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Erntedankfest

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30.03.2010
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Erntedankfest

Heute ist Erntedankfest.
Am Freitag war ich im Krankenhaus, nun fahre ich zu meinen Eltern.
Es ist ein kalter Herbsttag. Ich denke über die Ironie nach, dass gefallene Blätter ihren Wurzeln näher sind als während ihres Lebens, wo sie von ihnen versorgt werden.
Da liegen sie dann, orange wie das Licht, das diesen Nachmittag die Luft nicht zu erwärmen vermag, aber eine beruhigend sanfte Atmosphäre schafft.
Auf dem Weg von meinem geparkten Auto zur Haustür friere ich und verschränke schützend die Arme vor der Brust und stelle den Kragen meines Mantels auf.
Dennoch fühle ich mich wohl, es ist ein Nachhausekommengefühl, als ich die Auffahrt überquere und die Stufen zur Haustür steige, in der Wartezeit zwischen Klingeln und Geöffnet bekommen auf mein in der Sonne schwarz glänzendes Auto blicke, und dann die Tür von meiner Mutter geöffnet wird, mir warme Luft entgegen strömt, und der Geruch von Zuhause mein Gefühl verstärkt.

Vor vier Monaten, war es, als meine Eltern in die getönten Gläser meiner Sonnenbrille blickten, und erkannten, dass ich nicht nur einem Studium gekonnt aus dem Weg gegangen war, sondern auch dem Erwachsenwerden.
Ich stand vor ihnen, zog das schmutzige Jackett enger an meinen nackten Oberkörper, und versuchte mit meiner magren Gestalt den Blick in das innere meiner dekadent befeierten Wohnung zu verdecken.
Meine Mutter drehte sich mit einem bittren Lächeln des Habe-Ichs-Doch-Gewusst um, während mein Vater mir ein bisschen fasziniert von so viel Unverschämtheit und Lebenslüge schien.
Als mein Vater meiner Mutter nicht gleich folgte, kam sie zurück, sah mich an, und ich wusste, wäre sie nicht aus so kultiviertem Hause, hätte sie mich angespuckt, so viel Ekel lag auf ihrem Gesicht.
„Du denkst wirklich wir bezahlen dir das hier weiter?“
Ich zuckte nur, mittlerweile wieder in Gelassenheit zerfließend, die Schultern.
Der erste Fehler, der mir in etwa zehn Jahren des Nichtstuns unterlaufen war, in denen ich ihnen vormachte, mich um wechselnde Dinge zu bemühen. Dieser erste Fehler war, mich in orgiastisch verbrachten drei Monaten kein einziges Mal bei ihnen gemeldet zu haben. Sonst hatte ich es zwischendurch immer geschafft, mich für einen Tag herauszuputzen und das arme Söhnchen, das keinen Platz in dieser harten Welt zu finden schien, zu mimen.
Es gab die Momente, und es waren viele und vorwurfsvolle, in denen meine Mutter mir ihre Zweifel an der Wahrheit zu spüren gab, jedoch war sie auch nicht imstande, den Gegenbeweis zu erbringen.
Nun hatte sie es gesehen, sie sah all ihre Vermutungen durch meinen gegenwärtigen Zustand bestätigt, und ich wusste, dass Ausreden nichts brächten.
Aus und vorbei, Geldhahn zu?

Auf diesen Schock verbannte ich erst einmal jeglichen Müll, auch Leute die ich nicht kannte, aufs Erste aus meinen Räumlichkeiten.
Man wusste ja nicht, wie es weiterginge.
Vielleicht wäre das ein wahrer Wendepunkt geworden, hätte es nicht den Auslöser meiner Verwunderung nach nur einer Woche dieses fatalen Ereignisses gegeben.
Ich öffnete die Tür, und durfte meinem Vater Einlass in meine gereinigte, wie unbefleckt wirkende Appartementwohnung gewähren.
Selbst das Sofa hatte die von mir angeheuerte Reinigungskraft blütenweiß und muttermariagleich gewaschen.
Darauf setzte sich nun mein Vater mit ernstem Blick. Ich nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn freundlich zum Sprechen auffordernd an.
Sein fachmännisches Räuspern- wurde plötzlich von einem ausgelassenen Lachen unterbrochen.
Nun war ich der Überraschte.
Nach einer Weile klang sein Überschwang ab, und er setzte zu einer Erklärung an. Zu seiner Predigt. Eine Predigt von Vater zu Sohn. Anders wahrscheinlich, als die gewöhnlichen Worte, die ein Vater seinem Sohn sagt.
„Interessant. Koitieren und Zerstören. Diese Punkte hatte ich mir als Sehnsuchtserfüllter junger Mensch einst ins Auge gefasst. Wäre da nicht mein Vater gewesen, der mich zwang, BWL zu studieren, sein Unternehmen zu übernehmen, und- deine Mutter. Eine fürchterliche Frau, der keiner wagt, zu widersprechen. Eine Karriere- und Ruhmbesessene. Eine Irre auf alle Fälle- ein Monstrum, dass mich packte, verschlang und aus mir einen Kastraten machte. Ich kleines mickriges Kerlchen mit schlechter körperlicher Konstitution und nervös-hysterischem Geist hielt nicht viel vom Leben, in das ich gestoßen worden war. Ungefragt. An weiteren Miseren wie zum Reagieren gezwungener Wesen wollte ich keine Schuld tragen. Denkst du deine Mutter, die den festen Plan hatte, eine Familie für ihr Soziales Ansehen zu inszenieren hätte wirklich interessiert, was der von ihr Inhaftierte will? Nein, Ansgar, Leben erschreckt mich seit jeher. Und nun bist du nicht geworden was deine Mutter aus dir machen wollte. Das ist ihr nun mehr denn je klar, aber an diesem Punkt sehe ich meine Unfreiheit in Freiheit hinein vererbt. Aus Verletzung über die Frau, die einem eine Funktion, aber niemals einen Platz in ihrem Leben gibt, die dich zum Selbstzweck degradiert, hast du dich ins Gegenteil verkehrt. Und nun möchte ich ein Abkommen mit dir schließen.“
Ich starrte meinen Vater, den ich zuvor noch nie in einem solchen Schwall sprechen gehört hatte, befremdet an.
„Nun, eigentlich fällt das Abkommen nur zu deinen Gunsten aus. Ich will, dass Koitieren und Zerstören, eine Absolut arrogante Dekadenz dein Credo werden. Mit mir als Financier sollst du ein Leben in Genuss und Freiheit führen- unter einer Bedingung, von der deine Mutter, wie von dem Geld, das ich dir als Lohn auszahlen werde, nichts erfährt. .“
Mir wurde etwas flau im Magen, ich wagte aber nicht, Einwände zu erheben- ich wusste auch gar nicht, welche.
Vielleicht war es auch nur die Seltsamkeit der Art, wie mein Vater wie noch nie zuvor zu mir sprach.
„Setze nie Kinder in die Welt.“
Ich wagte nicht zu lachen und nicht zu fragen. Ich nickte, wie selbstverständlich.

Nicht einmal das fehlende Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter vermiest mir die heutige Stimmung.
Nur sehr kurz sieht sie mich ausdruckslos an. Bei dem Gedanken daran, dass ich vor dreißig Jahren in ihrer Gebärmutter willkommen war, sie mich aber heute nicht mal mehr gerne in ihrem Haus zu Besuch hat, muss ich lächeln. Ohne ein Wort zu sagen, ihre Vorwürfe hat sie alle mehr oder minder schon geäußert, wendet sie sich um und geht.
Ich schließe die Tür hinter mir.
„Ansgar!“, mein Vater kommt und ersetzt das Lächeln meiner Mutter, nimmt mich fest in den Arm.
Mein Vater, der depressiv Veranlagte, Melancholiker und das Leben an sich als belastend Empfindende.
Ich sehe ihn lächelnd an, greife in meine Manteltasche und hole das sorgfältig gefaltete Schreiben heraus, und reiche es ihm. Er weiß von nichts, aber das ist mein Geschenk für ihn. Ein Geschenk... einfach für ihn und seine teilweise unverständlichen Ideale, die ich nun für ihn auslebe, weil es ihm durch meine Mutter und ihr Handeln unmöglich gemacht wurde.
Ich betrachte ihn, frage innerlich nach der Definition von Vernunft, und komme zu dem Schluss, dass es wohl nur vernünftig ist.
Sein Lächeln verschwindet kurz, er schluckt beim Lesen, dann treten Tränen in seine Augen, er blickt auf, und nimmt mich fester als zuvor in die Arme, drückt sein Gesicht an meinen Hals, er schluchzt, dann sieht er mich an, packt mein Gesicht zwischen seine großen, aber sanften und feingliedrigen Hände.
„Danke.“, flüstert er, ich nicke- ich denke, so glücklich habe ich ihn noch nie gesehen. Es ist die Erleichterung, von etwas, das ihn seit meiner Lebenszeit und die neun Monate der Wartezeit auf mich bedrückt hat. Nun weiß er, dass alles gut wird. Der Kreislauf wird sein Ende finden.
Als meine Mutter durch den Flur geht, bleibt sie stehen, und Verwunderung erscheint auf ihrem Gesicht, als sie meinen Vater weinen sieht, und nicht erkennt, dass er aus Entzückung und vor Glück, wirklichem Glück, nein- Erleichterung, weint.
„Gott, was ist passiert?“, fragt sie, aber keiner antwortet ihr.
Er nimmt meine Hand, und reicht mir das Schreiben, heimlich, ganz klein zerknittert, sie wird es niemals zu Gesicht bekommen, ich mache mich von meinem Vater los, und lasse es unauffällig beim Ausziehen meines Kleidungsstückes in die Tasche fallen.
Jetzt muss er keine Angst mehr haben, indirekt Schuld zu sein an weiteren Wesen die ungefragt zum Leben gezwungen werden.
Die Vasektomie hat mich letztlich kaum Überwindung gekostet.
Heute ist Erntedankfest.

 

Hallo Timo!

Ich kann mir die kleine Szene im Flur gut vorstellen, nur die Geschichte verstehe ich nicht so ganz.

Warum darf die Mutter von der Vasektomie nichts wissen? Was würde anderenfalls geschehen?
Der Grund für den Eingriff bleibt im Dunkeln.

Ein Geschenk... einfach für ihn und seine teilweise unverständlichen Ideale, die ich nun für ihn auslebe, weil es ihm durch meine Mutter und ihr Handeln unmöglich gemacht wurde.

Für wen „teilweise unverständlich“? Seine Frau begreift immerhin, sonst könnte/würde sie ihren Mann nicht hindern, seine Ideale auszuleben.
Sein Sohn begreift und versteht die Ideale, sonst würde er sie nicht für ihn ausleben können/wollen.

Da ich nichts von diesen „Idealen“ erfahre – nur die Vasektomie scheint eine Voraussetzung dafür zu sein, diese Ideale in die Tat umzusetzen – frage ich mich, warum es von Wichtigkeit ist, das ich von dieser „teilweisen Unverständlichkeit“ erfahre.

Der Sohn führt einmal bereits seit Jahren ein Leben, welches seiner Mutter missfällt; etwas später im Text will er „nun“, nach Vasektomie, die Ideale seines Vaters ausleben, also weiterhin ein Leben entgegen den Vorstellungen seiner Mutter führen.
Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Lebensarten?

Gruß

Asterix

 

Hallo Asterix,
hab nun noch ein paar (mehr) Sätze hinzugefügt, die eventuell etwas erklärend wirken.
Dankeschön fürs Kommentar!
Timo

 

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