas Schlimmes mitansehen zu müssen, das ihre gegenwärtige Situation noch schlimmer machen würde. Die Erinnerung an diesen Selbstmord wird den Gedanken an den ihnen geplanten Mord noch weiter in die Tiefe ziehen. Ein Arzt sieht zu, wie der Anwalt seine Menschenkenntnis gegen sich selbst richtet. Und nicht mehr heil wird. Ein Drama sondergleichen. Ist es das nicht?"
"Nein, ich bin ebenso wie sie nur Anwalt einer verletzten Natur, einer Entwicklung, die in ihrem Streben nach Freiheit fehlgeleitet wurde, und es ist mir egal, wenn sich jemand selbst zugrunde richtet. Schließlich ist das mein Gewerbe vom Leid anderer zu profitieren. Zumindest muß ich ihnen nicht mehr zuhören, wenn sie sich selbst ihrer Worte berauben. So tun sie es schon und lassen mich dann in Ruhe."
"Nein, so einfach mach ich's ihnen nicht. Erst will ich ihr Gesicht, einen Dorn in ihr Auge stecken und sehen, wie ihre Hoffnungen verrecken. Dass sie kein Mitleid haben, das sind für mich keine wohltuenden Gaben. Ich will sehen wie ihr Gesicht auf den Boden knallt und ihr Schmerz in weite Ferne schallt. "
Der Anwalt und der Arzt starren einander an.
"Befreien sie mich von meinen Fesseln, sie Arschloch."
"Ich bin doch selbst nur ein Gefangener!"
Die Türe öffnet sich und scheint sich, je weiter der Spalt aufgeht, zu vergrößern. Der dunkle Raum strahlt plötzlich in grellem Licht und fällt in zwei Hälften. Die Wände machen den Eindruck, als würden sie vorübergehend zu Leder werden und die Fesseln des Mannes scheinen einer Serviette um dem Armgelenk zu weichen.
Ein junger Student sitzt vor ihm und fragt ihn, wofür er sich einschreiben soll, er kann sich zwischen den vielen Alternativen, die ihm der ältere Mann gerade in seinem Studienratgeber vorgeschlagen hat, nicht so wirklich entscheiden. Sein Tischgenosse, ein Mann im mittleren Alters, gibt ihm den Rat, sich nächste Woche für den von der Universität seiner Wahl stattfindenden Studientest zu melden, steht auf und verlässt den Tisch.