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Erinnerungen und
Sie war etwas über der Zeit, aber das störte mich nicht. Hochfahren in ihren 15. Stock und dort warten, bis sie fertig war, wie sie mir angeboten hatte, mochte ich nicht. In meinem Wagen war es warm, und ich genoss die Gelegenheit, bei runtergekurbeltem Fenster noch eine zu rauchen, bevor sie kam.
Diese leichte Unpünktlichkeit kannte ich noch von ihr. Immer musste sie ein paar Minuten zu spät sein – zumindest in der Schulzeit ihr einziger Fehler, den ihr die meisten Lehrer aber gern nachsahen. - - - Uns Jungen zählten sie für die geringsten Kleinigkeiten ständig an, predigten die Gefahr von Disziplinverstößen auf jeder Klassenversammlung, drohten mit dem Abrutschen in das Halbstarkentum, dem zwangsläufig der Weg ins Jugendgefängnis folgen würde und so weiter. Blablabla. Es jagte mir immer noch Schauer des Abscheus über dieses System durch den Körper.
Dass Angela nie in die Zielgruppe dieser Predigten eingeschlossen wurde, machte mich immer wütend. Nein, sie brachte die geforderten Leistungen spielend leicht, engagierte sich unablässig in der FDJ, in Sport- und Kulturgruppen, und galt somit als Vorzeigeschülerin, die zu vielen Bezirksveranstaltungen geschickt wurde, unsere Schule und unsere Stadt zu vertreten.
Nur einmal soll sie vor der Klasse getadelt worden sein, von einer Lehrerin, die nur ein paar Wochen unsere Klassenleiterin vertrat. Leider war ich zu diesem Zeitpunkt krank, lag zuhause mit einer Angina vor dem Fernseher und langweilte mich. Thomas kam nach Schulschluss ganz aufgeregt zu mir und erzählte, von lebensgefährlichen Lachkrämpfen geschüttelt, wie Angela rot angelaufen sei, als ihr die Lehrerin für das übliche drei Minuten zu spät reinschleichen eine Standpauke hielt, und wie sie geheult habe, denn so was war ihr in ihrem ganzen Leben nicht widerfahren – Kritik an ihrer Person, an ihr, Angela, der Klassenbesten von klein an! Ich verfluchte mein Kranksein. Diesen Triumph verpasst zu haben, war schwer zu ertragen.
Ich sah auf die Uhr. Zwölf Minuten schon. Zeit, unruhig zu werden? Nein, da kam sie aus dem Haus, sah meinen Wagen stehen und ging raschen Schritts auf mich zu. Schnell stieg ich aus, umarmte sie flüchtig und öffnete ihr die Beifahrertür.
Ein wenig gespannt war ich schon, denn sie hatte mir eine Überraschung versprochen.
„Wo soll’s hingehen, Änjela“, fragte ich sie, die Anglisierung ihres Namens benutzend, wie wir es zu Schulzeiten oft taten.
„Ach, vielleicht wird es dir gefallen, mal wieder etwas über einen alten Kommunisten zu erfahren. In der Neuen Stadthalle wird eine Werkschau von John Wooding gezeigt.“
Ich sah sie kurz fragend an, während ich das Auto an einer roten Ampel zum Stehen brachte. „John Wooding? Nie gehört.“
Sie lächelte. „Ja, eigentlich Max Jablonski. 1910 bei Hamburg geboren, schon vor ’33 aus Deutschland raus, hat bei Auseinandersetzungen mit den Nazis damals einen SA-Mann so schwer verletzt, dass der kurz darauf verstarb. Aber da saß Jablonski bereits schlitzohrig auf einem Schiff der Hamburg-Amerika-Lines. Die Genossen hatten gesammelt, dass er sich in Richtung Moskau aus dem Staub machen solle. – Allein hätte er das nicht geschafft, kam aus einfachen Verhältnissen, deswegen wohl auch seine frühe Mitgliedschaft in der KPD. Du, der kannte sogar den Thälmann persönlich. Wahrscheinlich hat der ein paar Mark aus der Parteikasse dazugelegt. Die Überfahrt hat sicher ein Vermögen gekostet.“
„Thälmann“, sagte ich. „Unser Teddy!“ Wir lachten leise.
Bis wir die Stadthalle erreichten, erfuhr ich noch einiges über den späteren Fotografen, der im künstlerischen Bereich nie etwas anderes fotografiert haben soll, als Brennholzstapel.
„Wahrscheinlich gehört es in den Bereich der Legenden, die manchmal um unbekanntere Künstler besonders üppig wuchern. Aber es heißt jedenfalls, dass seine Großeltern in den Zwanzigern beide in ein und derselben Nacht erfroren sind, weil sie sich kein Holz mehr leisten konnten. Das habe ihn so sehr geprägt, dass er eben ein Brennholzstapelfotograf wurde. Und, halt dich fest, das soll nun wirklich stimmen, er starb vor etwa sechs Jahren in Kanada, ganz allein auf einem kleinen Anwesen, auf welches er sich zurückgezogen hatte...“ – „Erfroren?“ „...nein, beim Holz hacken!“ Sie lächelte wieder. Es schien ihr zu gefallen, wenn solche Sachen in einer Biografie aufgereiht erschienen.
Während sie noch Verschiedenes über Jablonski dozierte, fand ich schließlich, ihren eingestreuten Hinweisen folgend, zur Stadthalle. Zum Glück war es nicht schwierig, einen Parkplatz zu finden.
Zwanzig Schritte, und wir waren drin, geschützt vor dem inzwischen einsetzenden Schneeregen, der uns kurz in die Gesichter biss.
„Eure Stadthalle habe ich mir aber anders vorgestellt“, sagte ich, leicht verwundert, im Vorraum des doch recht kleinen Gebäudes.
„Die alte Stadthalle ist vor drei Jahren abgebrannt“, antwortete sie. „Kurz vor der Eröffnung einer Ausstellung irgendeiner Menschenrechtsstiftung, die dort Kunstwerke von Emigranten zeigen wollte. Sie wurde zwar nicht völlig zerstört, aber doch so geschädigt, dass sie vorerst nicht nutzbar ist. Erst hieß es, Neonazis hätten dort einen Anschlag aus gegebenem Anlass vollbracht. Stell dir vor, ich war hinterher sogar auf drei Demos deswegen! Aber dann sickerten Gerüchte durch, dass das Gelände, auf dem die Stadthalle steht, gutes Bauland wäre, auf welches mehrere Firmen begehrliche Blicke geworfen hätten.“
„Und?“
„Die Sache verlief sich irgendwie. Bis heute weiß keiner was Genaues. Jedenfalls niemand, der Interesse hat es öffentlich zu sagen.“
Inzwischen hatte sie mich in den ersten Ausstellungsraum geführt. Ich überflog eine erstaunlich wenig sagende Tafel mit biografischen Daten. Eigentlich nur ein paar Jahreszahlen und einsilbig aufgeführte Ereignisse, ohne tiefergehende Zusammenhänge. Was mir Angela erzählt hatte, fand sich dort nur stark verkürzt wieder.
In diesem ersten Raum hing eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotos, die wohl noch vor seiner Flucht nach Amerika aufgenommen waren. Fotos mit Blick in armselige Arbeiterbehausungen, hier und da auch mit den dazugehörenden Bewohnern: Alte Paare auf verschlissenen Sofas, eine Reihe rotznäsiger Kinder auf der Kante eines Metallbetts, Bilder von grauen Küchen, in denen jeweils ein Laib Brot oder auch nur ein halber oder eine dicke Scheibe auf dem Küchenbüffet oder dem Tisch lagen. Aber nirgends ein Brennholzstapel. Ich fragte Angela.
„Ja, das hier sind Fotos aus seiner Jugendzeit, nicht mal alle von ihm selbst. Er sollte für ein bedeutendes linkes Wochenblatt als Fotograf des Proletariats aufgebaut werden, weil man früh sein Talent für effektvolle Bildkompositionen erkannte. Schau mal, hier ist sogar ein Heartfield-Original! – Aber im Großen und Ganzen kann man hier noch nicht von Kunst sprechen.“ Sie verfiel dabei wirklich in einen Singsang, wie ich mir ihre Arbeit vor den Studenten vorstellte. Sie merkte wohl, wie ich darüber leicht grinste. In nun wieder lockerem Tonfall fuhr sie fort: „Komm, im nächsten Raum finden wir seine frühe Amerikaphase. Dort beginnt die Beschäftigung mit dem Brennholz, wenn ich das so sagen darf.“
Ich war verblüfft. Wirklich, auf jedem der dort zu sehenden Fotos waren Stapel aufgeschichteten Holzes zu sehen. Sauber aufgeschichtet an Hauswänden, in Gärten, in Kellern, in Küchen, in Kammern. Gesägte Latten und Bretter, romantische Stapel aus kleingesägten und gespaltenen Ästen, chaotisch aufgeworfene Haufen. Mal ganz nah, mal wie von der gegenüberliegenden Straßenseite fotografiert, mal Detailaufnahmen.
Während des Betrachtens trennten wir uns. Ich war froh, dass außer uns nur ein altes Paar anwesend war. Max Wooding war wohl so unbekannt, dass sein Name fast niemanden reizte, sich an diesem späten Winternachmittag hierher auf den Weg zu machen.
Plötzlich stand sie hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Eigentlich habe ich dich immer gemocht“, sagte sie. Und ich, ohne mich umzudrehen: „Du lügst!“
„Nein! Oder ja – ich meine, damals, als mit dem Abi plötzlich vier gemeinsame Jahre vorbei waren und ich wusste, dass ich die alle nie mehr so nah bei mir haben werde, hast du dich schnell als der herausstellt, den ich am meisten vermisste. Irgendwo in mir muss ich deine Frechheit, deinen Gerechtigkeitssinn und deine Verrücktheit viel mehr gemocht haben, als mir bewusst war.“
„Ich glaub’s nicht“, sagte ich. Sie war mir so oft in den Rücken gefallen. Immer bereit, mich in ihrer intelligenten Art anzuschwärzen. Mich für Sachen vorzuschlagen, die ich abgründig hasste, die sie jedoch so drehte, als müsse ich für irgendetwas ausgezeichnet werden. Zum Beispiel mit dem Tragen eines Ehrenbanners der Penne zum 1. Mai. Hätte ich abgelehnt, hätten mich die Lehrer hochnotpeinlich ausgequetscht, warum ich das denn nicht wolle. Also habe ich zähneknirschend die „Auszeichnung“ angenommen, und Angela, diese blöde Kuh, an jenem ersten Mai tausendfach verflucht, während ich das schwere flatternde und schwankende Ding kaum durch den Wind tragen konnte. Und jetzt solch eine Offenbarung! Allerdings war das über zwanzig Jahre her und spielte keine Rolle mehr, fast keine.
„Woran denkst du?“
Ich antwortete nicht, schüttelte nur leicht, um nicht unhöflich zu erscheinen, den Kopf.
Danach begleitete sie mich, wieder Vorträge haltend, durch den Rest der Ausstellung. Jablonski, inzwischen völlig zu Wooding geworden, konvertierte während der McCarthy-Ära mit ein paar öffentlichen Tiraden zum Antikommunisten. Wahrscheinlich nur zum Selbstschutz, wie Angela vermutete, wie viele linke Intellektuelle seinerzeit.
Er machte sich mit einem Fotostudio selbständig, entwickelte nebenher die künstlerische Manie mit den Holzstapeln, hatte, besonders in den Siebzigern, ein paar Ausstellungen in namhaften amerikanischen Galerien und zog sich schließlich gegen Ende der Siebziger in die kanadischen Wälder zurück, wohl um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen.
Irgendwelche Eskapaden soll er sich nie geleistet haben, das einzige Rätsel, das um sein Leben zurückblieb, ist die Tatsache, dass er nie für die Sache mit dem SA-Mann zur Verantwortung gezogen wurde. Doch dafür, dass er sich korrumpiert hätte, gäbe es keine Anzeichen. Politisch ist er nie wieder in Erscheinung getreten, die McCarthy-Leute ließen ihn unbehelligt, Deutschland stellte nie einen Auslieferungsantrag. Und die Ausstellung stellte ihn als etwas verschrobenen Amerikaner deutscher Herkunft dar – Punkt, das war’s.
„Ich hab Hunger“, sagte sie beim Anziehen ihres Mantels. „Sei mein Gast, ich kenne hier in der Nähe einen guten Italiener. Sag bitte nicht nein!“
Da ich mir den Verlauf des Tages sowieso in der Art vorgestellt hatte, fiel es mir nicht schwer, darauf einzugehen. Wir ließen das Auto stehen und gingen ein paar Ecken weiter, an einem Park entlang.
Unterwegs hakte sie sich bei mir ein.
„Wie war das eigentlich damals? Hat es dein Vater geschafft, dass diese Lehrerin vom Schuldienst suspendiert wurde? Er war doch irgend so ein hohes Tier, wenn ich mich recht erinnere?“ Natürlich brauchte meine Erinnerung keine Bestätigung, ich hatte diesen arroganten Typen vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen.
„Oh bitte, erinnere mich doch jetzt nicht daran, das ist mir immer noch unendlich peinlich!“
„Wie sie dich zusammengeschissen hat, als du zu spät kamst?“
„Nein, natürlich nicht. Sondern wie mein Herr Papa damals aufgetreten ist. Zum Glück wurde sie nur strafversetzt in die nächstkleinere Kreisstadt. Aber hast du damals gespürt, wie sich das Verhalten einiger Lehrer mir gegenüber verändert hat?“
„Nein“, ich wusste es wirklich nicht. „Bist du heimtückisch benachteiligt worden?“
„Ach, im Gegenteil! Die, die sich bis dato mir gegenüber relativ neutral verhalten hatten, waren von dem Zeitpunkt an scheißfreundlich. Eklig!“
„Weshalb ist dein Vater da eigentlich derart ausgetickt?“
„Weißt du das wirklich nicht? Dass ich zwei Wochen in der Jugendpsychiatrie war, weil ich eine Art Nervenzusammenbruch hatte?“
„Was? Das muss ja ein gut behütetes Geheimnis gewesen sein. Ich weiß zwar noch, dass du ein paar Tage gefehlt hast, aber es hieß nur, dass Angela krank sei. Dass du in der Klapper warst, höre ich zum ersten Mal.“
„Lass uns das Thema wechseln, dort vorn ist schon das Restaurant. Ich erinnere mich nicht sehr gern an diese Episode, auch wenn ich längst darüber hinweg bin. Lass uns den Abend genießen. Es ist so schön, dass wir uns getroffen haben, lass die alten Geschichten ruhen, ja?“
Ich hätte gerne noch ein wenig in alten Wunden gebohrt, aber warum sollte ich ein Spielverderber sein? Also stellte ich mich auf die heiteren Dinge des Lebens ein. Längst war mir aufgefallen, dass aus dem jugendlichen Moppelchen von damals eine Frau mit der gewissen Anziehungskraft geworden war.
Wir bekamen einen kleinen Tisch in einer ruhigen Ecke des ansonsten gut besuchten Restaurants, ich ließ mir etwas empfehlen, und wir bestellten uns einen Wein der mittleren Preisklasse. Dieser stellte sich als leckerer Tropfen heraus, und als Angela zwischendurch mal zum Klo ging, wagte ich schon, ihr einen langen Blick folgen zu lassen. Ich bekam Appetit.
Bei ihrer Rückkehr muss sie wohl einen veränderten Gesichtsausdruck an mir festgestellt haben, denn kaum saß sie, fragte sie mich, woran ich denn jetzt gerade denke.
„Soll ich ehrlich sein?“
„Na sicher! Das heißt, nur wenn du nicht wieder schlimme Geschichten von früher aufwärmst. Also, woran denkst du?“
Ohne leiser zu werden, sagte ich: „Ich frage mich, ob wir heute miteinander vögeln werden. Und wie es mir damit gehen würde.“
Mit gespielt vorwurfsvoller Stimme entgegnete sie: „Markus, ich bin hier eine Art Stammgast!“
Sie schwieg darauf einen Moment zu lang, was mich aus meiner übermütigen Angriffslaune zurückholte. „Entschuldige, meine alte Frechheit ist mit mir durchgegangen. Aber mich würde schon interessieren, ob es einen Mann in deinem gegenwärtigen Leben gibt“, versuchte ich mich herauszuwinden, ohne mein Gesicht zu verlieren. Doch sie schwieg. Und sah mich dabei seltsam an – halb durch mich hindurch blickend, halb eine Tiefe erzeugend, die mich zu verschlingen drohte.
„Und woran denkst du jetzt?“, fragte ich sie verunsichert.
Ihre Miene wurde wieder gegenwärtiger, bis sie mich offen, aber immer noch nachdenklich anlächelte. „Ja, es gibt im Moment einen Mann in meinem Leben. Er sitzt vor mir. Bis vor kurzem gab es jedoch eine Frau in meinem Leben.“
Langsam wurde ich richtig neugierig, was aus „Änjela“ geworden war.
„Markus“, sagte sie im entwaffnendsten, weiblichsten Tonfall. „Ich werde dich nachher noch auf ein Glas zu mir einladen. Wie im Film. Versprich mir aber, dass du mit deiner Band, wenn ihr das nächste mal hier in der Stadt seid, einen Song „Für Angela“ spielt!“
In diesem Moment war ich bereit, ihr fast alles zu versprechen.