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Erinnerung
Langsam richtete sich Frederik auf und sah sich um. Seine Beine schmerzten. Er lag in einem weißen Bett. Über ihm war eine Vorrichtung, die seine Beine hielt. Er konnte sie nicht bewegen. Er spürte nur den Schmerz, als er langsam seinen Kopf drehte und neben seinem Bett ein weiteres sah. Ich bin in einem Krankenhaus, dachte er sich und versuchte, eine bequemere Haltung einzunehmen. Aber wieso? Frederik konnte sich nicht erinnern. Da war der Abend mit Marie. Das wusste er noch. Aber dann?
Rechts von sich entdeckte Frederik ein Fenster. Zwar waren die Vorhänge zugezogen, aber dennoch konnte er den einfallenden Lichtschein sehen.
Frederiks Arme, mit denen er seinen Oberkörper abstützte knickten zur Seite. Sie waren zu schwach. Er schrie kurz auf, als sein Rücken auf die Arme fiel. Dann blieb er liegen und starrte an die weiße Decke. In dem Bett nebenan richtet sich jemand auf. Frederik versucht, den Kopf zur Seite zu drehen. Der Bettnachbar schien nicht verletzt zu sein, so viel konnte Frederik erkennen.
„Hallo. Auch aufgewacht?“
„Was ist passiert?“, fragte Frederik mehr sich selbst als den Fremden.
„Ich weiß nicht, aber was du gemacht hast, muss ziemlich übel gewesen sein.“
„Wieso?“
„Ich bin hier Dauerpatient. Habe Krebs im Endstadium. Darum habe ich hier auch schon viele rein und raus gehen sehen.“ Erneut versuchte Frederik sich aufzurichten, doch seine Arme waren zu schwach.
„Ich würde meine Kraft schonen. So wie die Ärzte herumgeflucht haben, musst du Glück gehabt haben. Viel Glück. Und wenn ich mir dich so ansehe...“
Nach einer kurzen Pause sagte Frederik: „Es tut mir Leid um Sie. Ich weiß wie schlimm Krebs ist. Ich habe meine Mutter daran verloren...“
„Mit dir möchte ich nicht tauschen. Zwei gebrochene Beine, einen schweren Schädel-Basis-Bruch… Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren es bis jetzt vier Operationen für dich. Dass du deine Arme noch bewegen kannst, nennen die Ärzte ein Wunder“
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern.“
„Ich kann dir da nicht helfen.“
„Wie lange bin ich schon hier?“
„Drei Wochen, glaub ich. Hier drinnen verliert man das Zeitgefühl. Und jetzt solltest du besser wieder schlafen. Ach, und danke Gott. So was macht nicht jeder mit.“
Der Mann stand auf.
„Wie heißen Sie?“, fragte Frederik.
„Nenn mich einfach Paul. Ich bin der einzige hier mit dem Namen. Es gab mal einen anderen. Er war ein guter Freund von mir...“ Er ging hinaus.
Wieder versuchte Frederik sich aufzurichten und wieder versagten seine Arme. Müde rief er Paul nach: „Wohin gehen sie?“
„Essen und schlafen.“ Er erschien erneut in der Tür. „Wenn du hier festsitzt, gibt es für dich nichts anderes als essen und schlafen. Obwohl Schwester Waltraut... Aber der scheiß Krebs raubt einem jedes Vergnügen.“
„Frederik lachte schwach und sah Paul hinterher. Die Tür fiel ins Schloss und Frederik schlief erneut ein.
Frederik stand in einem dunklen Raum. Nichts war hier. Die Schwärze schien kein Ende zu nehmen. Es war kalt. Und Frederik spürte eine unheimliche Angst. Angst vor was?
„Du hast sie getötet!“ hörte er plötzlich eine donnernde Stimme rufen.
„Ich habe was?“
„Ermordet!“ schrie die Stimme. Ein eisiger Wind blies über seine Wangen. Erst jetzt spürte er die Tränen. „Wen?“ wollte Frederik rufen, doch seine Stimme versagte. Sprach diese Stimme von seiner Vergangenheit? War er ein Mörder? Wen soll ich getötet haben? Plötzlich fühlte sich Frederik allein. Unwillkürlich musste er an Marie denken. Wo war Marie? Er bekam Angst um sie. Und plötzlich sah er ihr Gesicht in der Dunkelheit. Sie lächelte und eine Hand strich langsam über seinen nackten Arm. Die Kälte wich augenblicklich von ihm und machte Platz für ein Gefühl der Geborgenheit. Marie. Wie habe ich dich vermisst.
Sie war lange Zeit auf Geschäftsreise, erinnerte er sich. An dem Abend war sie den ersten Tag wieder zu Hause. Wir sind essen gegangen, schoss es ihm durch den Kopf. Sie hatte mir etwas zu sagen. Was das war wusste er nicht mehr. Doch es musste ziemlich wichtig gewesen sein. Doch auch das war jetzt egal, als er ihr Gesicht sah, mit den freundlichen meeresblauen Augen, den vollen Lippen und den leicht getönten Wangen, die das Feuer der Jugend verrieten. Und ihr goldenes Haar, dass lang über die Schultern hing, zusammen geflochten zu einem Zopf. Nun trug sie es offen. „Was ist passiert. An dem Abend?“
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, starb das Lächeln in ihrem Gesicht. Plötzlich fielen ihre Wangen ein. „Marie!“ schrie Frederik. Langsam löste sich die Haut von ihrem Kopf. Dann sah er ihr bloßes Fleisch herabfallen. Dann blickte er in die leeren Augenhöhlen eines Skeletts, bevor auch das zu Boden fiel und verschwand. „Marie!“ schrie er und wieder hörte er die Stimme „Was hast du getan?“ Der Schweiß stand Frederik auf der Stirn, als er sich plötzlich in seinem Krankenhausbett wiederfand.
Langsam hatte sich Frederik wieder beruhigt und realisiert, dass das nur ein Traum war. Zumindest sagte er es sich immer und immer wieder selbst. Es war nur ein Traum. Marie geht es gut.
Ein Arzt kam herein, deutlich an seinem weißen Kittel zu erkennen. Er trug eine Brille und sah Frederik kurz durch seine dicken Gläser an. Dann sah er wieder auf einen Notizblock. „Herr... Sander. Wie ich sehe, sind Sie wach. Wie geht es Ihnen heute?“
„Meine Beine schmerzen.“ Frederik sah auf seinen Unterkörper. Ab den Oberschenkeln waren seine Beine eingegipst. „Ist ja auch kein Wunder“ meinte der Arzt. „Haben Sie sonst irgendwelche Schmerzen?“
„Wie bin ich hierher gekommen?“ wich Frederik seiner Frage aus. Sein Kopf tat ebenfalls weh.
„Nun, Sie wurden in Ihrem Auto gefunden. Sie müssen mit überhöhter Geschwindigkeit gegen einen Baum gefahren sein. Das war in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember. Jetzt haben wir den 16. Januar. Sie haben uns ganz schön zu schaffen gemacht. Die Beine...“
„Und der Schädel-Basis-Bruch, ich weiß“
„Woher wissen sie das?“
„Paul hat es mir gesagt“
„Paul? Na ja, egal. Ich muss sie untersuchen...“ der Arzt näherte sich Frederik und legte seinen Notizblock ab...
Um vier Uhr war der Flieger gelandet. Endlich. Frederik stand an dem Ankunftsterminal. Drei Wochen war es her, dass er Marie gesehen hatte. Drei lange Wochen. Er hatte ihr Lachen vermisst. Sie hatte ihn angerufen und gefragt, ob sie nicht zusammen essen gehen wollten. Im Germania Paradies Garten. Dort hatten sie sich vor einem halben Jahr kennen gelernt. Frederik hatte Verlobungsringe anfertigen lassen. Er erachtete das als die perfekte Gelegenheit, sie Marie zu schenken.
Das Terminal öffnete die Tür und Menschen kamen aus der engen Röhre. Und mittendrin stand sie. Marie. Frederik konnte sein Glück kaum fassen. Sofort waren die letzten Wochen vergessen. Sie lächelte müde, als sie aufeinander zurannten und sich umarmten. Frederik küsste sie und trug sie dann einige Meter, bis er sie absetzte um ihr Gepäck zu holen. Auf dem Weg zum Auto erzählte sie ihm von ihrer Reise. Doch er hörte ihr gar nicht zu. Er sah nur in ihr Gesicht und dachte an die kommende Zeit mit ihr. Er hatte sein Glück gefunden. Lass mich dich nie wieder loslassen, dachte er, als er in das Auto stieg. Er brachte sie nach Hause und fuhr dann nach einiger Zeit selbst zu seiner Wohnung, um sich auf den Abend vorzubereiten. Es soll der schönste Abend ihres Lebens werden. Erst gehen wir essen und dann fahren wir auf eine Hütte im Wald, die ich extra gebucht habe. Dort kann sie ihre Geschenke auspacken und wird ein Paar besonderer Ringe finden. Er hatte sich einen Weihnachtsbaum zurechtgeschmückt. Er stand in der Waldhütte. Auch die Geschenke waren schon da. Er hatte ihr Ohrringe und ein Parfüm gekauft. Er wusste, sie würde es lieben, obwohl er sein Konto ordentlich überziehen musste.
Als er sich bereit gemacht hatte ging Frederik zu seinem Auto und holte Marie ab...
Eine halbe Stunde nachdem der Arzt gegangen war kam Paul.
„Wo warst du so lange?“ fragte Frederik.
„Das hab ich dir doch schon gesagt. Hier gibt es nur essen und schlafen.“
„Es wundert mich, dass du mit Krebs im Endstadium noch so gut laufen kannst.“
„Sei froh, dass du nicht weißt wo ich Krebs habe. Aber du hast recht. Das gerade hat mich ganz schön mitgenommen.“
„Was?“
„Bist du schwer von Begriff? Das Essen.“
„Wenn ich sechs Stunden essen würde, wäre ich auch erschöpft.“
„Meine Frau hat mich besucht. Zufrieden? Marie kann nur alle drei Wochen kommen. Da gibt es viel zu erzählen. Dafür kommt sie morgen bereits wieder. Dann ist sie leider wieder auf Geschäftsreise.“
„Marie sagtest du? Meine Freundin heißt auch Marie. Erzähl mir von deiner Frau.“ Paul erzählte, wenn auch anfangs etwas zurückhaltend und Frederik kam mehr und mehr ins Staunen. Genau wie meine Freundin, dachte er sich immer öfter. „Wow wir könnten beinahe über die gleiche Frau reden,“ bemerkte Paul. Wo ist deine Freundin?“
„Ich weiß nicht. Es kann sein, dass sie auf Geschäftsreise ist. Sie hat bestimmt so lange gewartet, wie sie konnte. Aber bei drei Wochen im Koma... Ich meine man kann nicht sagen, wann ich aufwache und länger kann sie ihre Termine vermutlich nicht verschieben.“
„Weißt du mittlerweile, wie du hierher gekommen bist?“
„Ich hatte einen Unfall...“ Frederik erzählte, was er wusste. „Ich weiß nicht einmal, wann ich Marie zum letzten Mal gesehen habe. Ich erinnere mich... an ein Essen. Genau wir waren essen. An dem Abend, an dem ich den Unfall hatte. Oh Gott. Ich hoffe, sie saß nicht mit mir im Wagen als ich gegen den Baum fuhr.“ Frederik wurde zunehmend nervös. Seine Hände zitterten leicht und er dachte: Vielleicht meinte das die Stimme in meinem Traum. Dass ich mit Marie einen Unfall gebaut habe. Doch innerlich wusste er, das es irgendwie anders gewesen war.
„Bestimmt nicht,“ sagte Paul. „Die Ärzte hätten es dir gesagt.“
„Ich habe vorher von ihr geträumt. Ich sah sie verfallen. Sterben! Vor meinen Augen. Sie hat ihre Haut verloren und ich sah ihren nackten Schädel.“ Wieder lief es Frederik kalt den Rücken herunter, als er an den Traum dachte.
„Es war nur ein Traum. Aber wo du das Thema ansprichst. Ich geh jetzt schlafen. Es ist spät.“
Frederik sah zum Fenster. Das Sonnenlicht war verschwunden. Paul legte sich in sein Bett und deckte sich zu.
„Der Arzt sagte, du wärest mit über 140 km/h gefahren,“ sagte er plötzlich. „Nicht schlecht bei erlaubten 70. Hätte ich an deiner Stelle aber auch gemacht...“
Frederik war plötzlich hellwach. In seinem Kopf brannte es. „Woher willst du wissen, wie schnell ich war. Ich habe dir doch gerade erst erzählt, ich sei gegen einen Baum gefahren. Und was heißt: an deiner Stelle? Weißt du was an dem Tag los war? Woher?“
Doch Paul antwortete nicht. Frederik konnte ihn aus seiner liegenden Position nicht sehen und so richtete er sich auf. Doch auch so konnte er ihn nicht ausfindig machen. „Paul?“ fragte er unsicher. Er streckte seinen Körper so weit er konnte und spürte wieder den Schmerz in seinen Beinen. Doch er ignorierte ihn. Dann sah er erneut auf Paul Bett. Sein Atem raste und sein Herz pulsierte, als er erkannte, das es leer stand...
Frederik stieß die Tür zum Germania Paradies Garten auf und geleitete die lachende Marie hinein. Es war ein kleines Lokal, in dem man jedoch eine weite Auswahl an Speisen bestellen konnte. Und es war gut gefüllt. Die Stimmung war auf dem Höhepunkt, in einer Ecke saß eine Pokerrunde, aus einer anderen kam Weihnachtsmusik. Der ganze Laden wirkte durch buntes Licht und den überall verteilten Weihnachtskugeln wie ein Paradies. Pflanzen auf jedem Tisch und Kerzen perfektionierten das Ambiente.
Frederik suchte einen passenden Platz, die gaffenden Blicke der anderen auf Marie ignorierend. Dann bestellten sie das Essen...
“Es ist ein schöner Abend gewesen“ bemerkte Marie, als sie sich in das Auto zu Frederik setzte. „Und was jetzt, Romeo?“ Sie war etwas angetrunken, hatte sich aber, weil Frederik sich zurückhalten musste und er ihr noch einen „Edlen Tropfen“ versprochen hatte auf zwei Bier und einen viertel Liter Wein beschränkt. Mittlerweile war es zehn Uhr.
„Wir fahren jetzt zu einer Hütte im Wald. Ich habe uns ein schönes Häuschen gemietet.“
„Willst du mich mästen und kochen?“
„Nein Gretel, ich habe ein besonderes Geschenk für dich...“
Frederik fuhr an.
„Was ist es?“ drängte Marie
„Eine Überraschung“
„Eine schöne Überraschung?“
„Eine der schönsten deines Lebens...“
Er umarmte Marie und bog in die Hauptstraße ein. Sie küsste ihn auf die Wange.
„Jetzt sag schon. Was ist das für eine Überraschung?“ drängte sie erneut
„Eine große, schöne Überraschung.“ Frederik musste lachen. „Sei nicht so ungeduldig...“
Nach zwanzigminütiger Fahrt kamen sie an und Frederik öffnete die Tür.
„Wir sind da!“ sagte er feierlich, trat zur Seite und gab den Blick auf ein gemütliches Häuschen frei. Die braunen Wände bestanden aus nebeneinander in die Erde gerammten Baumstämmen. Eine tiefe Decke ließ den Innenraum kleiner und nostalgischer wirken. Auf dem hölzernen Fußboden lagen Teppiche. In einer Ecke stand ein steinerner Kamin, in dem ein gemütliches Feuer loderte, in einer anderen stand eine Tanne, reich verziert und mit elektrischen Kerzen beleuchtet. An einer Wand hing außerdem eine weitere Lichterkette. Darunter befand sich ein Tisch, auf dem Geschenke in silbernem Papier glänzten. Vor dem Kamin stand ein Sofa, ebenfalls mit Lametta geschmückt. Zu dem knisternden Feuer war leise Musik zu hören.
Marie stiegen Tränen in die Augen. „Das... ist wunderschön“ staunte sie.
Während Frederik in die Küche ging, um den Champanger zu holen, setzte sie sich auf das Sofa. Sie musste ihm heute etwas mitteilen, was ihm dieses Glück zerstören würde. Es gab keine andere Möglichkeit. Plötzlich wurde ihr unangenehm. Ich lass ihn erst ein paar Gläser trinken. Vielleicht wird es ihm dann nicht so wehtun. Frederik kam aus der Küche zurück. Marie setzte ihr bezauberndes Lächeln auf. Er darf jetzt noch nichts merken. Es wird nachher noch hart genug sein. Für uns beide. Doch ich muss das tun. Ich bin es Paul schuldig...
Wieder befand sich Frederik in diesem dunklen Raum. Und wieder spürte er einen kalten Luftzug im Gesicht. „Du hast sie getötet.“
Wer sagte das? Frederik versuchte etwas durch das Dunkel zu erkennen. Er spürte die Angst. Er wusste, dass er nicht fliehen konnte. Vorsichtig trat er einen Schritt nach vorn. Irgendwoher kannte er die Stimme. Er hatte sie schon einmal gehört. Nicht nur in dem Traum. „Ermordet!“ schrie diese.
Frederik glaubte, sie käme von vorne und so ging er zwei weitere Schritte geradeaus. „Wer bist du?“ fragte er mit zittriger Stimme.
„Du willst wissen, wer ich bin? Ich bin dein Alptraum. Dein Gewissen. Dein Henker. Nemesis!“ Die Stimme schien zu beben und jedes Wort verursachte in Frederiks Kopf unendliche Schmerzen. Er versuchte sich die Ohren zuzuhalten, doch er hörte sie ungedämpft. Sie war nun so laut, dass er schutzsuchend zu Boden ging. Er spürte den Schweiß auf seinem Gesicht. „Was willst du von mir? Was habe ich getan? Wen habe ich getötet?“
„Du hast sie ermordet. Und mit ihr mich!“
Eine Melodie drängte sich in Frederiks Bewusstsein. Und mit ihr der Text:
…I’m living on an Jet plane,
Don’t know, when I’ll be back again
Oh babe. I hate to go…
Das ist unser Lied, dachte er. Maries Lieblingssong. Wir hörten es in der Hütte...
„Du erinnerst dich wieder? Du weißt wieder, was du getan hast?“
Die Melodie wiederholte sich. Wieder und wieder. Und sie wurde lauter. Bald übertönte sie alles. Doch etwas war aus ihr herauszuhören. Da war ein Schrei. Frederik sank nun endgültig zu Boden, die Hände so fest an die Ohren gepresst, dass diese schmerzten. Es war Marie, die geschrieen hatte. „Marie“ schrie Frederik, doch er hörte seine eigenen Worte nicht. Er schien den Tränen nahe.
„Du weißt es immer noch nicht?“
„Wer bist du?“ fragte Frederik mit letzter Kraft.
„Das sagte ich dir bereits. Ich bin nur ein Echo. Aber ich werde über die Stimme siegen.“
Plötzlich erkannte Frederik die Stimme wieder. Er richtete sich auf.
„Du bist...“ wollte er sagen, doch er fand sich plötzlich in seinem Bett im Krankenhaus wieder.
Der Arzt betrat den Raum: „Herr Sander. Ich habe gute Nachrichten für Sie. Sie werden nach einigen Rehabilitationsjahren mit größter Wahrscheinlichkeit wieder perfekt Laufen können. Sogar Fußballspielen wird für sie wieder möglich.“
„Was wissen sie über meinem Nachbarn? Paul? Wie heißt er mit vollem Namen?“
„Ich weiß nicht, wen sie meinen. Sie sind allein in diesem Zimmer.“
„Er ist ein Krebspatient.“
„Wir behandeln hier keine Krebspatienten. Wir schicken sie alle nach Berlin in eine spezielle Krebsklinik.“
Berlin, schoss es Frederik durch den Kopf. Marie flog oft nach Berlin.
„Gibt es hier eine Schwester Waltraut?“
„Nein. Die arbeitet ebenfalls in Berlin. Sie ist unsere Ansprechpartnerin, wenn wir ihnen Krebskranke übergeben.,“ antwortete der Arzt sichtlich überrascht.
„Würden sie mir einen Gefallen tun? Sehen sie nach, ob es in der letzten Zeit einen Paul in dem Krebshospital gibt. Ich will volle Namen aller Pauls.“
„Das unterlieg der Geheimhaltung“
„Doktor...“ Frederik blickte den Arzt tief in die, durch die Brille größer wirkenden Augen. Er hatte sich aufgerafft und griff nach seinem Kittel. „Sie wissen nicht, wie es zu diesem Unfall kam. Auch ich weiß es nicht. Aber ich habe Grund zu der Annahme, dass ich ein Mörder bin.“
Der Arzt schwieg betroffen. Dann sagte er nach einigen Sekunden: „Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Frederik schenkte nun schon zum dritten Mal ein. Die Flasche war fast leer. Marie entschloss sich nun, es ihm zu sagen: „Freddi. Schatz... Ich muss dir was sagen...“ Überschwenglich und angetrunken lallte er: „Was denn mein Liebling?“ bevor er seinen Kopf an ihre Schulter drückte. „Es wird dich jetzt schwer treffen. Mir fällt es auch nicht leicht. Aber...“ Marie stand auf. Sie konnte nicht länger warten. Sag es ihm, befahl ihr eine innere Stimme. „Ich... Es gibt da...“
„Was ist denn?“ fragte Frederik. „Nun sag schon“
„Ich bin verheiratet. Seit vier Jahren.“
„Du bist was?“ brauste Frederik auf. Er griff nach Marie. Der Alkohol machte ihn aggressiv. Das hatte sie nicht bedacht. Er hielt sie am Arm fest. „Lass mich los. Du tust mir weh“ schrie sie. „Es geht nicht anders. Freddie es ist aus mit uns.“
„Nein!“ schrie Frederik und warf sie gegen eine Wand.
„Bitte hör auf Freddie“ flehte Marie. Er bewegte sich auf sie zu. So hatte sie ihn noch nie erlebt. „Verlass ihn.“ Befahl er.
„Das kann ich nicht. Er hat Krebs. Er ist im Endstadium. Wenn ich ihn nicht regelmäßig besuche, ihm Kraft gebe, stirb er.“ Sie bemerkte, wie Frederiks Kopf errötete. Schaum trat, quoll aus seinem Mund. Mit einem kräftigen Fußtritt stieß er das Sofa um und mit ihm einen kleinen an ihm festgeschraubten Tisch. Die Gläser fielen zu Boden und zerbrachen. Marie rannte in die Küche. Ich brauche ein Messer, schoss es ihr durch den Kopf. Sie schloss hinter sich die Türe ab und hörte ihn noch ein paar mal dagegen hämmern. „Komm da raus.“ Schrie er immer wieder.
„Ich werde hier bleiben“ rief sie zurück und dachte, jetzt muss er sich erst einmal beruhigen. Wenn er sich abreagiert hat können wir über alles reden...
Die Tür zum Zimmer ging auf und der Arzt trat ein. „Hier Herr Sander.“ Er reichte Frederik ein Blatt Papier. „Es gab zwei Pauls in der Klinik. Ein Paul Messerschmidt und einen Paul...“
„Richardsohn“ komplettierte Frederik. Marie heißt auch Richardsohn.
„Er ist erst vor vier Tagen gestorben.“ Kommentierte der Arzt.
Frederik erschrak. Sein Atem stockte. Plötzlich konnte er sich an alles erinnern. Dann sackte sein Kopf in seine Hände und er begann zu weinen...
Wieder befand er sich in einem dunklen Raum. Wieder hörte er die Stimme: „Du hast sie getötet“
Frederik lag auf dem schwarzen Boden. „Ich weiß“ schluchzte er „Ich weiß Paul. Ich habe sie getötet. Und damit auch dich.“
„Es hat mir das Herz gebrochen, als sie nicht kam. Ich wartete Tagelang. Plötzlich erkannte Frederik Pauls Gesicht in der Dunkelheit. „Was wirst du jetzt tun?“ fragte er.
„Wirst du mich töten?“
„Nein wie sollte ich das tun? Ich mache etwas viel Schlimmeres.“ Die Stimme wurde geheimnisvoll und leise. Frederik hörte sie fast nicht mehr. Paul flüsterte, seinen Mund nahe an Frederiks Ohr: „Ich werde dich alleine lassen mit deinem Schmerz. Ich werde dich zu einem Dasein im Gefängnis verurteilen. Und du wirst sie nie vergessen. In deinen Träumen wirst du sie sterben sehen. Wieder und wieder. Und du wirst dir den Tod wünschen. Doch du wirst weiterleben. Du wirst leben. Ein Schattendasein. Bete um deinen Tod.“ Dann stand er auf, drehte sich um und ging. „Nein!“ wollte Frederik nachrufen, doch seine Stimme versagte zu einem Gurgeln. „Nein!“ schluchzte er nochmals. Dann realisierte er: Er war nun allein. Ganz allein...
Die Musik wechselte. Es wurde nun Living on a Jet plane von The Mammas and the Pappas gespielt.
Unser Lied, dachte Marie. Das wird ihn beruhigen. Dennoch griff sie nach einem großen Messer. Dann öffnete sie die Tür. „Freddie?“ fragte sie vorsichtig. Er saß auf der wieder aufgerichteten Couch und weinte. Marie näherte sich ihm vorsichtig.
„Es tut mir leid“ sagte sie doch er realisierte sie nicht. Marie legte das Messer auf den kleinen Tisch und ging in die Garderobe. „Ich gehe jetzt besser“
„Ich habe sie verloren!“ Frederik sprach mit sich selbst „Aber wenn ich sie nicht haben kann kriegt sie keiner“ Plötzlich sprang er auf und nahm das Messer. Marie, die sich gerade über ihre Schuhe beugte bekam davon nichts mit.
Dann sah Frederik sein Ziel und griff das Messer fester. Er holte aus und stach Marie mit voller Wucht in den Rücken. Sie schrie auf und sackte zu Boden. Blut rann aus der Wunde. Sie atmete hastig. Frederik zog das Messer heraus und kniete sich über die, auf dem Bauch liegende Marie. Dann hob der das Messer erneut und stieß es mit beiden Händen so fest er konnte erneut in ihr Fleisch. Sie stöhnte nur noch leise auf, bevor sie zusammensackte.
In dem Moment bekam Frederik Panik. Was habe ich getan? Ich muss hier weg. Er rannte hinaus, setzte sich in sein Auto und fuhr mit Vollgas davon. Er überfuhr ein Stoppschild und schnitt einen Pkw. Dann wollte er auf einer engen Straße einen anderen Wagen überholen und bemerkte das entgegenkommende Auto zu spät. Er war zu aufgebracht um zu bremsen. Sein Herz raste. Reflexartig zog er das Lenkrad nach links und raste eine Böschung hinunter, bevor er frontal einen Baum rammte.
Der Arzt kam in das Zimmer und sah Frederik weinend in seinem Bett liegen. „Herr Sander? Da draußen sind zwei Männer, die Sie gerne sprechen möchten...“ Frederik ignorierte das völlig.
„Bitte rufen sie die Polizei. Ich habe eine Anzeige wegen Mordes zu machen.“ Sagte er. „Ich habe eine Frau erstochen...“