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Erinnerung
Nachdenklich stand Kieran vor dem verrosteten schmiedeeisernen Zaun, der das weitläufige Anwesen begrenzte. Die Muster und Schnörkel kamen ihm auf merkwürdige Weise bekannt vor.
Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Immer und überall versuchte er Dinge zu sehen, die nicht da waren. Geheimnisvolle Geschichten in dieser Welt zu entdecken, die heutzutage doch viel zu sehr von Realismus und Ernüchterung geprägt war. So traurig es ihn auch machte, spannende und fantasiereiche Abenteuer, wie in seinen Büchern, gab es in der wirklichen Welt einfach nicht. Seit einem schlimmen Sturz, bei dem er einen schweren Gedächtnisverlust erlitten hatte, bildete er sich ständig ein, Dinge aus seinem, ihm leider völlig rätselhaften, „früheren“ Leben wiederzuerkennen.
Gemächlich schritt Kieran den moosüberzogenen Weg entlang, der zum Haus führte. Ihm war die alte Villa vor zwei Wochen für einen Spottpreis angeboten worden. Fasziniert von ihrer einsamen Lage, der beeindruckenden Architektur, und von einem grundlosen Drang dazu getrieben, hatte er sofort zugeschlagen. Nun stand er also hier und war noch ein wenig unschlüssig, was er mit dem großen alten Gebäude eigentlich anfangen sollte. Kierans wenigen Habseligkeiten waren auf dem Kleinlaster, der noch unten an der Straße stand, untergebracht. Die wichtigsten Möbel, wie sein Bett und sein Kleiderschrank, waren schon am Tag zuvor von einer Umzugsfirma hergebracht worden.
Fünf breite Stufen führten zur Eingangstür hinauf. Diese bestand aus schwerem dunklen Holz. Der Türgriff war einmal golden gewesen. Wegen der Abgegriffenheit und, nicht zuletzt, dem Taubendreck, ließ sich dies jedoch eher vermuten als sehen.
Kieran griff nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Noch bevor er ihn gefasst hatte, öffnete sich mit einem langgezogenen Quietschen die Haustür.
Drinnen war es dunkel.
Kierans zitternde Hand tastete nach dem Lichtschalter. Er fand ihn nicht. Stattdessen fühlte etwas leichtes, klebriges an seinen Fingern. Ein Spinnennetz! Erschrocken fuhr er zurück. Durch die Bewegung aufgeschreckt, huschte eine dicke schwarze Spinne aus ihrem Versteck.
Sein Atem beschleunigte sich. Vorsichtig trat er einen Schritt nach links. Wo war dieser verdammte Lichtschalter?? Aus Angst vor einer weiteren Spinne traute er sich kaum, die Hand auszustrecken und die Wand zu befühlen. Langsam hob er seine Linke und bewegte sie Richtung Wand. Als seine Fingerspitzen diese berührten, zog er sie blitzschnell wieder zurück.
Ein Spinnennetz hatte er nicht gefühlt.
Etwas mutiger geworden, fand er nach einem erneuten Versuch endlich den Lichtschalter. Er legte ihn um. Eine Glühbirne an der Decke, halb umhüllt von einem recht altmodischen Lampenschirm, leuchtete auf. Das von ihr ausgehende, eher dämmrige Licht warf lange Schatten in dem langgezogenen Flur, der nun sichtbar wurde. Ausgestopfte Tiere hingen an den Wänden. Ein mottenzerfressener Ohrensessel füllte den halben Flur aus. An den Seiten führten Türen in die angrenzenden Räume.
Kieran schritt auf die erste Tür links von ihm zu und lugte neugierig durch den Spalt, bevor er sie ganz öffnete. Es war das ehemalige Esszimmer. Ein wuchtiger Tisch und zwölf strenge Lehnstühle bestimmten die Einrichtung. Durch drei hohe Fenster, die mit dünnen Vorhängen behangen waren, schien ein wenig Tageslicht herein. Probeweise setzte sich Kieran auf einen der Lehnstühle. Sie waren durchgesessen und hart. Auf einmal spürte er einen Luftzug im Nacken. Er fuhr herum. Einer der Vorhänge blähte sich auf. Das Fenster war offen. War es das vorhin auch schon gewesen?
Kopfschüttelnd stand Kieran auf. Was bildete er sich nur wieder ein? Nach und nach fand er heraus, dass sich in den anderen Zimmern eine Bibliothek, ein recht gemütliches Wohnzimmer, ein Empfangsraum und die Küche befanden.
Im Wohnzimmer führte eine breite Wendeltreppe in das obere Geschoss.
Kieran prüfte erst die Zuverlässigkeit des Geländers, bevor er sich auf den Weg in die übrigen Gemächer begab. Auf der dritten Stufe von oben stolperte er plötzlich. Er fluchte. Dann sah er auf die Stufe, auf der er gestolpert war. Keine Unebenheiten waren zu sehen.
Oben fand er zwei Badezimmer und vier Schlafzimmer vor. Im letzten davon erwartete ihn, eine freudige Überraschung, sein vertrautes Bett mitsamt seinem Kleiderschrank. Die Umzugsleute hatten sie schon am vorherigen Tag hergebracht.
Übermüdet von der ganzen Aufregung der letzten Tage ließ er sich mit einem wohligen Seufzer auf sein Bett plumpsen. Und trotz seiner leichten Nervosität, allein in diesem unbekannten Haus zu sein, war er schon nach wenigen Minuten eingeschlafen.
Er kletterte eine Treppe hinauf, auf einen alten Dachboden. Dort war es dunkel. Nur durch ein schmales Fenster fiel ein dünner Lichtstrahl herein, in dem die Staubkörnchen tanzten. Rechts von ihm in der Luft hing auf einmal ein silbriger Schimmer, der sich rasend schnell um sich selbst drehte. Er wurde langsamer und formte eine menschliche Gestalt. Eine Frau. Sie lächelte ihn an. Doch dann wurde ihr Gesicht trauig. Sie sah zu Boden und begann zu weinen. Mit tränenverhangenen Augen sah sie ihn ein letztes Mal an, hob die Hand. Mit einer blitzschnellen Bewegung stach sie ihm in die Augen. Ein unbändiger Schmerz erfüllte ihn. So etwas hatte er noch nie gespürt. Tausend Nadeln schienen in seinen Körper zu stechen. Er bemerkte nichts mehr um sich herum. Nur den Schmerz. Er schrie, schrie, schrie.
Kieran wachte urplötzlich auf. Er hatte einen Schrei gehört! Seine Augen schmerzten. Ein grauer Schleier hing in seinem Sichtfeld. Er blinzelte ein paar Mal. Es half nichts. Da hörte er ein scharrendes Geräusch. Erschrocken fuhr er hoch. Sein Herz klopfte schnell. Wo war er? Was war das für ein Geräusch?
Wenig später fand er seine Orientierung wieder. Das Geräusch kam vom Dach. Eindeutig. Noch ein wenig wackelig auf den Beinen, stand er auf und griff nach einem eisernen Kerzenständer, der auf der Fensterbank gestanden hatte. So eine Waffe konnte unter keinen Umständen schaden.
Kieran stieß die Tür mit dem Fuß auf. Er trat hinaus auf den Gang, wandte sich nach rechts, bis er zur Treppe gelangte und blieb nach wenigen Metern wie vom Blitz getroffen stehen.
Über ihm an der Decke befand sich etwas, das er bei seinem ersten Rundgang nicht bemerkt hatte.
Ein dunkles Viereck. Er starrte es einige Sekunden lang an und blinzelte erneut. Eine Falltür? An der Wand lehnte ein langer Stab, an dessen Ende sich ein Haken befand. Zweifel erfüllten Kieran. Sollte er wirklich hochsteigen?
Seine Neugier besiegte alle Zweifel. Er nahm den Stab in die Hand und öffnete die Falltür. Eine steile Holzleiter klappte herunter. Die Geräusche auf dem Dachboden hörten auf. Kieran hielt den Atem an und nahm den Kerzenständer wieder in die Hand. Langsam kletterte er die Stiege hoch. Oben auf dem Dachboden war es dunkel. Nur durch ein schmales Fenster fiel ein dünner Lichtstrahl herein, in dem die Staubkörnchen tanzten.
Kieran musste sich ducken, um nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. Er sah niemanden. Da nahm er auf einmal eine Bewegung in der hintersten Ecke des Dachbodens wahr. Den Kerzenständer erhoben, schlich er darauf zu.
Hier war die Dunkelheit am größten. Daher dauerte es eine Weile, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten.
Zuerst sah er nur einen großen Haufen aus Decken. Doch darunter, fast gänzlich verdeckt, lag ein Mensch. Ein alter Mann. Schützend hielt dieser die Hände über sich, dann hob er den Kopf. In seinen Augen war nur das Weiße zu sehen. Er war blind.
Kierans versuchte, ein Würgen zu unterdrücken. Sein Herz schlug schneller.
„W—Was machen Sie hier?“, fragte er.
Der alte Mann zitterte. Er antwortete nicht.
„Wer sind Sie?“, versuchte Kieran es erneut.
Mindestens eine Minute lang herrschte Stille.
„Mein Name spielt keine Rolle“, krächzte der Alte. „Sie werden Ihn nicht erfahren, so lange Sie auch danach fragen.“
Kieran wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Ich wohne schon immer hier. Seit 50 Jahren, um genau zu sein. Ich war der Gärtner. Als ich noch sehen konnte. Und als eines Tages – diese schrecklichen Dinge passiert sind... “, seine Stimme versagte einen Moment. „.... als die Herrschaften nicht mehr da waren...bin ich hier geblieben. Ich kann nicht weg. Sie – “, er erschauerte, „sie lässt mich nicht!“
Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem grausamen Lächeln.
„Sie wird auch Sie in den Wahnsinn treiben, Ihnen Ihr Augenlicht nehmen, sodass Sie Ihr ganzes restliches Leben in Dunkelheit verbringen werden. Ja, Sie wird Sie nicht fortlassen, Sie hat auch mich nicht fortgelassen. Sie will, dass wir leiden, wie sie gelitten hat."
Das wahnsinnige Lachen erfüllte den ganzen Dachboden.
Kieran war unwohl zumute. Sein Verstand wollte den verrückten Geschichten des alten Mannes keinen Glauben schenkte, doch sein Bauchgefühl riet das Gegenteil.
„Was für ein Geist?“
„Der Geist der Lady. Der Geist hat mich blind gemacht. Sie wurde ermordet. Von ihrem eigenen Mann. Hier, in diesem Haus, auf dem Dachboden! Er war ein strenger Herr, der Mann. Erlaubte ihr nicht, aus dem Haus zu gehen. Schlug sie in seinem Jähzorn. Sie war ein liebes Mädchen, wirklich. Doch er hasste sie. Weil sie so gut war, denke ich. Das konnte er einfach nicht ertragen. Er hatte schon einen Menschen ermordet, dachte, ich wüsste es nicht. Aber ich habe ihn gesehen, ja, das habe ich wirklich, als er eines Nachts zu später Stunde nach Hause kam. Den Kofferraum öffnete, ein längliches Bündel herauszog und es im Garten vergrub. Ich habe danach gesucht, am nächsten Tag. Und ich habe gesehen, dass es eine Leiche war.“
Er spuckte verächtlich aus.
„Gruselig war das, und irgendwie widerlich. Die Maden krabbelten schon in ihm rum, wissen Sie. Also in dem toten Mann, den ich gefunden habe. Ein Unbekannter.
Aber was schweife ich groß ab...Eines Tages versteckte sich die junge Lady also auf dem Dachboden, aus Angst, schätze ich, vor seinen Schlägen. Er fand sie, natürlich, und es kam zum Streit. Ja, wirklich, das war das erste und einzige Mal, dass ich sie habe streiten hören. Sonst wagte sie ja nicht, ihm zu widersprechen. Er konnte ihr liebes Gesicht wohl kaum mehr ertragen. Also drosch er auf sie ein. Sie schrie und schrie, aus lauter Qual. Er befahl ihr, aufzuhören, es machte ihn noch wütender. Schließlich erschlug er sie. Mit einem Kerzenständer. Genau hier.“
Er deutete auf die Stelle, an der Kieran stand. Der Boden besaß hier eine dunklere Färbung. Blut.
„Tja, dann hat er wohl Angst bekommen, der Herr. Und ist abgehauen. Natürlich haben sie rausgefunden, dass er es war, aber da war er schon weit weg. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.“
Der Alte wühlte in seinen Decken.
„Es stand in der Zeitung.“
Er hatte gefunden, was er suchte. Eine zerknitterte, zusammengefaltete Tageszeitung. Dem Datum zufolge war sie bereits einige Jahre alt.
Der Mann faltete sie auf. Er drückte Kieran die Zeitung in die Hand. Dieser trat ans Fenster.
Direkt auf der Titelseite prangte die große Überschrift: „Frau von ihrem Ehemann ermordet“
Darunter waren zwei Fotos abgebildet. Das erste zeigte eine junge, hübsche Frau. Sie schien Kieran anzulächeln. Tief in seinem Inneren rührte sich etwas, als würde er die Frau irgendwoher kennen.
Kieran las die Unterschrift des zweiten Bildes: Der Ehemann, der zum Mörder wurde.
Das Bild zeigte ihn.