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- 23.07.2001
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Erika u. Jürgen
Erika und Jürgen
Der Geländewagen mußte auf dem holprigen Schotterweg zeigen, wofür er gebaut war.
Erika Rust stöhnte und verzog unwillig das Gesicht, als das Schlagloch, das sie gerade genommen hatten, doch tiefer war als vermutet.
„Was soll das hier werden? Du hast gesagt, daß wir uns ein gemütliches Wochenendhaus ansehen wollen,“ wetterte sie, wobei durch die Erschütterungen des Wagens ihre Worte nur verzerrt kamen.
„Hätte ich gewußt, daß dies zu einer Expedition ausartet, wäre ich zu Hause geblieben.“
Mit einiger Mühe angelte sie eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche und versuchte, sich eine anzuzünden.
Als es ihr wegen der Ruckelei nicht gelang, stopfte sie die Zigaretten mit einem Fluch in die Tasche zurück und sah ihren Mann verächtlich von der Seite an.
Jürgen Rust hatte den Wagen bereits vor einer Viertelstunde von der Hauptstraße in den Wald gelenkt. Von da an wurde der Weg immer schlechter. Er hatte alle Hände voll zu tun, die Schlaglöcher zu umfahren und querliegenden Ästen auszuweichen.
„Ich habe dir nie gesagt, daß wir uns eine Villa anschauen. So ein Wochenendhaus liegt in der Natur und nicht in der Stadt. Außerdem sind wir ja nicht gezwungen, es zu kaufen. Du hast mir versprochen, es dir anzusehen, und deshalb verstehe ich nicht, warum du dich jetzt beklagst.“
Erika sagte nichts weiter. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hielt sich mit beiden Händen fest. Ihre Laune war auf dem Nullpunkt, und das ließ sie ihren Mann auch deutlich spüren.
Sie waren fünf Jahre verheiratet, davon die ersten drei auch recht glücklich. Anfangs sah er über ihre extravaganten Launen hinweg, doch von Jahr zu Jahr fiel es ihm immer schwerer, eine Harmonie aufrechtzuerhalten, die es im Grunde genommen längst nicht mehr gab. Inzwischen hatte er sich öfter die Frage gestellt, ob es nur Abneigung war, die er ihr gegenüber empfand oder bereits Haß.
Nach einer Weile lichtete sich der Wald, und als sie eine Biegung genommen hatten, öffnete sich vor ihnen eine Freifläche mit einer Gartenanlage von der Größe eines Fußballplatzes. Inmitten dieser Anlage stand ein Holzhaus, das mit einer bescheidenen Hütte so viel gemein hatte wie die Residenz eines Multimillionärs mit einem Einfamilienhaus.
Jürgen brachte den Wagen vor der Einfahrt zum Stehen und ließ diesen Eindruck auf sich wirken. Die Strahlen der Vormittagssonne, die durch die Bäume schienen, gaben dem Bild eine fast märchenhafte Atmosphäre.
„Gar nicht schlecht,“ meinte er.
Erikas Laune hatte sich nicht geändert. „Es ist mir völlig egal, wie groß das Haus ist. Wir sind hier mitten in der Wildnis und kein vernünftiger Mensch gräbt sich hier an den Wochenenden ein. Ich werde es jedenfalls auf keinen Fall tun. Also wende den Wagen und fahre zurück.“
Erika schaute ihren Mann mit unverhohlenem Zorn an.
„Nachdem wir nun einmal hier sind, sollten wir uns das Haus auch ansehen. Außerdem sind wir mit dem Besitzer verabredet und können nicht so ohneweiteres gleich wieder fahren.“
Jürgen lenkte den Wagen auf das Anwesen, parkte vor den Stufen zur großen, das ganze Gebäude umfassenden Veranda, stieg aus und öffnete auch die Beifahrertür, als Erika keine Anstalten machte ebenfalls den Wagen zu verlassen. „Nun steig wenigstens aus und tu so, als würdest du dich für das Haus interessieren. Wenn der Eigentümer kommt, sollten wir keinen schlechten Eindruck machen. Wir können ja sagen, daß wir es uns überlegen werden und sind dann spätestens in einer halben Stunde wieder weg.“
Erika würdigte ihren Mann keines Blickes und stieg wortlos aus. Jürgen kannte dieses Verhalten zur Genüge. Wenn sie sich über ihn geärgert hatte, sprach sie oft stundenlang kein Wort mit ihm. Einmal hatte sie es sogar drei Tage lang geschafft.
Er haßte sie dafür.
Sie betrat die Veranda, schlenderte zur Rückseite des Gebäudes, lehnte sich mit verschränkten Armen an die Brüstung und sah über den Hang und über die Baumwipfel hinweg in die Ferne.
Jeder, der sie nicht kannte, wäre überzeugt gewesen, daß sie die Natur und den atemberaubenden Ausblick genoß.
Aber Jürgen kannte sie.
„Ich werde dir für diese Hütte nicht einen Pfennig geben,“ erklärte sie mit ruhiger und kalter Stimme, die keinen Zweifel an ihrer Abneigung aufkommen ließ. „Solltest du also schon irgend etwas unterschrieben haben, dann hast du ein Problem, bei dem ich gerne zusehen würde, wie du da wieder herauskommst.“
Jürgen hatte nur wenig eigenes Vermögen. Er war in Erikas Firma beschäftigt wie ein normaler Angestellter und hatte dabei keinerlei Entscheidungsbefugnis.
Lange Zeit hatte sie ihn in dem Glauben gelassen, daß er eines Tages die Geschäftsführung übernehmen sollte, aber mittlerweile war ihm klar, daß es dazu wohl nie kommen würde.
„Ich habe nichts unterschrieben und wenn hier Irgendjemand ein Problem hat, dann du.“ gab er in seltsam ruhigem Ton zurück.
Sie wandte sich um und sah Jürgen aus schmalen Augen direkt an. „Da hast du ausnahmsweise einmal Recht. Mein größtes Problem bist du.“
„Das stimmt,“ sagte er, und ihr erschrockener Ausruf, als er die Waffe hervorzog, wurde von dem gewaltigen Knall, dessen Echo viele Male über den Wald zog, mit fortgerissen.
Einen Moment lang stand sie da und starrte ihn stumm, mit fassungslos geweiteten Augen an, während auf ihrer Brust der rote Fleck langsam größer wurde.
Dann gaben ihre Beine nach, und wie in Zeitlupe sackte sie zu Boden.
Danach war Stille.
Jürgen zitterte am ganzen Körper und sah auf seine Frau herab, die mit offenen Augen dalag und ihn immer noch kalt anzusehen schien.
Er wußte, daß in diesen Augen kein Leben mehr war, aber sie waren trotzdem noch in der Lage, ihn zu lähmen. Und mit jeder Sekunde, die er dastand, nahm ihn die Angst vor dem, was er gerade getan hatte, immer mehr gefangen.
Als er dies alles geplant hatte, war er noch so sicher gewesen.
Er hatte das abgelegene Haus ausgesucht, die Waffe besorgt und alles so arrangiert, daß niemand sie zusammen wegfahren sehen konnte.
Doch in dem Moment, in dem nichts mehr rückgängig zu machen war, kam der Zweifel und mit ihm diese wahnsinnige Angst.
Er brauchte eine Weile, bis er sich wieder zu logischem Denken zwingen konnte.
Die Tat konnte er nicht rückgängig machen und mußte deshalb seinen Plan konsequent weiterverfolgen.
Jürgen Rust lief zum Wagen zurück und holte die dicke Kunststoffplane aus dem Laderaum.
Während er die Tote in die Plane wickelte, vermied er es, sie direkt anzusehen. Er konnte sich auch nicht dazu überwinden, ihr die Augen zu schließen. Er wußte, daß es besser war, wenn er es täte, aber er schaffte es nicht. Er hatte Angst vor der Berührung ihrer Haut. Er fürchtete, dabei doch noch Leben zu spüren, das es nicht mehr geben durfte.
Allein die körperliche Nähe, als er sie zum Wagen zurücktrug und hinter die Sitzbank legte, ließ ihn erneut in Panik verfallen und sein Herz so schnell rasen, daß er glaubte, es müsse jeden Moment aussetzen. Sein Magen rebellierte und für einen Moment dachte er sich übergeben zu müssen.
Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann wendete er den Wagen und fuhr den Weg, den sie gekommen waren wieder ein Stück zurück, bog in einen anderen ein und fuhr tiefer in den Wald.
Er war erst vor wenigen Tagen hier gewesen. Obwohl er sich dabei zweimal verfahren hatte, wußte er, daß er nicht länger als eine Viertelstunde gebraucht hatte.
Jetzt schien die Fahrt kein Ende zu nehmen.
Ständig sah er in den Rückspiegel und hielt den hinteren Teil des Wagens unter Beobachtung, als ob von dort irgendeine Gefahr drohen würde. Als er einmal ein tiefes Schlagloch durchfuhr und gleich danach ein Ast unter lautem Krachen brach, nahm er im Rückspiegel hinter den Sitzen eine kurze Bewegung wahr.
Er reagierte automatisch.
Mit aller Gewalt rammte er das Bremspedal gegen den Boden, riß die Tür auf, stürzte ins Freie und stolperte ein paar Schritte vom Wagen fort.
Am ganzen Körper zitternd blieb er am Rand des Weges an einen Baum gelehnt stehen und starrte den Wagen an.
Er brauchte einige Minuten, um seine Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen und an das Fahrzeug heranzutreten.
Das Bündel im Fond lag so, wie er es hineingelegt hatte. Er stand da und beobachtete es genau. Dann glaubte er doch für einen entsetzlichen Moment, Atembewegungen wahrzunehmen. Sofort wurde sein Brustkorb wieder von unsichtbaren Kräften zusammengepreßt. Wieder sprang er einen Satz zurück und erkannte gleich darauf den Grund: Sonnenlicht und die leichten Bewegungen in den Baumwipfeln hatten ein Schattenspiel verursacht.
Es kostete Überwindung, sich wieder hinter das Steuer zu setzen, aber ihm blieb keine andere Wahl.
Nach einer Weile erreichte er ein offenes, nur von Sträuchern und kleinen Bäumen bestandenes Gelände.
Nahe einer Felswand stellte er den Wagen im Schatten dichter Sträucher, vor Blicken geschützt, ab.
Wenige Schritte weiter, halb verdeckt von einem Haselnußstrauch, war eine Stahltür von dicken Trägern umrahmt in die Felswand eingelassen.
Rost und Bewuchs zeigten, daß die Tür schon viele Jahre hier sein mußte.
Lediglich das saubere Schloß an der alten Kette bewies, daß noch vor kurzem Jemand die Höhle betreten haben mußte. Jürgen Rust hatte vor Tagen schon das Schloß aufgebrochen und durch ein Neues ersetzt.
Er hatte diesen stillgelegten Schacht in alten Karten entdeckt und herausgefunden, daß er durch gesetzliche Maßnahmen gesichert, auch nicht wieder in Betrieb genommen werden konnte.
Unter einem Vorwand hatte er bei der Forstbehörde erfahren, daß hier nur an jedem dritten Tag ein Beamter das Gebiet kontrollierte, und das auch nur dann, wenn der übrige Dienst dies zuließ. Er hatte also noch mindestens einen Tag Zeit: Mehr als er brauchte.
Rust zog die schwere Tür auf und sicherte sie mit einem Stein.
Dann ging er zurück zum Auto, lud sich die Tote auf die Schultern und ging wieder zum Eingang der Höhle.
Der Stein hatte sich gelöst. Die Tür war zugeschlagen.
Mit dem Fuß schob er sie wieder auf, den Stein erneut vor und schleppte sich mit seiner Last in den Stollen.
Die ersten Meter erhellte noch das Tageslicht, doch schon bald wurde es dunkler. Das fahle Licht der Taschenlampe vermochte die Schwärze nur unzureichend zu verdrängen und so mußte er sehr darauf achten, wohin er seine Schritte setzte. Es kostete ihn fast übergroße Überwindung, seine tote Frau zu tragen. Stolpern und mit ihr zu stürzen würde seine blanken Nerven wohl zum Reißen bringen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Nur der Gedanke daran, daß er alles in wenigen Minuten hinter sich haben würde, hielt ihn aufrecht und ließ ihn vorsichtig weiter in die Dunkelheit gehen. Bald machte der Stollen einen Knick. Nicht weit danach war kein Weiterkommen mehr. Die Balken und Stützen hatten dem jahrelangen Druck des Gesteins nicht mehr standhalten können, hatten nachgegeben und die Decke einstürzen lassen.
Vom Eingang her hörte Rust ein leises Knarren und er wußte, daß sich die Tür wieder geschlossen hatte. Wie zur Bestätigung wurde der Stollen im selben Moment noch dunkler. Jürgen Rust legte seine Last vorsichtig an der Geröllhalde der eingestürzten Decke ab, trat zurück und ließ den Strahl der Lampe über das Bündel gleiten.
Vor dem, was jetzt zu tun war, graute ihm und er zögerte lange.
Um beide Hände frei zu haben, legte er die Lampe etwas entfernt in ein Balkenkreuz, so daß der Strahl einen größeren Bereich erhellte.
Dann beugte er sich über seine tote Frau, atmete tief durch und schlug die Plane auseinander.
Er vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen, denn er wußte, sie hatte die Augen noch geöffnet und er glaubte, den anklagenden, haßerfüllten Blick beinahe spüren zu können.
Wenn er ihr alle persönlichen Dinge nahm, so hoffte er, würde eine Identifizierung schwieriger sein, falls sie vorzeitig gefunden würde. Er versuchte, schnell zu arbeiten. Zunächst streifte er mit zitternden Händen den Rock ab, bedeckte damit ihr Gesicht und wurde merklich ruhiger. Sie konnte ihn jetzt nicht mehr ansehen.
Alle weiteren Kleidungsstücke legte er auf die ausgebreitete Plane. Als letztes mußte er ihr den Schmuck abnehmen. Die Kette am Handgelenk ließ sich leicht lösen. Nur noch die Ringe. Einen Ehering trug sie schon lange nicht mehr. Den Ring vom kleinen Finger der linken Hand streifte er ab. Jedesmal, wenn er mit ihrer Haut direkt in Berührung kam, überzog sich sein Körper mit einer Gänsehaut. Er begann zu frösteln und mußte sich zwingen, weiterzumachen. Dann hielt er ihre Rechte am Handgelenk, wobei sich die Haut trotz der Knöchel merkwürdig weich, fast schwammig anfühlte. Er umfaßte den schweren Diamantring, von dem er wußte, daß er recht fest saß, und zog.
Im selben Moment umschloß ihre Hand die Seine. Mit einem Schrei, von purem Grauen hervorgestoßen, katapultierte er sich zurück, geriet ins Straucheln, sprang wieder auf die Beine und blieb in einigen Metern Entfernung, am ganzen Körper zitternd, stehen. Er starrte auf seine tote Frau, die nun fast nackt auf dem staubigen Felsboden lag und wartete auf eine weitere Bewegung, darauf, daß sich die Brust durch Atmung hob oder die Leiche sich ganz aufrichtete, und ihn wieder ansehen würde.
Der Tod ist endgültig. Davon war er immer überzeugt.
Hatte er sich geirrt?
Gab es mehr, als er sich in seiner Arroganz immer hatte vorstellen wollen?
Es dauerte wohl Minuten, in denen er bewegungslos dastand und an der Schwelle zum Wahnsinn wankte, doch er schaffte es noch einmal, die Logik siegen zu lassen und sich zu überzeugen, daß die Bewegung ihrer Hand nur eine Folge seiner Bemühungen war, den Ring vom Finger zu streifen.
Er mußte so schnell wie möglich aus der Höhle raus und so begann er, unter Aufbietung aller Willenskraft, seine Arbeit fortzusetzen.
Den Schmuck verstaute er in seinen Taschen, warf als letztes den Rock zu den anderen Sachen, raffte das Bündel zusammen und lief auf den Ausgang zu.
Er hoffte, daß man sie, wenn überhaupt erst nach Jahren finden würde.
Bei jedem Schritt, mit dem er sich von der Toten entfernte, begleitete ihn das Gefühl, von zwei haßerfüllten Augen beobachtet zu werden.
Als er die Biegung erreicht hatte, war er froh, den Eingang zu sehen.
Die Tür war tatsächlich wieder zugefallen.
Aber da sie nicht vollkommen mit dem Rahmen abschloß, drangen die kräftigen Sonnenstrahlen ringsherum durch die Spalten und ließen sie wie ein mystisches Tor in eine fremde Dimension erstrahlen.
Mit der Schulter drückte er die schwere Tür auf, trug die Sachen ins Freie und verstaute alles im Wagen.
Bald hatte er es geschafft. Er mußte nur noch einmal kurz in die Höhle zurück.
Aus dem Kofferraum holte er zwei rote Zylinder, die wie große Zigarren aussahen, eine Rolle Kabel und den kleinen Schaltkasten mit der kräftigen Batterie, den er sich selbst gebastelt hatte um die Sprengladung zünden zu können.
Den hinteren Bereich des Stollens würde er zum Einsturz bringen und damit seine Tat für lange Zeit verbergen.
Er überwand sich erneut, stellte den Schaltkasten für die Zündung in sicherer Entfernung vor dem Eingang ab und lief mit der Taschenlampe in der einen und Sprengstoff und Kabel in der anderen Hand zurück in den Stollen.
Hinter ihm schlug die Tür wieder zu und er stand im Dunkeln. Im Schein der Lampe drang er weiter vor. Je näher er seiner toten Frau kam, um so langsamer wurden seine Schritte.
Alles war noch so, wie er es gerade verlassen hatte.
Die beiden Sprengzylinder positionierte er so, daß sie zwei tragende Balken wegreißen mußten.
Er verband die Zünder mit dem Kabel und rollte es rückwärts gehend aus.
Der aufgewirbelte Staub drang ihm in die Atemwege und reizte zum Husten.
Am Ausgang angelangt, warf er sich mit dem Rücken gegen die Tür.
Sand und kleine Steine regneten von der Decke auf ihn herab und ein heftiger Schmerz zog in seine Schulter.
Die Tür blieb verschlossen.
Sonnenstrahlen, die durch die Spalte drangen, erzeugten im aufgewirbelten Staub einen Wechsel von Licht und Schatten, der in ihm nun die mühsam unterdrückte Panik wieder aufkommen ließ.
Mit beiden Händen rüttelte er an der Verriegelung, mit dem Erfolg, daß weitere Steine auf ihn herabregneten, ohne jedoch die Tür auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Sein Herz hämmerte, die Luft war mit dichtem Staub erfüllt, das Atmen fiel ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer.
Jürgen Rust bekam Platzangst.
Er drängte sein Gesicht an den größten Spalt und sog gierig frische Luft in seine Lungen. Gleichzeitig versuchte er, durch die schmale Fuge zu erkennen, was die Tür blockierte, aber der Bereich, den er einsehen konnte, war nicht groß genug. Er zwängte die Finger der linken Hand hindurch, schaffte es auch, die Hand ganz ins Freie zu schieben und ertastete den kleinen Bereich auf der anderen Seite. Mit den Fingern fegte er hin und her durch den Sand, ohne ein Hindernis zu ertasten.
Als er die Hand wieder zurückzog riß er sich an einem rostigen Blech eine blutige Schramme, doch mittlerweile waren seine Nerven zu angespannt, als daß er davon etwas spürte.
Ein Geräusch aus der Tiefe des Stollens und eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ ihn herumfahren und mit geweiteten Augen in die Dunkelheit spähen.
Sekundenlang stand er da und beobachtete den Bereich des Ganges, der in die Biegung führte, wo seine Frau lag.
Waren das die Umrisse einer Gestalt, die von Staubnebel umhüllt in der Dunkelheit auftauchte?
Er hätte es wissen müssen.
Erika hatte schon zu Lebzeiten nichts einfach so hingenommen.
Mit zitternden Fingern tastete er nach seiner Taschenlampe auf dem Boden. In dem Moment, wo er nach unten sah, nahm er die Bewegung erneut war. Von seinen Beinen, langsam über den ganzen Körper, bis in die letzten Fasern breitete sich ein Beben aus, das ihm vollends die Kontrolle über sein Denken nahm.
Schrecken war der falsche Ausdruck für das, was er in diesem Augenblick empfand. Es war das Grauen, das über ihn hereinbrach, wie eine gigantische Woge, der sich kein lebendes Wesen je entgegenzustellen vermochte. Ihm glitt die Taschenlampe wieder aus der Hand, er riß die Hände vor die Augen, rutschte langsam mit dem Rücken an der Tür herunter und erwartete leise wimmernd die Berührung. „Bleib - wo - du - bist.“ stammelte er immer wieder leise vor sich hin. „Laß mich in Frieden. Es ist doch alles deine Schuld. Du bist tot.“
Minutenlang kauerte er so leise wimmernd auf dem Boden. Jedes Rascheln, jede Luftbewegung ließ sein Herz für einen Schlag aussetzen, bis...
Bis irgendwann, langsam, ganz langsam, das Zittern nachließ.
Zögernd nahm er die Hände vom Gesicht und wagte, in die Dunkelheit zu spähen.
Die Höhle hatte sich nicht verändert. Nur der Staub hatte sich etwas gelegt. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Spalte drangen, spendeten mehr Licht.
Er ließ die gegenüberliegende Wand nicht aus den Augen und richtete sich langsam wieder auf.
Der grauenhafte Schatten vollführte bizarr und verzerrt die gleichen Bewegungen. Schlagartig löste sich seine Verkrampfung, als er erkannte, daß es sein Eigener war, der ihn so entsetzt hatte.
Ihm war klar, daß er jetzt nur zwei Möglichkeiten hatte.
Die eine war, daß er es schaffte, irgendwie aus der Höhle zu kommen. Er mußte das Hindernis beseitigen, das die Tür blockierte.
Für einen Moment keimte Hoffnung auf bei dem Gedanken, eventuell mit den Batterien der Taschenlampe eine Sprengladung zünden zu können. Doch als würde das Schicksal ihn verhöhnen, wurde im selben Moment das Licht schwächer.
An die zweite Möglichkeit mochte er nicht denken. Sie bedeutete, daß in ein oder zwei Tagen der Forstaufseher aufmerksam würde. Dann wartete auf ihn das Gefängnis, falls er in der Zeit dem Wahnsinn widerstehen konnte,...und da war er im Moment nicht sicher.
Das Tal, das Klaus Kalitz als Aufseher zu kontrollieren hatte, endete im Osten und Westen jeweils an den steil aufragenden Felswänden. Die Grenze im Norden bildete ein Dorf und im Süden die breite Durchgangsstraße.
Jeden dritten Tag machte er seine Kontrolle im Revier und führte seinen Kampf gegen illegales Müllentsorgen und Vandalismus, die Flora und Fauna sehr zu schaffen machten.
Die Strecke, die er abging, war immer gleich. Er begann an der Durchgangsstraße und beging die östliche Seite, machte am Dorf Rast und kam auf der westlichen Seite des Tales wieder zurück..
Der Geländewagen war ihm nicht sofort aufgefallen, weil er gut versteckt in der Deckung von Büschen abgestellt war. Erst auf dem Rückweg kam er nahe an ihm vorbei und hatte ihn so entdeckt.
Das Fahrzeug mußte schon eine Weile dort gestanden haben. An den Spiegeln hatten Spinnen ihre Netze gespannt und daß das Gras um die Räder herum war aufgerichtet. Ein Fahrzeug, das man erst vor kurzem bewegt hatte, hätte eine Spur von heruntergefahrenem Gras hinterlassen.
Aber das Merkwürdigste war, daß die Schlüssel steckten und die Türen nicht verschlossen waren. Klaus Kalitz durchsuchte das Innere nach Papieren oder anderen Möglichkeiten, den Halter zu identifizieren, ohne Erfolg.
Er vermutete, daß der Wagen wohl gestohlen und von dem Dieb dann hier abgestellt worden war.
Die Zeitungen berichteten oft von Banküberfällen, die mit gestohlenen Autos verübt wurden.
Als ihm das klar wurde, bereute er, das Auto durchsucht zu haben, denn womöglich hatte er dadurch leichtfertig wichtige Spuren vernichtet.
Er nahm sich vor, als erstes nach seiner Rückkehr die Polizei zu informieren, und die Beamten hierher zu führen.
Kalitz umrundete den Wagen in weitem Bogen. Falls irgendwelche Hinweise im Gras lagen, wollte er nicht unbedingt darauf herumtrampeln.
Dabei kam er der Tür zum alten Stollen nahe und hielt inne. Die Verschlußkette war aufgebrochen worden und hing lose über der Verriegelung.
Vor fast zwei Jahren hatte er schon einmal die gleiche Entdeckung gemacht. Damals hatten Jugendliche sich den Stollen für eine Fete ausgesucht.
Und jetzt schon wieder. Erst klaun’ sie im Suff ein Auto, dann fahren sie mit ihren Mädels in die Wildnis, da geht dann die Post ab und er durfte hinterher wieder alles richten.
Er versuchte, die Tür aufzuziehen aber ein Stein hatte sich zwischen der Stahlplatte und einem Stück Fels festgeklemmt. Kalitz schob den Brocken beiseite, trat ein, stolperte in den Schacht hinein und stürzte lang hin. Er war in ein Loch getreten, direkt an der Innenseite des Eingangs. Weitere Löcher waren da und aufgeworfener Sand. An der einen Türseite war der Rahmen fast völlig freigelegt. Ein Dachs oder ein Kaninchen mochte hier gewühlt haben.
Im Schacht war es dunkel, aber das Tageslicht drang ein, und er konnte wenigstens die ersten Meter ganz gut sehen. Ihm fiel auf, daß der übliche Fetendreck fehlte. Daß die plötzlich ordentlich geworden sind, war nicht anzunehmen. Was war also dann hier geschehen? Er ging tiefer hinein und das Licht wurde schwächer. Um nicht wieder zu stolpern, nahm er sein Feuerzeug heraus und versuchte, so den Boden zu beleuchten. Die kleine Flamme zeichnete bizarre Schatten auf die Stollenwände. Nach wenigen Schritten wurde das Feuerzeug bereits so heiß, daß er es für einen Moment wieder löschen mußte. Er dachte daran, kehrt zu machen und der Polizei hier diese Untersuchung zu überlassen. Aber wenn die dann hier geklaute Ware finden, würde man ihn überhaupt nicht mehr hereinlassen. Also überwand seine Neugierde das mulmige Gefühl im Magen und er ging langsam tastend weiter, wobei er immer wieder den Weg mit dem Feuerzeug kurz beleuchtete. Er folgte der Biegung des Schachtes. Hier war es jetzt stockfinster. Jedesmal, wenn er das Feuerzeug zündete und das Tanzen der Flamme die zuckenden Muster auf die Felswände warf, wollte seine Phantasie verrückt spielen. Im Stillen versuchte er, sich davon zu überzeugen, daß er ja schließlich erwachsen sei und sich doch nur Kinder in der Dunkelheit ängstigen würden.
Der Schacht sah aus wie immer. Kein Schmutz. Nichts, was herumlag.
Doch als der die Flamme höher hielt, bemerkte er einige Schritte entfernt an der linken Stollenwand etwas Dunkles.
Um möglichst gute Sicht zu haben, hielt er die Flamme hoch vor sich her und trat an das Bündel heran. Das Feuerzeug wurde zu heiß und er mußte es einen Moment abkühlen lassen. Vor ihm war eine stabile Kunststoffolie, das hatte er noch im letzten Licht sehen können.
Er wartete nur wenige Sekunden. Das Feuerzeug war immer noch entsetzlich heiß, aber die Neugier brachte ihn dazu, es erneut zu zünden. Er kniete sich nieder und zog die Plane zur Seite.
Seine Nerven schienen augenblicklich zu explodieren.
Er verlor das Gleichgewicht. Unfähig, sich sofort wieder aufzurichten stieß er sich ein Stück zurück, kam wieder auf die Beine und stürmte dem Stollenausgang zu. Über seinen Körper hatte er keine Kontrolle, er funktionierte automatisch. Mit vorgehaltenen Händen stieß er im Dunkeln mehrmals gegen die Stollenwände und schürfte sich die Haut auf. Als er das Tageslicht erreicht hatte, stolperte er noch einige Schritte weiter, bis seine Beine ihren Dienst aufgaben und er ins Gras sank, wo er hocken blieb und den Höhleneingang anstarrte. Sein Körper zitterte unkontrolliert, von einer Schwäche gelähmt, die ein Weiterlaufen unmöglich machte. Jeder Atemzug schmerzte in den Lungen und durchlief mit stechender Pein seine Brust.
Nur langsam ersetzte sein Geist die Fantasiebilder, die in der Höhle auf ihn einstürmt waren, durch das, was er tatsächlich gesehen hatte, und das war immer noch mehr, als er verkraften konnte.
Die toten Augen der nackten Frau hatten ihn angesehen.
Der Mann in ihren Armen schien zu schlafen.
Kalitz hatte sich den ersten Arbeitstag nach der Kur angenehmer vorgestellt.
Er würde eine neue beantragen müssen.