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Erinnern und Vergessen
Gedankenverloren schaute er auf das Patientenblatt. Handschriftlich hatte er vermerkt: Möglicherweise Borderline? Es war nicht der ursächliche Grund, weshalb seine Patientin zu ihm in die Behandlung kam, doch hatte sie einen Schlüsselsatz geäussert, der ihm diesen Verdacht zumindest nahelegte. Nur an die Wortwahl der Patientin konnte er sich nicht erinnern, so sehr er sich auch bemühte.
Er erfuhr nicht zum ersten Mal die zeitweise Reduzierung seines Kurzzeitgedächtnis. Aufgetreten war es erstmals kurz nach einem Autounfall. Er vermutete eine mit diesem Ereignis zusammenhängende Stressreaktion, die sich wieder legen würde. Dies umsomehr, da sein Langzeitgedächtnis einwandfrei funktionierte. Dennoch empfand er diesen Konzentrationsmangel als lästig, da seine Merkfähigkeit für die Arbeit enorm wichtig war.
Vor zwei Wochen konsultierte er seinen Hausarzt, Dr. med. Johannes Schreiber, um sich ein Aufbaupräparat verschreiben zu lassen. Dies erhielt er auch umgehend. Sein Hausarzt beharrte jedoch darauf, dass er sich sicherheitshalber noch weiteren fachärztlichen Untersuchungen stelle. So unterwarf er sich einem neurologischen Test und zusätzlichen Untersuchungen, die Ergebnisse würden dann direkt Dr. Schreiber zugestellt. Nach seiner Einschätzung mussten die Untersuchungen negativ verlaufen sein. Trotz seiner dreiundsiebzig Jahren war er körperlich in guter Verfassung. Natürlich brachte das Alter gewisse Bürden mit sich, auch hatte er nicht mehr die Kraft und den Elan eines Jungen, aber fühlte sich durchaus noch fit. Seine Arbeit, die er bis zu seinem Tod beibehalten würde, empfand er denn auch stimulierend.
Er steckte den Schlüssel in die Tür. Am daran angebrachten Metallschild, welches eine matte Stelle aufwies, rieb er mit dem Ärmelstoff kurz. Es war alt, die Jahrzehnte gingen auch daran nicht spurlos vorbei. »Praxis Dr. Friedrich Klaus, Psychoanalytiker«, zeigte es für Besucher an. Er hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, als das Telefon zu klingeln begann.
Er zögerte, nach fünfmaligem Läuten würde sich der Anrufbeantworter einschalten, dann nahm er den Hörer doch ab. Es war sein Hausarzt, der ihm mitteilte, dass die fachärztlichen Untersuchungsergebnisse ihm vorliegen und er ihn erwarte, um diese mit ihm zu besprechen. Dr. Klaus reagierte mit einem Stirnrunzeln, natürlich war es nicht üblich medizinische Untersuchungsergebnisse telefonisch durchzugeben, aber in seinem Fall. Er war gesund. Vielleicht hatten sie eine Belanglosigkeit festgestellt, eine schwache altersbedingte Veränderung im Gewebe, mit der man nun den Aufwand der Untersuchungen rechtfertigte. So fragte er, ob denn ein positives Ergebnis vorliege? Dr. Schreiber äusserte, es sei der Übergang zu einem amorphen Sein, er würde es gerne mit ihm besprechen. Dies war eines dieser Wortspiele, wie sie es sich im Umgang miteinander angewöhnt hatten. Sie pflegten seit Jahrzehnten einen vertraulichen und zugleich sich respektierenden Umgang, doch zuweilen mit sprachlichen Knacknüssen, nicht unähnlich Kōans im Zen-Buddhismus, einander herausfordernd. Er war fünf Jahre älter als Dr. Schreiber. Es verband sie nicht nur die gleiche Generation, sondern sie genossen in der Jugend auch eine vergleichbar humanistische Bildung. Den Gesprächstermin vereinbarten sie auf den nächsten Tag.
Amorphes Sein, dieser Ausdruck beschäftigte ihn. Natürlich verstand er den Gehalt des griechischen Wortes amorph, doch in einem medizinischen Zusammenhang fiel ihm nichts Naheliegendes ein. In der Medizin stand es in Verbindung mit In-vitro-Untersuchungen. Es wäre vermutlich zu simpel hier die Antwort zu suchen, wie er Dr. Schreiber kannte. Er erinnerte sich, dass in der Physik und der Chemie amorphes Material ein Stoff ist, bei dem die Atome keine geordneten Strukturen, sondern ein unregelmässiges Muster bilden und lediglich über Nahordnung, nicht aber Fernordnung verfügen. Auf dieser Grundlage kam er auch nach komplizierten Abwägungen nicht weiter.
Die Lösung musste einfach, aber gerade dadurch nicht offensichtlich sein, vielleicht mehr ein symbolischer Gehalt. Im Griechischen bedeutete amorph Gestaltlos. Nicht zu verwechseln mit Thanatos, dem Tod. In der Liturgie bezeichnet man Wasser als das Gestaltlose, Amorphe, das Element des fliessenden Formenwechsels. Durchgang und Übergang aus einer Gestalt in die andere. Es zieht das in ihm Untertauchende ins Chaotische hinab, um es fähig zu machen zu neuer Schöpfung. Meinte Dr. Schreiber den Alterungsprozess, der in dieser Phase des Lebens natürlicherweise einige Umbrüche mit sich brachte? Dass es keinen Jungbrunnen gab, aus den man trinken konnte, wusste er selbst. Der Zellabbau im Körper ist über das ganze Leben gegeben, in diesem Stadium einfach kumuliert und auch äusserlich sichtbar. Wenn es dies ist, wäre es banal am Aufwand gemessen, den er mit den medizinischen Abklärungen hatte.
In seinen Erinnerungen suchte er nach verwandten Gebieten, die im Zusammenhang zu Dr. Schreibers Worte stehen könnten. In seinem eigenen Fachbereich der Psychologie, auch bei andern Schulen und Richtungen, hat der Begriff amorph allenfalls sekundäre Bedeutung, um etwas Gestaltloses zu umschreiben. Die Ericsson Association in den USA hatte den Begriff amorph einmal im Zusammenhang mit Burn-out für eine Publikation heranzogen, ohne dass sich dies etablieren konnte. Auch lag bei ihm ja kein entsprechendes Symptom vor, wohl ein Konzentrationsmangel, dem aber eine Stressreaktion zugrunde lag, nicht mehr.
Er erinnerte sich, in der Literatur, bei einer Rezension des Buches »The Picture of Dorian Gray«, dass das Wort amorph treffend umschreibend herangezogen worden war. Da machte es Sinn, die Verwandlung im Spiegelbild bezeichnend. Ferner hatte man auch die Sprache der frühen Prosa von Thomas Bernhard mit fliessend-amorph bezeichnet. In der Folge war der Begriff in Literaturkritiken manchmal auch auf andere Autoren und deren Werke angewandt worden. Doch konkret liesse sich damit nichts ableiten, was den Worten von Dr. Schreiber nahe kam.
Es musste die Drohung des Altersabbaus sein, welcher ihm Dr. Schreiber orakelhaft prophezeite. Dem liesse sich sprachlich entgegnen. Der Geist war doch in nicht unwesentlichen Teilen der Steuermann über den Körper.
Dr. Klaus hatte eine unruhige Nacht, da die gefundene Antwort ihn selbst noch nicht befriedigte. Mit starkem Kaffe verscheuchte er seine Müdigkeit, bevor er sich zu dem Gespräch mit Dr. Schreiber begab.
Dr. Schreiber sprach mit ihm unumwunden und offen über die Diagnose. Es handelte sich um eine bis jetzt leichte Durchblutungsstörung des Gehirns. Die Folge ahnte Dr. Klaus, noch bevor Dr. Schreiber es aussprach, das Symptom war ihm bekannt. Warum hatte er nicht selbst daran gedacht, es nicht zugelassen diese Erwägung zu ziehen. Es war das Frühstadium einer Demenz.
Der Arzt sprach über die begrenzten Möglichkeiten. Eine Heilung war nicht möglich, aber es gab Medikamente, welche die Entwicklung durchaus verzögern. Alternativ würde auch Ginkgo oder Knoblauch verwendet. Er machte jedoch den Vorbehalt dazu, dass für diese Mittel keine wissenschaftlich gesicherten Ergebnisse vorliegen.
Dr. Klaus war sich der momentanen Unfähigkeit bewusst, einen klaren Gedanken zu fassen und die Diagnose akzeptieren zu können. Der Schock blockierte ihn, da er nicht mit einer ernsthaften Erkrankung rechnete. Er fühlte sich nicht in der Lage, das Gespräch derzeit weiterzuführen.
Wellenartig kamen ihm den Tag über Gedanken auf, dass er unfähig sein würde den Beruf weiter auszuüben. Ihm, dem das Denken und die Analyse seine wichtigsten Instrumente waren. Hätte er an einen Gott geglaubt, müsste er ihn anklagend fragen, wieso dieser ihm gerade solches antun konnte. Es fühlte sich an, als ob er lebendig begraben würde, Schaufel um Schaufel von Erde, die sein Bewusstsein verschüttet.
Erst nach zwei Tagen fand er die Kraft, seiner deprimierten Stimmung entgegenzutreten und seine Situation zu analysieren. In einem kritischen Dialog mit sich selbst fasste er den Entschluss, er würde kämpfen. Den Begriff Heilung, wenn er von Erwartungen völliger Gesundheit und Abwesenheit von Krankheit getragen war, fand er seit Langem schon sehr suspekt. Dies hatte er seinen Patienten gegenüber auch stets vertreten. Es galt das Bestmögliche auszuschöpfen, das Unabänderliche aber akzeptieren zu lernen, um neue Lebensqualität zu gewinnen.
In seinen Gesprächen mit den Patienten würde er, um nichts Wesentliches zu vergessen, vermehrt stichwortartige Notizen vornehmen. Zudem beabsichtigte er die Zahl seiner Patienten zunehmend einzuschränken, um mehr Zeit für sich zu gewinnen. Dies würde ihm erlauben, das Buch über die Erkenntnisse in seiner Arbeit, welches er im hohen Alter zu schreiben geplant hatte, jetzt in Angriff zu nehmen. Artikel hatte er ab und zu in Fachzeitschriften publiziert, doch dieses Werk sollte umfassend sein. Mit dieser Selbstmotivation sah er der Zukunft wieder nüchtern entgegen.
Der neuerliche Besuch bei seinem Hausarzt, anlässlich dem sie die medikamentöse Behandlung besprachen, verlief dann auf einer realistischen Ebene aber entspannt. Er war wieder sich selbst. Dr. Schreiber erwähnte nun, was er mit seiner geheimnisvollen Umschreibung am Telefon meinte. Einst war einer seiner Patienten in Begleitung von dessen Tochter, einer Biologin, erschienen. Der Patient hatte Demenz in einem fortgeschrittenen Stadium. Seine Tochter schilderte, die Wesensart ihres Vaters erschiene ihr wie ein amorphes Sein, die eine neue Gestalt angenommen habe.
Für Dr. Klaus war das Wortspiel nun sehr wohl verständlich. «Ich werde die Zeit nutzen. Wenn ein amorphes Sein dann von mir Besitz ergreift, wird mein Lebenswerk vollendet sein.»