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Entscheidung
Zärtlich ließ ich die Fingerspitzen über sein lächelndes Gesicht gleiten, mit einem fast andächtigen Schauer, als wäre es nicht nur ein Foto, sondern er selbst. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich in seine dunklen, sanften Augen sah, die ich so liebte und die mich anzulächeln schienen. Er sah einfach großartig aus, groß und sportlich, stark und schlank. Ich hätte ihn stundenlang ansehen können, seine geschwungenen Augenbrauen, seine sensiblen Lippen. Mit einem Seufzer trennte ich mich von dem Bild und ließ es zurück in meine Schublade gleiten, wo ich es schon so lange versteckte.
Wir hatten uns eine ganze Weile nicht gesehen und jetzt freute ich mich auf ihn, viel zu sehr, als ich es irgendwem gegenüber hätte zugeben können. Ich hatte ihn schrecklich vermisst, seine Nähe, seine dunkle Stimme, unsere langen Gespräche, den verrückten Blödsinn, den wir zusammen gemacht hatten, als wir noch jünger waren.
Seit er weggezogen war, fehlte er meinem Leben so sehr, dass ich ihn aus meinen Gedanken hatte verbannen müssen, weil die schiere Erinnerung an ihn wehtat. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, zum Hörer zu greifen und ihn anzurufen, ein paar lockere Worte und ich hätte ihn wieder in meiner unmittelbaren Nähe gehabt. Aber ich hatte Angst gehabt, wollte nicht zu aufdringlich erscheinen. Und jetzt kam er wirklich. Er hatte mich angerufen, weil er gehört hatte, ich würde auf die Segelfreizeit nach Holland mitfahren, auf der er auch dabei war. Wir könnten doch zusammen zum Bahnhof fahren, es lag doch auf dem Weg.
Gleich würde er hier sein, leibhaftig, und mich abholen. Er würde groß und schlank, stark und sportlich vor mir stehen. Und wir würden allein sein, nur er und ich und das was zwischen uns stand, das was mich veranlasst hatte, ihn zu meiden, von dem er keine Ahnung hatte, keine Ahnung haben durfte!
In Gedanken sah ich wieder auf zu ihm, wie sooft zuvor, wenn wir gemeinsam durch die Dorfdiskos zogen oder wild mit dem Fahrrad durch die Landschaft jagten oder uns unterhielten, und er sah zurück und ich zweifelte nicht daran, dass er für immer an meiner Seite bleiben würde. Damals hatte ich noch nicht gewusst, dass alles irgendwann ein Ende findet, auch unsere Freundschaft. Denn er war nicht geblieben, auch wenn es nicht seine Schuld war, sondern meine, denn ich hatte beschlossen, ihn nicht anzurufen, ihn nicht zu sehen, unsere Freundschaft im Sand verlaufen zu lassen. Lieber das, als ihm irgendwann zu gestehen, dass ich Gefühle für ihn hatte, bodenlos verborgen, hinabgezwängt in die Tiefen meines Bewusstseins, eingesperrt und nie herausgelassen, lange Zeit - nicht mal vor mir selbst.
In dem Moment, wo ich seine tiefe Stimme am Telefon gehört hatte, hätte ich heulen können, einfach dasitzen und hemmungslos weinen, weil meine Zuneigung gewachsen war, statt nachzulassen, weil ich ihn sosehr vermisst hatte und mich nach seiner Anwesenheit sehnte. Dann war ich so glücklich gewesen, nur weil er hierher kam, dass ich fast freudig durch die Wohnung tanzte. Es war ein Fehler gewesen, nicht mit ihm darüber zu reden, in all den Jahren, die ich ihn schon liebte; selbst wenn er mich verachtete, den Kontakt abbrach, war es besser, als sich weiterhin selbst zu quälen, denn jetzt hatte ich nicht mehr die Kraft dazu. Deshalb hatte ich mich für dieselbe Segelfreizeit angemeldet, weil er es endlich erfahren musste, irgendwann auf der langen Bahnfahrt hoch nach Holland, wenn wir allein waren, nur er und ich.
Aber ich hatte abgrundtiefe Angst, Angst vor seiner Reaktion, Angst davor, von ihm abgelehnt und verletzt zu werden! Wir sind doch Freunde, versuchte ich mir Mut zu machen. Ich würde es ihm sagen, klipp und klar, kein Zurück mehr, keine Ausflüchte, kein Verstecken vor ihm und mir selbst. Und dann mag kommen, was will.
Die Türglocke schlug laut an und ich lief nervös nach unten.
Vielleicht, versuchte ich mir Mut zu machen, ist er nur überrascht. Vielleicht kann er damit leben, wenn ich ihm gestehe, dass ich ihn liebe.
Auch wenn ich der erste Mann bin, der ihm das sagt.