Er muss es sein
Er muss es sein. Dieses Schwarz, Mütze, Skijacke, und Skihose und auch die Brille, sogar das Glas … tiefschwarz. Handschuhe schwarz, Skischuhe schwarz. Nur die Ski mit dem unter Wintersportlern bekannten Design und markanten Pfeil als Logo, die sind rot. Sehr sogar. Eine irgendwie höllische Erscheinung und das bei minus zwölf Grad laut Thermometer an der Talstation.
Ja, ich bin mir sicher, dass er es ist. Sitzt jetzt neben mir auf dem 6er Sessellift, der uns auf den Gipfel bringt. Verdammt. Wir beide. Allein. Nur getrennt von einem leeren, gepolsterten Sitzplatz.
Eisiger Wind bläst mir ins Gesicht. Habe meine Jacke bis obenhin geschlossen und ziehe meinen Kopf tief nach unten. Lediglich meine Nase ragt unter der Brille hervor und versucht, der Kälte zu trotzen. Ob es diese trockene Kälte ist, oder auch das vom Wintertourismus gefürchtete Jännerloch, egal. Tatsache ist, dass sich nur wenige Skienthusiasten bei diesem zwar strahlend blauen Himmel mit dafür aber umso frostigeren Temperaturen auf die Piste wagen.
Er ist auch so einer. So einer wie ich. Ein Getriebener. Aber unsere Motivation ist eine unterschiedliche.
Er atmet schnell, ist erschöpft von der letzten Abfahrt, die er offensichtlich runter gedonnert ist. Ich blicke zu ihm hinüber, neugierig. Will mich endgültig vergewissern.
Lässig lehnt er auf dem gepolsterten Sessel, strotzend vor Selbstbewusstsein und jugendlichem Testosteron. Er weiß, dass er Ski fahren kann, vermutlich perfekt aber mit Sicherheit schnell, rasend schnell.
Traumwetter heut, nicht wahr?, meint er.
Sein Atem ist wieder ruhig. Er scheint fit und trainiert zu sein.
Mhmm, bleib ich kurz angebunden, aber arschkalt.
Er lacht affig und nickt dabei zustimmend.
Eigentlich hab ich auf diesen Moment gewartet. Eigentlich hab ich mich regelrecht danach gesehnt, hab mir die unterschiedlichsten Szenen ausgemalt und was ich sagen und tun würde. Seit diesem Moment im letzten Winter, als sich mein Leben verändert hat. Als ER mein Leben verändert hat. Komplett.
… aber dafür sind die Pisten wie leer gefegt und fast keine Touris unterwegs. Man kann runterblasen wie Sau, geil!
Du trägst ja gar keinen Helm, ist Dir das nicht zu gefährlich?
Ach was, das ganze Gesülze mit den Helmen … wenn Du richtig Ski fahren kannst, brauchst Du keinen Helm.
Er ist es. Der Typ damals trug auch keinen Helm. Wie ein Blitz schoss er über die Kante. Flog durch die Luft in perfekter Hocke. Nur wenige Hundertstel später durchtrennten die messerscharfen Stahlkanten seiner knallroten Skier meiner Tochter die Oberschenkelarterie.
Willst Du mir sagen, Dich hat es noch nie zerrissen?
Aber sicher doch, regelmäßig sogar. War immer schon schnell unterwegs, hab auch schon mal ein paar Touris abgeschossen … alles ohne gröbere Verletzungen, zumindest für mich, hähä.
Mein Adrenalinpegel steigt, ich spüre es förmlich. Trockener Mund. Frosch im Hals. Ich huste ein wenig.
Erkältet, häh? Kein Wunder bei der Kälte.
Aber heute hab ich mein Tempo unter Kontrolle, geh immer im Herbst ein paar Mal Gewichte schupfen und so Zeug, das hält mich dann fest auf den Brettern.
Gleich hinter der unübersichtlichen Geländekuppe carvten wir in lockerer Geschwindigkeit quer über die Piste. Meine elfjährige Tochter hatte kein Problem mir zu folgen. Als ich zum nächsten Schwung ansetzte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie dieser Wahnsinnige über die Kante flog, kurz darauf meine Tochter traf und etwa fünfzig Meter mit ihr den Hang hinunter stürzte. In diesem Moment hoffte ich zutiefst, dass die Blutspur von diesem Rowdie stammen möge.
Da schau, da gurken sie runter, diese Preussen, Inselaffen und sonstigen Skideppen. Die werden es nie lernen und ich kann deshalb Slalom spielen, weil sie langsamer sind als jeder Hydrant, die Trottel.
Nach dem Sturz stand er auf, unverletzt, schnappte sich seinen zweiten Ski, der gleich neben ihm lag, sah mich auf sich zukommen. Ich sah ihn vor mir, ganz in schwarz und im Schnee verblutete meine Tochter. Er verschwand. Bis heute, jetzt und hier neben mir.
Die letzten Liftsäulen kommen auf uns zu. Geschätzte acht Meter Luftstand. Cool und wagemutig wie er ist, öffnet er schon jetzt den Bügel. Er bückt sich ein wenig nach vor, scheint das Aussteigen nicht mehr erwarten zu können.
Wie selbstverständlich packe ich seinen Oberarm, reiße ihn mit aller Kraft mit beiden Händen nach vorne. Meine Skistöcke fliegen im Handgemenge. In der Überraschung verliert er das Gleichgewicht, kippt nach vorne weg, sucht irgendwo verzweifelt Halt … und fällt.
Hähähä … das Arschloch fällt. Unsere Blicke treffen sich für den Bruchteil einer Sekunde und die Zeit scheint still zu stehen. Dann zerschellt sein Schädel auf den nur spärlich mit Schnee überzuckerten Felsen. Grinse ich?
Bis ich aussteige bildet sich schon eine tiefrote Blutlache um seinen Kopf. Irgendwie passt die dunkelblaue Skihose nicht zu seinem übrigen coolen schwarzen Outfit.