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Er wollte die Welt verändern
Du wirst es nie zu etwas bringen, ich will dich hier nie wieder sehen!“, hatte er gerade noch mitbekommen, bevor er den Hörsaal verließ. Keine Angst, seine Lesungen konnte er sich sparen, da konnte er sowieso nichts mehr lernen. Die Theorien veraltet, die Methoden überholt, diese sture, arrogante Unterrichtsweise!
Als er das Universitätsgebäude verließ, war er geblendet von der spätsommerlichen Sonne. Vor sich hatte er unzählige, weiß gepflasterte Stufen auf dem Weg zur Straße, Stufen, die er wohl nie wieder hochschreiten würde. Er setzte sich auf eine der Stufen hin um nachzudenken, was nun zu machen war. Und er hatte wirklich keine Ahnung. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken an seine Schwester.
„170 IQ und trotzdem Null Verstand“, hatte sie über ihn gespottet. Irgendwie hatte sie recht gehabt, denn wie konnte man so dumm sein und sich mit dem Rektor anlegen? Bei einem Schnitt von 1,1 aus der UNI fliegen, das Stipendium verlieren? Wie konnte er sich jetzt zu Hause zeigen, wie konnte er nun seinen durch den dritten Weltkrieg ruinierten Eltern in die Augen blicken, die ihre letzten Ersparnisse aufgegeben hatten, um ihm dieses Studium zu ermöglichen?
Mühsam rappelte er sich auf und schritt die Stufen hinunter zu der Straße, an der überdimensionalen, spießigen Nixon-Statue vorbei, die ihn in Siegerpose, mit einem Gesetzbuch in der Linken und einem Schwert in der Rechten über einer UdSSR-Karte darstellte.
„Wir danken dir, Sir Nixon, Präsident auf Lebenszeit! Für die Wiederherstellung der Demokratie und des Friedens in der Welt“, stand in goldenen Lettern darunter. Einstein wurde es kotzübel, wie jedes Mal wenn er die Statue sah. Er musste an die feierliche Einweihung der Statue vor fünf Jahren zum zehnten Jahrestag des Sieges denken, als auch Nixon selbst dabei war. Wie er die Liebe zu Volk und Gesetz spielte, wie er anscheinend gerührt war! Er musste auch an den Kennedy-Aufstand 1964, zwei Jahre vor Kriegsende, denken, bei dem auch seine ältere Schwester dabei war. Sie forderten Freiheit, sie forderten Frieden und sie bekamen nur einen Bleihagel als Antwort.
Kennedy, der in erster Reihe stand, starb sofort unter dem Feuerhagel. Als die Überlebenden sich um ihr Leben wimmernd auf den Boden warfen, schlug die Staatsgarde auf sie immer wieder mit Stöcken ein, bis keiner sich bewegte. Seine Schwester blieb danach für immer im Rollstuhl.
So viel zur Wiederherstellung der Demokratie und des Friedens.
Jemand rempelte ihn an und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Pass doch auf, du Penner!“, hörte er hinter sich, drehte sich kurz um, sah flüchtig den Rücken eines karierten Hemdes, einen roten Schal, einen Filzhut. Dann schaute er an sich herunter: durchbeulte Hosen, abgenutzte Billigturnschuhe, ein zerraufter lederner Hippieumhang. Er stellte sich seine chaotische Afrofrisur vor, seine magere Statur. Ja, er sah alles andere als vornehm aus. Damit war er aber bei weitem nicht allein. Denn als Nixon nach dem Kennedymassaker sich „um die Ordnung und die Sicherheit der USA zu garantieren“ für Präsidenten auf Lebenszeit wählen ließ, kristallisierten sich bald böse und gute Staatsbürger, zwischen denen eine gesellschaftliche Kluft entstand, die die „Bösen“ ins Ruin stürzte.
Einstein wanderte gedankenverloren die Straße entlang und entfernte sich weiter von der Universität. Um ihn herum alles in Aufbruchsstimmung. Lärm von den zahlreichen Baustellen, wo Wolkenkratzer mit gläsernen Fassaden empor gerissen wurden, maß sich an Lautstärke mit den Straßenarbeiten, die die Straße für den wieder zunehmenden Verkehr breiter machten. Menschen, elegant und nach neuster Mode gekleidet, strömten von den ultraneuen Büros in ihre hochmodernen Wohnungen. Riesige Leuchtreklamen und glänzende Fassaden der Einkaufszentren lockten mit den neusten Wundern des Fortschritts und der Entwicklung.
„Wie Phoenix sind wir aus Ruinen auferstanden und erstrahlen in neuem, tausendfachem Glanz! Dank Kernkraft! Dank E=mc²! Dank dir, Dr. Hawking!“, las Einstein auf einem Plakat über dem Eingang zum Hawking-Kernphysikzentrum. Sein ganzes Dasein widerte Einstein an, als er diese Worte las. Wie viele Menschen sind bei diesem Wiederaufbau gestorben? Wie viele mussten noch sterben? Es wurde zwar von Reparationszahlungen der UdSSR gesprochen, von gerechter Strafe und Abarbeitung ihrer Kriegsschuld, doch nach Schätzungen des Untergrundes mussten beim Wiederaufbau über vierzig Millionen Menschen ihr Leben lassen, etwa fünfzehn Millionen davon Amerikaner.
Einstein musste weg von hier. Er wollte nicht unter diesen Menschen sein, unter Menschen, die sich fett fraßen, während ¾ der Landbevölkerung und 95% der Welt hungerten. Er wollte weg aus dieser Welt. Und die andere Welt lag nur drei Vierteln entfernt. Seine Schritte wurden schneller und verwandelten sich bald in einen eiligen Trab. In diesem Tempo war er in fünf Minuten an der Straße. Jede Straße hatte einen Namen, nur diese nicht. Sie war einfach nur Straße. Sie war aus kaltem grauen Beton, vier gerade Spuren in jede Richtung, von einem Ende des Horizonts zum anderen, Spuren, auf denen seit dem Kennedymassaker nie gefahren wurde. Denn sie diente als Grenze zwischen zwei Welten. Dreißig Schritte brauchte er zum Überqueren der Grenze. Bei jedem dieser Schritte spürte er zahlreiche Scharfschützenaugen wie Messer sich in seinen Rücken bohren. Er fühlte sich wie ein Verräter, wie ein Überläufer. Er fühlte sich gut, so gut wie seit langem nicht als er den neuen, unasphaltierten, schmutzigen Boden unter seinen Füßen hatte. Eine staubige Straße führte ihn weiter zwischen hölzernen, auf den Ruinen der Bombardements eilig erbauten Baracken. Kein Licht brannte in den glaslosen Fenstern, denn hier gab es keine Elektrizität. Keine Geschäfte strahlten hier mit ihren Vitrinen, denn hier konnte niemand etwas kaufen. Die meisten Familien, die hier wohnten, hatten jemanden beim Wiederaufbau verloren, doch der Wiederaufbau ließ die Gegend unberührt. Die meisten Männer, die hier wohnten, hatten für die Freiheit des Landes gekämpft. Nun waren sie Sieger. Und Sklaven.
Bald war Einstein an seinem Ziel angelangt, einem zweistöckigen, graphitibesprühten Haus, dessen Wände in etwa so schief waren wie der Pisaturm. Er hob die Hand an um zu klopfen, doch der Besitzer, ein langer, hagerer Mann kam ihm zuvor und schlug, fröhlich schreiend, die Tür auf.
„Albert, alter Freund, was machst du denn hier? Schön dich wieder zu sehen!“, er schloss Albert in einer kräftigen Umarmung, dann besann er sich.
„Du musst hier wieder verschwinden! Wenn die dich hier mit mir sehen, schmeißen sie dich raus! Du weißt doch, sie sind überall.“
„Zu spät“, entgegnete Einstein, „Ich bin schon raus und ich freue mich sogar. Erik, Darf ich bitte rein?“
Beide Männer betraten ein halbdunkles Zimmer. Den Raum beherrschte ein massiver hölzerner Tisch in der Mitte, der mit verschiedensten Büchern, Heften und Aufzeichnungen chaotisch bedeckt war. Daneben zwei einfache Holzstühle. In der Ecke ein Bücherschrank. In der anderen ein Fahrrad, der als Generator diente, auf zwei Stützen befestigt, mit einem Dynamo und mit einem Kabel mit der Glühbirne an der Decke verbunden.
„Wie konnten sie dich rauswerfen? Deine Theorie ist genial! Hast du sie ihnen gezeigt?“, fragte Eric.
„Ja, ich hab sie dem Professor gezeigt. Er schaute mich an, als ob ich übergeschnappt wäre. Ich ging sogar zu Hawking persönlich.“
Eriks Augen weiteten sich.
„Und?“
„Er hat über mich gelacht mit seiner dummen Computerstimme. Er ist zwar ein Krüppel, aber ich sage dir, ich war ganz nah dran ihn zu erwürgen.“, sagte Einstein und setzte sich hin.
Diese Nachricht schockierte Erik und machte ihn wütend.
„Sie müssen blind sein! Es ist doch offensichtlich, dass deine Berechnungen stimmen!“
„Im Moment reicht die Kernkraft eben aus, um unser Energiebedürfnis zu befriedigen.“, sagte Einstein traurig. „Außerdem haben wir so viele kostenlose Arbeitskräfte, wofür dann die Milliardeninvestitionen für die neue Energiequelle?“, fuhr er fort. „Wir müssten Antiteilchenbeschleuniger bauen, neue Stoffe entwickeln, die den immensen Druck aushalten, neue Reaktoren… Außerdem würde es am Hawkings Ruhm kratzen, wenn seine Erfindung längst überholt wäre.“
Dann schwiegen die beiden. Erik drehte die Pedalen des Fahrrads und brachte die Glühbirne zu einem unregelmäßigen, flimmernden Leuchten.
„Dabei lässt sich mit Teilchen-Antiteilchen-Kollisionen die Welt verändern!“, fing Einstein wieder an. Seine Augen glänzten vor Ehrgeiz und wissenschaftlicher Begeisterung, wie es Erik von früher kannte. “Stell dir bloß diese ungeheure Energie vor, die bei den Kollisionen entsteht! Reine Energie, tausendfach mächtiger als die der Atome!“
Er machte eine Pause, dann erzählte er seinem Freund das, was er ihm schon lange erzählen wollte.
„Erik, ich habe neulich meine Berechnungen überflogen und es fiel mir etwas auf. Ich überprüfte es und meine Vermutung bestätigte sich.“, fing Einstein wieder an.
In Erwartung einer Sensation hielt Erik inne und es wurde wieder dunkel im Zimmer.
Einstein schaute ihm lange ins Gesicht, dann sagte er es ihm endlich:
„Mit der entstehenden Energie lässt sich das Raumzeitkontinuum verbiegen!“
Einstein sprang wieder von seinem Stuhl auf und fuhr, heftig gestikulierend, fort.
„Mit einem Antrieb, in dem Teilchen und Antiteilchen gezielt koordiniert kollidieren, lässt sich die Raumzeit wie ein Blatt zusammenfalten, es entstehen millimeterlange Tunnel zwischen Orten, die Milliarden Lichtjahre voneinander entfernt sind! Wir können ans andere ende des Universums reisen, Erik!“
Erik fiel von seinem Sitz, doch Einstein fing ihn auf.
„Glaubst du es mir, Erik?“
„Ja, dir traue ich alles zu. Wir müssen dein Projekt ermöglichen. Aber wie?“
„Die Antwort auf diese Frage weiß ich leider auch nicht“, antwortete Einstein. Es entstand eine längere Pause. Beide grübelten nach.
„Weißt du, Albert, ich glaube, es wäre viel leichter, wenn die Atombombe von Hawking nie erfunden wäre und die Russen den Krieg gewonnen hätten.“, brach Erik die Stille, „ USA standen doch so kurz vor der Kapitulation, die Russen waren vor Washington. Wir würden kapitulieren, Kommunisten werden, und du, ein Ehrenparteimitglied, würdest mit dem Antiteilchenreaktor der Held der Nation werden.“
Beide mussten lachen über diese Vison.
„Vielleicht wäre es leichter, vielleicht nicht. Wir würden unter der gleichen Diktatur stehen, wie jetzt, Erik.“, sagte Einstein. „Aber wenn ich genau darüber nachdenke, glaube ich, dass es optimal wäre, wenn jemand die Relativitätstheorie und somit die Bombe noch vor dem dritten Weltkrieg erfunden hätte.“
„Meinst du, wir würden die Russen sofort platt machen und den ganzen Krieg ersparen, der zur totalen Zerstörung der Wirtschaft und der Diktatur führte?“
„Nein, ich denke, beide Mächte würden sich bis auf die Zähne mit Atombomben voll packen und dann Angst haben, den jeweils anderen zu attackieren. Genauso, wie es jetzt mit China der Fall ist.“
„Oder es würde zur vollständigen atomaren Vernichtung der Menschheit kommen“
„Oder ja.“
„Weißt du was, ich habe eine Idee, wie du deine Ideen verwirklichen kannst.“, sagte Erik nach einer Pause.
„Und wie?“, fragte Albert, jedoch ohne größere Hoffnung
„Wir wenden uns an die Konkurrenz!“
„An die Chinesen?!“
„Ja, warum nicht? USA hat sie unterschätzt, deshalb nicht angegriffen, und nun, zu ihrem leid, wird China mit deiner Hilfe sie meilenweit überholen!“
Einstein dachte über Eriks Vorschlag nach. In den USA würde er nie die Chance haben seine Theorien in der Praxis zu beweisen. Die Welt würde so bleiben, wie sie ist, arm, hungrig, ungerecht, beherrscht von den wenigen Reichen an der Spitze. Das Reisen in entfernte Galaxien, das Begreifen des Universums, unendliche Möglichkeiten, Wissen, Freiheit, Rechte…
Ein Jahr später. Peking.
„Herr Einstein, ihre Forschungsergebnisse sind einfach erstaunlich.“, sagte Chinas erster Parteivorsitzender in erstaunlich gutem Englisch. Er saß Einstein gegenüber, am anderen Ende des langen Konferenztisches, an dem die Elite der chinesischen Militärs und Physiker sich versammelt hatte. „Sie dürfen mit dem Bau des Reaktors beginnen. Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.“
Einstein bedankte sich. Dann wandte sich der Parteichef auf chinesisch an den Sprecher der Wissenschaftler.
„Haben Sie die Technologie genau verstanden?“
„Ja, ich versichere Ihnen, die Bombe wird funktionieren. Sie wird in etwa einem Jahr fertig sein.“
„Sind Sie sicher, dass Sie es auch ohne seine Hilfe schaffen? Ich weiß, er würde gegen eine militärische Verwendung sein, aber es gibt Mittel einen Mann zu zwingen…“
„Wir schaffen es, ich bin mir ganz sicher.“
„Dann ist er überflüssig.“
In einer Minute gab es keinen Einstein mehr. In einem Jahr gab es kein Amerika mehr, denn
durch eine über Kalifornien abgeworfene Bombe, in der ein spezieller Antiteilchenreaktor nach Einsteins Theorie eingebaut war, wurden etwa zehn hoch fünfunddreißig Sauerstoffatome zu Antiatomen umgepolt, was sofort zu einer Kollision mit genauso vielen Atomen führte, die eine Energie freisetze, die etwa einer Milliarde Wasserstoffbomben entsprach. Leider unterschätzten die chinesischen Wissenschaftler die Nachwirkungen der Bombe. Das Wasser des Pazifischen Ozeans verdampfte in wenigen Sekunden. Die Explosion riss einen mehrere hundert Kilometer tiefen Krater in die Erdkruste, und das mehrere tausend Grad heiße Erdinnere ergoss sich und überflutete die Oberfläche der Erde, deren Atmosphäre sich bereits wenige Sekunden nach der Explosion so erhitzt hatte, dass jedes Leben auf diesem Planeten aufhörte zu existieren.
Er wollte die Welt verändern. Und er hat es getan.