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Erschlagen wir die Armen!

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12.04.2007
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Erschlagen wir die Armen!

Erschlagen wir die Armen!

«Monsieur, vous êtes mon égal! veuillez me faire l’honneur de partager avec moi ma bourse;
et souvenez-vous, si vous êtes réellement philanthrope, qu’il faut appliquer à tous vos
confrères, quand ils vous demanderont l’aumône, la théorie que j’ai eu la douleur d’essayer
sur votre dos», schließt Baudelaire zur Blütezeit des Hochkapitalismus sein Prosagedicht​


«Assomon les pauvres!», worinnen der Erzähler – nennen wir ihn Sokrates - nach der Lektüre moderner Literatur frische Luft schnappen muss, doch draußen wird er belästigt, bittet ihn doch ein Alter um einen Almosen.

Auf Empfehlung seines guten Geistes ("le Démon de Socrate") schlägt Sokrates auf den Bettler ein – bis der Prügelknabe zurückschlägt und die Verhältnisse korrigiert: Die Kontrahenten tauschen die Rollen, der Alte wird gleich dem Erzähler ("vous êtes mon égal)" und dieser lässt jenen an seinem Vermögen teilhaben ("partager avec moi ma bourse").

»Assomon les pauvres!«,
»Erschlagt die Armen« -

nennt die 1973 in Kalkutta geborene Shumona Sinha ihren zwoten Roman, der ihr 2011 die Entlassung aus dem Staatsdienst einträgt, als das schmale Werk verdientermaßen hochgelobt und zugleich skandalisiert wird, als wären schlechte Nachrichten über bestimmte Verhältnisse skandalös, nicht aber die Verhältnisse selber.

Behaupte da keiner, Belletristik bewirke nichts!

Im Staatsdienst hatte sie als Dolmetsch in der Asylbehörde gearbeitet, eben da, wo die Fremden vorstellig werden, um in einem wohlhabenden Land ein Bleiberecht zu erhalten. Oder auch nicht.

Nicht nur den Titel des Gedichtes, sondern auch die Geste von 1864/65 übernimmt die Autorin, selbst Immigrant wie die namenlose Ich-Erzählerin, die einem Asylbewerber, der sie in der Metro bedrängt, eine Weinflasche über den Kopf zieht.

Eine ungeheuerliche Tat, um die sich dieser wütende Text vordergründig dreht – man stelle sich ein solches Ereignis zum Jahrewechsel 2015/16 am Kölner Dom vor oder im Verborgenen hinter festen Mauern teutscher Tugenden ...

Der Roman erklärt den Vorfall so wenig wie der gute Dämon das ältere Gedicht. Die Übeltäterin auf dem Polizeirevier kann es auch nicht gegenüber einem Mann, dessen Namen sie nicht nennt, nicht nennen kann, weil er zu lang ist und knirscht. Darum nennt sie ihn einfach den Herrn K. - ohne dass es ein Franz K. oder gar ein seine nächste Dummheit vorbereitender Herr Keuner wäre.

Aber das Polizeirevier gibt scheinbar eh nur den Rahmen für die Innenansicht des Amtes für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (l'Office français de protection des réfugiés et apatrides, kurz Ofpra, wieviel klangvoller als ein hingekotztes BAMF!), das gelegentlich das unscheinbare "von" gegen ein "vor" austauscht.

Denn tatsächlich geschieht dort auf dem Polizeirevier im Kleinen, was im Ofpra wie im BAMF massenhaft geschieht: Was ist das Motiv der Tat, ob in der Metro, der Levante, dem Maghreb, Schwarzafrika und dem indischen Subkontinent oder absehbar auf kleinen Südseeinseln ... Und ist uns ein "Schleuser", ein bezahlter Menschenhändler im Profifußball wie in Zeiten der seligen DDR so fremd? Eine Ausgeburt der Gewerbefreiheit und des Grundsatzes, Geld zu machen, wo es sich lässt!

"Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen",​

ist lapidar festzustellen im Amt (ob OFPRA oder BAMF) - in dem gelegentlich das schlichte "von" mit einem "vor" verwechselt wird, man entsinne sich der kleinen Rollentausche – und als Ersatz, so können wir seit einem Viertel Jahr getrost behaupten, hat jedermann ein Recht auf ein Girokonto, obwohl ein Recht auf Obdach viel drängender wäre.

"Es war im Übrigen untersagt, das Wort Elend auch nur in den Mund zu nehmen. Es brauchte einen edleren Grund, einen, der politisches Asyl rechtfertigte. Weder das Elend" und sei's aus Freihandelsabkommen heraus, möchte ich hinzufügen", noch die sich rächende Natur, die ihr Land zerstörte, konnten ihr Exil, ihre verzweifelte Hoffnung auf Leben rechtfertigen. Kein Gesetz erlaubte ihnen die Einreise in dieses Land Europas, wenn sie keine politischen oder religiösen Gründe vorbrachten, wenn sie keine sichtbaren Spuren einer Verfolgung an sich nachweisen konnten. Also mussten sie die Wahrheit verstecken, vergessen, verlernen und eine neue erfinden. Die Märchen der menschlichen Zugvögel. Mit gebrochenen Flügeln und schmierigen, stinkenden Federn. Mit Träumen traurig wie Lumpen."

Ursprünglichste Bedeutung dieses "vom Heimweh eingegebnen Wortes" (so das grimmsche Wörterbuch) Elend ist das Wohnen im Ausland, in der Fremde, und das ahd. elilenti (= in fremdem Land; ausgewiesen), und der Bedeutungswandel erfolgt durch das Unglück, dass den Alten widerfuhr, aus der Rechtsgemeinschaft des eigenen Volkes ausgeschlossen zu werden/sein.

Im ersten Teil der Zusammensetzung ist noch das ältere alja..., "ander"enthalten (lat. alius; alias), im zwoten schimmert der Plural des Landes durch.

Diese alte Bedeutung des Elends galt bis ins 18. Jh. Wer die heutige Bedeutungsvielfalt nachvollziehen will, muss zum Grimm'schen, dem Deutschen Wörterbuch (DWB) greifen.

Migranten wie Shumona Sinha trifft es doppelt und dreifach, wie sich im Dezember 2015 in der Literaturbeilage der Zeit zeigte, wenn sie der Journalistin zeigt: "'Ich wohne da drüben', Shumona Sinha zeigt nach Westen, 16. Arrondissement, großbürgerliches Viertel: 'Jeden Tag sehe ich die Blicke, als fragten sich die Leute: Wie kann es sein, dass die hier lebt? Ich arbeite in keinem Lebensmittelgeschäft, ich kleide mich auf eine gewisse Art, ich verlasse das Haus mit einem Buch in der Hand – sie können das nicht einordnen, die Biofranzosen, und die Afrikaner und Araber genauso wenig.' Am verdächtigsten sei sie Landsleuten, denen sie in Frankreich begegne. In Kolkata habe sie nie solche Ressentiments zu spüren bekommen. 'Aber hier sind die Inder und Bengalen überwiegend auf prekäre, schmutzige Arbeit angewiesen. Die können sich nicht vorstellen, wie eine Gebildete hier lebt. Sie sehen, dass ich einen sozialen Code beherrsche, zu dem sie keinen Zugang haben. Das empfinden sie als Verrat.'" ("Der Schatten des Verrats", von Marie Schmidt, eingestellt unter Zeit Online, 22. Dezember 2015)

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!, Roman, aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller, Edition Nautilus 2015, hier verwendet 5. Aufl. 2016, 128 Seiten, Zitate S. 9

Quellen:

http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigl...&hitlist=&patternlist=&lemid=GE03827#XGE03827
Duden Bd. 7, Auflage 2006

Charles Baudelaire: Assomon les pauvres!, Petits Poèmes en prose, eingestellt unter
https://fr.wikisource.org/wiki/Assommons_les_pauvres!

Nach dem Versuch einer eigenen Übersetzung (s. o.) meine Deutung des Gedichtes Baudelaires:

Ich sehe zwei Subjekte: Den Bourgois - mit dem Vermögen - und den Proletarier -"unvemögend", besitzlos - der den westlichen Ländern ja "abhanden" gekommen zu sein scheint, aber nun nachwächst, leider mit Proleten - zumeist selbst erzeugt vor Ort - im Gepäck.

Zur schlaglichthaften Erinnerung: Namens der Queen wurden indischen Webern die Hände abgehackt, um zu Manchester eine lästige Konkurrenz loszuwerden. Aber um wie vieles Mehr sind da abgefackelte Fabrikhallen in fernen Landen gelebter Humanismus?

Sind hundertfünfzig Jahre blutiger Arbeiterbewegung sinnlos gewesen, um den Manchesterkapitalismus wiederzubeleben, weil die soziale Alternative im Nationalbolschewismus – der nun gar nix mit Proudhon oder Marx zu tun hat, wie die Kreuzzugsidee mit den vier Evangelien ja auch nicht, - unterlegen ist? Was soll das für eine "rechte" Internationale sein, die sich breitmacht und doch ihr je eigenes nationales Süppchen kocht?

Airbus, Heckler, Kraus-Maffei, Rheinmetall u. a. freuen sich schon!

Und Du?

 

... als das schmale Werk verdientermaßen hochgelobt und zugleich skandalisiert wird, als wären schlechte Nachrichten über bestimmte Verhältnisse skandalös, nicht aber die Verhältnisse selber.

Lieber Friedel,

danke für die Rezension, die es in sich hat. Recht hast du, wenn du bezüglich des Menschenhandels auf den Profifußball verweist ...

Ob man sich darauf freuen kann, weiß ich nicht, aber ich bin sehr gespannt auf die Lektüre und werde mir ein Bild davon machen, wie die Autorin dieses heikle Thema in dem ziemlich knappen Umfang behandelt.

Liebe Grüße,
JackOve

 

Hej, lieber Friedrichard,

herzlichen Dank, dass du mich mit deiner wunderbaren Art auf dieses Buch, diese Autorin aufmerksam gemacht hast. Unverzüglich las ich die Leseprobe, die mich zusätzlich inspiriert hat (Sinhas Schönheit spielt dabei keine Rolle ;))

Vor einiger Zeit traf mich visuell die Thematik in Form des Films "Wunder und Dämonen"/"Dheepan" von Jacques Audiard. Auch hier geht es um Elend, um Lügen, um migrantische Gruppen.

Auch wenn ich nicht dazu komme, Frau Sinhas Lesung in meiner Stadt beizuwohnen, so werde ich mir die deutsche Übersetzung, ebenfalls prämiert, zulegen.

Vielen Dank, auch für dein Engagement und lieber Gruß, Kanji

 

Nix zu danken,

liebeKanji, lieberJackOve,

ich hab zu danken! Aber Sinha ist allemal lesenswert und auch die Übersetzerin, Lena Müller, wird im Kommentar der Jury zur Preisverleihung des HKW (Haus der Kulturen der Welt) 2016 geehrt.

„... Lena Müller hat die raue Prosa Sinhas mit ihren ungebärdigen, die Wirkmacht der Sprache auslotenden poetischen Widerhaken kraftvoll ins Deutsche gebracht.“
https://hkw.de/de/programm/projekte..._sinha_lena_mueller_erschlagt_die_armen_2.php

Gruß

Friedel

 

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