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Ersehnter Verlust
queen – death on two legs
An seinen Wangen, seinen Lippen klebt Erbrochenes. Seine Augen sind glasig, sein Gesicht rot und das Rolling-Stones-T-Shirt ist so durchgeschwitzt, dass es wie eine zweite Haut an ihm klebt. Ich rede auf ihn ein, »alles wird gut, glaub mir«, weiß es allerdings besser. Er weiß es besser.
Es war unser erster Versuch. Ein Esslöffel, ein Glas Milch, eine Packung Vivinox, ein paar Ibuprofen. Wie Asche im Wind verstreute sich das Pulver unter den mahlenden Bewegungen des Silbers. Meinen mahlenden Bewegungen. Nur eine Sekunde und das Urteil war gefällt, nur mit einer Handbewegung die Vollstreckung, nur mit meinen Fingern auf seiner Wange trank er es.
Ist es Unsicherheit, die ihn erbrechen lässt? Verspürt er sie tatsächlich? Ist sie es, die ihn immer wieder von seinen Träumen abhält?
Ein weiterer Schwall fließt wie Lügen über seine Lippen, bedeckt mich.
***
Das Schluchzen weckte mich kurz vor drei Uhr morgens. Müdigkeit wurde von Wut abgelöst, um Mitleid zu weichen. Meine Augen brannten wie seine.
Nach kurzem Wanken: Meine Hände auf seinen Schultern, mein Gesicht in seinem Nacken, meine Worte in seinem Ohr.
»Du hast einen Grund, du hast das Recht mich zu hassen«, sagte er.
»Warum sollte ich?«
»Glaub mir einfach.« Ein Schluchzer, so laut, dass er im fast leeren Schlafzimmer zu hallen schien.
Mein Griff wurde fester, Erinnerungen übernahmen die Oberhand. »Was?« Fingernägel kratzten über braune, von Akne vernabte Haut.
»Es ist das letzte Mal gewesen.« Bohrten sich tiefer, mussten schmerzen. »Ich werde es nie wieder tun.« Wollten Blut schmecken.
Wir standen nachts auf dem Balkon, zwischen uns Spannungen, in mir Wut, die aufblühte. Unsere Sympathien füreinander gingen zu Grunde, unsere Liebe war verdörrt wie eine alte Frucht.
»Hass mich«, spuckte er in die Dunkelheit.
»Kann ich nicht.«
»Bitte.«
»Nein.«
»Wenn du mich nicht verabscheust, wenn du mich nicht so sehr hasst, dass du dir meinen Tod wünscht, werde ich es immer wieder tun.« Seine Stimme, kratzig und wund klingend, war nur dazu da, Gefühle in mir zu erzeugen.
»Ich ficke jede, die ich sehe.« Um Hass zu erzeugen. »Selbst, wenn ich es nicht wollte, würde ich es machen.«
Selbst unser Atem, ausgestoßen in Nebelschwaden, wollte nicht miteinander verschmelzen, verflüchtigte sich in unterschiedlichen Richtungen, wie unsere Zukunft.
»Willst du es denn?«
»Ich«, flüsterte er, »ja. Und wie.« In seinen Augen die richtige Antwort. Die nachfolgende Stille schwer, wie Nebel erdrückend. Ich hörte ihn atmen, ihn seufzen. Abwechselnd. Ich wollte etwas sagen, nichts besonders Geistreiches, nur irgendwas, aber ich konnte nicht.
»Mein Magen knurrt«, sagte er und brach das Schweigen, so einfach, wie einen toten Zweig.
»Ich höre nichts.«
»Ich habe Hunger«, erklärte er, überflüssig. Diese ganze Szene, überflüssig. Das gesamte Gespräch, eine Wiederholung. Er ließ mich allein in der Einsamkeit, der schallenden Stille der Nacht. Alle Stimmen ausgeblendet, alle Gedanken kreisend um ihn, ein Wirrwarr aus Jas und Neins, lauter als jedes Geschrei. Ich dachte: Warum kann ich ihn nicht hassen? Ich dachte: Weshalb will er, dass ich ihn hasse?
Er kam zurück. Kauend. Etwas Teigiges in der Hand haltend. Hinein beißend.
Wieder nur sein »Hass mich«.
Als ich anfing auf ihn, »nein, bitte lass es«, einzureden, »lass es gut sein«, fing er an, das Brötchen tief in sich hinein zu stopfen. Mit beiden Händen.
Ich konnte ihn nur anstarren, seine Hamsterbacken.
Ersticke, sagte seine Stimme in meinem Kopf. Ersticke, ersticke.
In einer Illusion des Halbfinstern verschlang er seine Finger, seine Hände. Erzeugte ein durch seine eigenen Finger gedämpftes Husten.
Ersticke, sagte er und ich schloss meine Hände um seinen Oberkörper, drückte zu, rettete ihn schon wieder vor sich selbst.
»Es geht so nicht weiter«, flüsterte er, mitgenommen von einem Treppensturz. Bei jedem Atemzug seine stechenden Rippen haltend.
»Dann hör auf damit«, meine Stimme im Vergleich zu seiner dröhnend laut. »Lass es gut sein.«
»Ob ich dich liebe?«, fragte er, während er vor dem Spiegel stand, sich selbst in die Augen blickte.
»Ja. Ich liebe dich auch.«
»Nein.«
»Was: nein?«
»Ich liebe dich nicht«, und sah spiegelverkehrt in meine Augen. Voller Trotz.
»Das ist nicht wahr«, und ich zog die Ärmel meines Pullovers über meine Hände, »Du lügst.«
»Tu ich nicht.«
Wir schwiegen, lange. Eine Motte brachte das Neonlicht zum flackern.
»Hass mich«, und ich seufzte.
Platzende Haut, geschwollenes Fleisch, eine Farbpalette in seinem Gesicht; gelb, rot, blau, Farben, die neue Farben mischten. Seine Schreie waren keine Schreie, sein Stöhnen nur von Schmerz geformte Anfeuerungen, die sich in den Ohren anderer wie Beleidigungen anhörten. Todeswünsche.
Ja, das waren sie. Wünsche.
»Ärder, ih dundigen einen ichsa.« Er trat dem größeren der beiden tuntigen kleinen Wichser kraftlos zwischen die Beine. Die Tat an sich zählte mehr als der Schmerz, den sie verursachte. Unter seinen zitternden Sohlen konnte nicht einmal eine Fliege zerquetscht werden. Er sah in meine Augen. Das Blut auf seinen Lippen formte die Worte Hass mich.
Alles wie immer.
Sein Arm auf meiner Schulter, eines seiner Beine hinkend, schleppte ich uns beide nachhause, nachdem die drei Männer von ihm abgelassen hatten, ungemütlich lächelnd, Perversling nuschelnd, ihm den Rücken zukehrten, seinem Grinsen, das von den ausgeschlagenen Zähnen nur breiter geworden war.
»Ich kann so nicht mehr«, sagte ich, wohl wissend, sein Todesurteil zu fällen. Wohl wissend, nachzugeben. Aufzugeben. »Wann hat es endlich ein Ende? Wann hörst du mit deinem Nur im Tod finde ich meine Erlösung auf? Ich habe das Gefühl, du versuchst nicht dich, sondern mich umzubringen.«
»Blödsinn.«
»Blödsinn«, äffte ich ihn nach.
Jede seiner Bewegungen machte mich krank. Nach jedem Wieso gibt es keinen Gott? musste ich mir auf die Unterlippe beißen. Jeder schwachsinnige, gleichzeitig unmögliche Versuch, sich mit Rasierklingen die Pulsadern aufzuschlitzen. Alkohol- und Spülmittelkonsum, was nur zu Erbrechen führte.
Der Augenblick kam, da wünschte ich seinen Tod. Dass es vorbei sein würde, mit seinem Gejammer, seinem Flehen. Und es kam der Augenblick, da wollte ich ihm dabei helfen.
Ich dachte: Noch immer sind wir hier. Ich dachte: Noch immer hat uns niemand von diesem Platz verdrängt, dessen wir so überdrüssig sind. Über dessen Verlust, den Verlust desjenigen, der uns hier festhält, wir nur Freude empfinden würden.
Dieser Augenblick kam heute.
***
Er kniet vor mir und weint. Ist so wenig Mann wie nie zuvor. Seine Lider sind geschwollen, selbst wenn er seine Augen öffnet, sehen sie aus wie geschlossen.
Fleht er mich an, während ich die Wanne mit heißem Wasser fülle? Fleht er um Leben oder um den Tod? Ich weiß es nicht, aber es ist zu spät.
Nein, noch ist er nicht tot. Noch verarbeiten seine Lungen Sauerstoff, noch schlägt sein Herz. Schnell, wie ich unter meinen Handflächen fühlen kann, während ich ihn wie ein Kind in die Wanne hieve. Das Wasser brennt kurz auf meiner Haut.
Ich höre ihn sprechen, kann seine Lippen aber nicht sehen. Tränen, meine können es doch nicht sein, ätzen sich in meine Augäpfel. Verkleben meine Wimpern.
»Nein«, weint er. »Ich will es nicht. Ich habe es mir anders überlegt.« Aber die völlige Teilnahmslosigkeit seines Körpers straft seiner Worte lügen.
Ist eine Lüge eine Lüge, wenn alle Beteiligten die Wahrheit kennen?
Ich nehme seinen linken Arm, verschränke meine Finger in seinen, spüre, wie unsere Ringe aneinander klicken, küsse ihn, seine Lippen, schmecke sein saures Erbrochenes. Nein, ich tue es nicht, weil ich dich hasse.
Ich drücke zu.
Unser beider Blut vermischt sich im Wasser, doch seines gewinnt die Oberhand.
© Tamira Samir