Episode aus dem Leben von Francesco
”Straße”, dachte er, nachdem der Balkon verlassen worden, die Treppenstufen abgeklappert und die Tür ins Schloss gefallen war.
”Asphaltierter Beton, damit Gummireifen rollen können, Schritte festen Grund spüren. Aber der Winter macht sie glatt und rutschig, kehrt all das Gewollte ins Ungewollte, aber notwenig in Kauf genommene um. Was wäre, wenn kein Teer das Bild bestimmen würde?”, fragte er sich bei den Schritten.
Häuser, alte Bauten und neue Gebäude, passierte er, die Fassade als jene aus den 1970er und 2004er erkennend, sich vorstellend, ob dieses Äußere auch auf die Bewohner zutreffe.
Geld kostet es, Häuser zu bauen. Man muss Miete bezahlen. Die ist umso teurer, je neuer die Wohnung - und noch teurer für jene, die in den alten Bauten hausen, weil ihnen das Geld knapp ist. Das Alte ist ihnen teuer. Vielleicht flimmert nicht einmal eine Kiste in den Zimmern, keine Wellen strahlen aus Lautsprechern. Vielleicht riechen sie noch den Geruch alter Bücherseiten, die Erinnerungen konservieren an alte Zeiten.
Vielleicht fahren sie noch alte Klapperkisten. Die aber stinken.
Alt ist nicht gleich alt.
Die Hauptverkehrsstraße lärmte zwischen Häuserschluchten. Ströme rasten da immerfort, ein brausendes Geräusch, preschende Tonreihen, sich mischend, ein Konzert der Straße, lebendes Totes.
Er aber hieß Francesco. Und er lebte hier in dieser Stadt erst seit Kurzem. Doch das hörte er tagtäglich, war schon zu einem Teil derselben geworden wie all die plakativen Schilder, wie er fand, das kalte Antlitz dieses gewählten Wohnortes waren.
Sirenengeheul. Kalter Wind. Starre Augen, gefroren in der Leere des Blickes. Ein Mann schabt Eisblumen von der Windschutzscheibe. Verhüllte Gesichter, aus denen Nasen wie Eiszapfen horizontal wachsen. Ob sie noch riechen des Frühlings süße Versprechen? Der bunten Schmetterlinge tanzende Schönheit? Klare Waldluft vor Tau und Tag?
Dies waren Gedanken im Rhythmus des Schrittes, den Francesco vorbei tat an den Zombies, die verwurzelt sitzen auf Stahlbänken, warten auf den Totentransport namens Bus. Oder hinter der Scheibe, fade Burger konsumierend.
Aus der Ferne hallts: ”Amerika...”
Ein Song, promotet vor einiger Zeit im TV, gesungen von einer Band, die gleich heißt wie ein amerikanischer Flugstützpunkt in Germany.
Anglizismen - raus aus meinem Kopf! Nicht gewollt seid ihr von mir, dem Wächter der Sprache. Verbannt sollt ihr sein ins Jenseits! Bleibt beim Broadway - verdammt! Schon wieder! Sie schleichen wie Nebel aus den Straßenlöchern, Bordsteinritzen! Gespenster sinds und feuchte noch dazu. Reinlich wollen sie konnotiert sein, hinein kriechen ins Limbische System und dort mit Dopamin und Serotonin in den Spalten Techno tanzen! Schneller, schneller, noch schneller! Los! Vorwärts, Schwein! Nimm uns an! Identifiziere dich!
Dabei ist’ s doch eher eine Infektion. Einem Virus gleich: sein Erbgut in fremden Zellen verbreitend, alles andere sich Untertan machend, zum Ziele: Produktion! Effektiv und optimal! Absoluter Absolutismus - niemals! Nein!
Fast wäre Francesco blindlings auf die Straße gegangen, wutentbrannt, insbründiger Zorn, der die Sinne vernebelt und sinnlos werden läßt. So auch, ob Autos brausen mögen. Sinnlos ist auch ohne Sinne.
Er hatte Glück. Eine Frau rief im letzten Moment: ”Stopp!”
Und Francesco blieb stehen, drehte langsam den Kopf und sah zwei braune Augen, halb geschockt, in Adrenalin badend. Zitternd wiederholte die Stimme: ”Stopp!”. und einige Momente später, wie nach einer Phase des Beruhigens: ”Da haben Sie Glück gehabt.”
Jetzt sollte in den konditionierten Köpfen das Bild des Schutzengels auftauchen, mit einem heiligen Schein gekrönt, sagend: ”Immer da, immer nah...”
”Danke”, nickte Francesco ihr zu. Sein erstes Wort an diesem Tag, was die Frau aber nicht wusste. Wie sollte sie auch. Schließlich war dies eine jener alltäglich und zufällig passierenden Begegnungen, nur mit dem Unterschied, dass Worte oder ein Wort gewechselt wurden.
Die Frau strich sich durch ihr langes Haar, braun wie Kastanien, angefeuchtet von der Luft und glänzend.
Eine Märchenprinzessin könnte sie sein, dachte Francesco, so lieblich sah sie aus. Wohnend lange Zeit in einem Turm, fern der Welt, geboren mit einer rettenden Tat in die Herzen der Menschen.
”Wie heißen Sie?”, wollte er fragen, doch das zauberhafte Wesen war wieder verschwunden, abgetaucht in den Strom der Zombies.
Leuchten müsste sie, funkeln wie Sterne in diesem dreckigen Fluss. Doch diesen Gefallen, diese Sternstunde für die Sinne, tat sie ihm nicht. Sie blieb verschwunden.
Einsam wanderst du wieder, Wanderer, der in Zeiten zuhause ist, die Menschen dieser unbekannt und befremdlich sind. Kennst Hölderlin und spürst Gefühle, die Stachel in der Brust. Hast wieder ein Beispiel gefunden, dich zu vernetzen mit der Vergangenheit. Ein Fischernetz ist die Assoziation und du bist der Fisch, zappelnd im Netz, hin und her zwar, aber nicht wieder hinaus.
Francescos Seufzer hatte etwas von Luft schnappen, etwas von Überlebenskampf. Man mag, wenn man sich mit Personen, wie Francesco eine von ihnen ist, beschäftigt, feststellen, dass, wenn man sich in das Geflecht dieser eingefunden hat, sich Welten heraus kristallisieren, denen eine wundervoll erscheinende Ordnung innewohnt, eine Ordnung des Chaos einer sich immer weiter verzweigenden, verwinkelnden und so zerschnürenden, seelenfeindlich werdenden Welt, die, je weniger Zeit verstreicht, desto unübersichtlicher wieder wird.
Deshalb hören wir ihm weiter zu in seinen Gängen durch innere und äußere Passagen.
Den Zebrastreifen gefunden, gegangen über den Kontrast, hell-dunkel oder dunkel-hell. Sind die Streifen des Zebras nun schwarz oder weiß. Ist das zu trennen? Ist die äußere Welt nicht zugleich innen. Und die innere Welt zugleich außen. Verschwimmen die Grenzen nicht, wenn man genauer hinschaut? Wie der Herbst die Blätter des Baumes färbt, sie fallen lässt und dem Winter zum Fraß vorwirft, so doch auch das Leben in dieser Zeit: bunte Reklame verspricht einen Kinofilm, den man sich in einem warmen Gebäude anschauen kann. Wie unter einer schützenden Decke fühlt sich der Mensch im Haus der Bilder mit Dach.
Doch Francesco ist kein Kinogänger. Wozu denn Geld bezahlen für die Augen. Ist die Welt nicht bildreicher als alles andere?
Ja, sie ists, und du bist der Trottel, der das feststellt. Bist wissend darum. Aber was nützt es dir? Kannst vielleicht genießen für Momente diese Pracht, doch die Melancholie schleicht mit jeder Farbe, jeder Form und jeder Struktur, mit dem Tanz derselben zusammen in dein Gehirn, nagt sich dort ein, frisst sich fest! Ratte!
Depression nennen es die Menschen, doch ists tierischer als jedes Tier, dumm einfach, mit einem Begriff alles erklären zu wollen. Wir bräuchten doch nicht mehr weiterdenken, wenn begrifflich alles geklärt wäre.
Bleiben wir bei der Metapher: das tertium comperationis: Einnistung.
Vögel nisten sich ein im Süden, Flieger, die vor langer Zeit den Brunnen umkreisten, der jetzt tot schweigt, nicht mehr singt.
Was sagte ich von Hölderlin: Hälfte des Lebens. Im Winde klirren die Fahnen der Erinnerung. Schöne Zeit wars. Ja, sie ist vergangen. Sie doch hin! Wo ist das springende Wasser? Wo ist der Quell der Freude? Begraben! Außen wie innen! Ha! Wieder unauflösliche Wirklichkeit!
Francesco setzte sich auf eine Bank. Kravattierte Anzüge sah er auf der anderen Straßenseite. Hastend. Alle zusammen. Bild des Stroms.
Plötzlich ein Kinderlachen. Welch Wonne! Kindliches Lachen an diesem Tage. Ambrosia in der ausgezehrten Welt! Wie schön und beruhigend.
Seine Augen tanzten mit dem Kind um den Brunnen, ein Kreis der Freude. Endlich, der Lichtblick. Der Moment, in dem alle Reklametafeln verdunkeln und nur noch das Leben selbst leuchtet in den Farben kindlichen Lachens. Eine Symphonie, ein Meisterwerk - doch halt! Nicht bewerten, Francesco, sinnen! Du weißt doch noch: ”...ohne ständiges Warum!” und ”Keine Rolle mehr spielen!”
Für diejenigen, die es nicht wissen: Francesco schrieb einmal über das Theater als Geburt.
Springe, springe, kleiner Fratz!
Nimmer werd ich froh!
Singe, rausche meinem Spatz
Melodien lichterloh!
Dichten ist heute nicht Francescos Fall. Sonst, ja, sonst mag er dies gerne. Das sollte man wissen, wenn man Francesco verstehen möchte. Denn dichten ist Verbindung des Unverbundenen, eine Reise durch die Wirklichkeit. Dichten ist fantastisch und zugleich das Sinnlichste der Welt. Welches Bild kann das Lachen eines Kindes zeigen? Welche Melodie den winterlichen Geruch? Welche Fastfood-Kette den Genuss der Langsamkeit?
Der Fluss fließt wieder, Francesco, merkst du das? Er strömt in dir, doch wie weit ist dieses Strömen entfernt vom Wahn? Wenn er fließt - und er fließt! - sind dann nicht, rhetorisch gefragt, die Grenzen fließend, sind Schwellen nur? Ja, denke darüber nicht nach. Sonst verhedderst du dich. Dann kommen die Schleifen wieder, die Gedanken und wiederkehrenden Bilder, die Ohrwürmer auf Lebenszeit! Das hast du erlebt, mein Freund, lange Zeit. Wars wundervoll oder fauler Zauber? Wars bühnenreif oder gauklerisch auf den Brettern des lebenden Wahns? Du! Bist du Zauberer deiner selbst, Illusionist? Oder ists Kunst? Ist es Wirklichkeit oder Wahn? Ists Schwelle?
In all dieser Schnelle flossen innere und äußere Wirklichkeit durch das Bewusstsein unseres Protagonisten. Er selbst außer stande, im Fluss, somit lebendiger als alles andere und sterbend zugleich, denn in der Realität bedeutets den Tod, fließend über alle Maße zu sein. Lebt Francesco vielleicht in der falschen Welt? Was wäre, wenn er in Indien reinkarniert worden wäre. Wäre er Buddhist - was wäre er da für einer! Doch in dieser winterlichen Welt dieser Stadt, T. , ists nicht angebracht, so im Fluss zu sein, dass es schwer fällt, auszusteigen.
Er stand auf, ging ein paar Schritte durch den Abend. Nicht mehr viele Menschen waren auf der Straße. Nur noch vereinzelt welche, hier und da.
”So ists mit uns”, dachte Francesco. Vereinzelt sind wir und nur deshalb sind wir nicht vervielzelt - Ein lustiges Wort, wäre der Sinn dahinter nicht so ernst.
Francesco ging die Straße hinunter. Seine Schritte tappten immer leiser. Bald war nur noch eine schemenhafte Gestalt zu erkennen, die letztlich im Nebel verschwand...