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Erinnerungen

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18.12.2005
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Erinnerungen

Opa war schon tot.
In den Ferien fahre ich zu ihr, um ihr wenig Gesellschaft zu leisten. Ist ja nicht gut, wenn alte Leute zu viel alleine sind.
Unbeschwerte Zeit, Ausflüge nach Baden Baden, Kaffee trinken in der Konditorei am Markt. Shoppen gehen auf Omas Kosten. Zum ersten Mal verwöhnt werden. Beiderseits verwöhnt werden.

Zum ersten Mal den Schatten sehen, das allmorgendliche Bier, das ich weniger besorgniserregend finde als sonderbar. Sonderbare Frau, sonderbar und einsam.

Einsamkeit verwirrt auch, oder? Ein bisschen verkalkt wirkt sie schon, vor allem, wenn sie von der Puppe spricht die ihr Hitler geschenkt hatte, als sie ein Kind war. Sie soll Hitler begegnet sein? Kein Lebender ist Zeuge dieses ungewöhnlichen, wahrscheinlich imaginären Treffens.
Also lacht man, nein man schmunzelt, die Dame soll sich nicht beleidigt fühlen.

Die Zeit bringt keine Besserung, ihren nächsten Geburtstag feiert sie in einer neuen Stadt, eine große und teure Torte gab es, ein neues zuhause, ein schönes Zimmer, ein großer Garten und zum Frühstück gab es nun Kaffee statt Bier. Keine Einsamkeit mehr. Keine Besuche mehr.
Sie ist jetzt da, sie ist da und bleibt.

Oma bleibt, die Erinnerung geht. Zunächst.
Was ist mit dieser Musik? Marianne und Michael ? Kennt sie plötzlich nicht mehr, will das nicht hören Keine Musik!
Politik? Uninteressant, stricken auch. Sie sieht schlecht, weiss ihre Nadeln nicht mehr zu halten. Das Strickzeug wird weggeräumt, der Anblick deprimiert sie.
Die Fotografie an ihrer Wand soll auch weg, diesen Mann kennt sie nicht. Es gibt keinen Opa, sie war nie verheiratet. Mutter besteht darauf, dass es hängen bleibt und setzt sich durch. Mutter hat immer das letzte Wort. Deswegen ist Mutter auch böse.
Männer machen ihr Angst. Es sollen keine Männer zu ihr kommen, sie will auch nicht mehr mit Männern am Tisch sitzen. Der Schwiegersohn und Enkel sind die einzigen Ausnahmen.
Das Essen fällt schwerer, das Gewicht wird geringer, ständig friert sie, aber die Erinnerung kehrt zurück. Leider.

Schreiend liegt sie im Bett. Ein Schreien das selbst die Nachbarn hören.
Die Nachbarn kennen sie, immerhin lebt sie mittlerweile 10 Jahre in der fremden Stadt.
Ich schaue nach ihr. Sie hat das Bett verlassen, und zieht die Bezüge ab.
Das Entsetzen ist ihr ins Gesicht geschrieben.
Überall Blut, alles voll mit Blut.
Ich sehe kein Blut.
Die Wäsche weiss und unbefleckt.
Nun sollen die Vorhänge zugezogen werden. Die Leichen am Baum, sie will sie nicht sehen.
Ich schaue aus ihrem Fenster, ein wunderschöner Baum mit reifen, roten Früchten, keine Galgen, kein Blut.
Streicheln hilft.

Mutter weint, will nicht mehr, Vater und sie schreien, es geht um Oma. Heim! Heim! Kein Heim! Doch Heim! Du kannst nicht deine eigene Mutter… Heim…!

Die Schwägerin ist schwanger. Einen Tag später ist das Kind auch schon da, ein Mädchen namens Lili. Doch alle bestreiten das, auch die Schwägerin. Sie tobt, weil sie Lili nicht sehen darf. Die Schwägerin ist schlecht, sie ist ein böses Weib, wie gerne würde sie ihre Urenkelin sehen, es ist immerhin ihr gutes Recht.
Es gibt kein Kind, doch sie brüllt wie am Spieß, sie verflucht uns weil wir Lili verstecken. Wir sind schrecklich. Oma weint und wird immer dünner.

Das Essen wird immer schlimmer, die Waage zeigt keine 40 kg mehr, und sie nimmt einfach nicht zu. Sie ruhiger geworden und schwächer, schafft es nur noch in die Küche und zurück. Sie liegt viel im Bett. Sie hat oft Besuch im Zimmer, das Sterbezimmer.

Der Pfarrer kommt. Sie ist hocherfreut, plötzlich spricht sie wieder klar und vor allem wird er erkannt.
Mich kennt sie schon lange nicht mehr, schade. Warum erkennt sie den Pfarrer aber mich nicht? Wer gibt ihr denn Essen? Wer redet mit ihr? Wer tröstet sie, wenn sie weint? Kommt dann der Pfarrer? Nein, das mache ich!
Beim Pfarrer schleimen, bei mir weinen.
Sie dankt ihm für seine Gebete und ist wieder ruhig.
Die Zeit des Geschreis ist nun vorbei, das Warten beginnt.
Wir begleiten sie, Fremde in ihren Augen, Fremde in einer fremden Stadt. Auch Lili wurde von ihr vergessen.

 

Es wird ziemlich schnell klar, dass hier sehr persönliche Erinnerungen wieder gegeben werden. Das ist immer ein gefährlicher Ansatz, weil man riskiert, dass Leser evtl. schwer Zugang zu den geschilderten Ereignissen finden, es sei denn, man hat irgendwie ähnliche Erfahrungen gemacht. Grundsätzlich ist er schon nachvollziehbar, der Verfall der Oma. Aber irgendwie nimmst du mich als Leser nicht wirklich mit, gibst mir kaum die Chance, emotionale Bezüge aufzubauen und hältst stellenweise selbst (vielleicht sogar bewusst) eine spürbare Distanz zu dem traurigen Geschehen, das du schilderst. Es sind nur einige Fragmente, die du zusammenfügst. Der Verfall wird deutlich, die Oma selbst aber irgendwie nicht. Was ist denn das für eine Person, die da den Kontakt zur Wirklichkeit verliert? Was war denn mal ihre Wirklichkeit? Ihr Leben? Irgendwas fehlt mir bei dieser Geschichte, und ich weiß nicht genau, was das ist. Vielleicht drücke ich es mal so aus. Du schilderst. Aber du erzählst nicht.
Grüße von Rick

 

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