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- 11.11.2007
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Es erwachte
Es erwachte in vollkommener Finsternis, wusste nicht, ob es sehen konnte, wusste nicht, ob es schon immer gelebt hatte oder erst in diesem Augenblick geboren wurde, wusste nicht, ob es in traumlosem Schlaf geschwommen war, oder ob der Tod vor dem Leben es festgehalten hatte. Sein Geist war leer, ohne eine einzige Erinnerung, ganz und alleine von diesem einen Moment des Erwachens erfüllt. Hatte es vergessen, oder gab es nichts, wessen es sich zu erinnern gab? Hatte es jemals etwas besessen, was es hätte vergessen können?
Es begann zu fühlen. Einen Körper, eine Hülle, ein Gefängnis? Etwas bewegte sich. Die schwache Hand schloss und öffnete sich, ein Bein versuchte sich zu beugen, doch stiess es an ein Hindernis. Ein starker Schmerz schoss durch sein Fleisch, seine Sinne, ein dumpfes Geräusch erfüllte für einen kurzen Augenblick seinen Kopf. Unwillkürlich keuchte und hustete es, etwas löste sich aus seinem Hals, es begann zu atmen. Stickige, warme Luft drang in seinen Körper, seine Lungen brannten. Die Dunkelheit wand und schlängelte sich. Vor Übelkeit öffnete es die Augen, doch die undurchdringliche Schwärze blieb unverändert. Furcht und Verstörung wechselten sich rasend schnell ab, er fühlte, wie das Blut durch seine Adern gepumpt wurde, spürte, wie sein Herz hämmerte. Sein Körper bebte vor Schmerzen, unbekannten Gefühlen, zitterte vor Angst, Verwirrung und Hilflosigkeit. Wieder wollte er sich bewegen, und wieder schlugen seine Beine an ein Hindernis. Es war eingeschlossen. Es fühlte, wie die Luft immer dünner wurde, die Finsternis vor seinen Augen wirbelte wild. Sein Leib schien bersten zu wollen.
Kreischend begann es zu schreien, mit aller Kraft, die es aus der Furcht gewonnen hatte, schrie lange und verzweifelt. Der Schrei betäubte sein Gehör, neuer Schmerz entstand, der rasenden Zorn gebar. Während es kreischte schlug es wild mit Fäusten und Füssen gegen das unsichtbare, erstickende Gefängnis. Irgendwann brach etwas splitternd, seine Haut wurde aufgerissen, es fühlte warmes Blut, das aus seinem Leib spritzte und an seinem Fleisch klebte.
Es trat und hämmerte weiter, doch der Schrei hatte sich langsam in lautes Weinen verwandelt. Das Gefängnis stürzte zusammen, die Dunkelheit wirbelte noch schneller als zuvor, doch es wusste, dass es nun sein Körper war, der sich wand und drehte. Das Gefühl des Fallens erfüllte es mit Hoffnung und Schrecken zugleich, der Augenblick schien endlos lange anzudauern. Es schlug hart auf, die Erschütterung trieb ihm alle Luft aus dem Leib. Sein verzweifelter Schrei war zu einem leisen Keuchen geworden, seine nackten Arme und Beine strichen über eine harte, kalte Oberfläche. Als es wieder einatmete, schien die Luft keine Pein mehr zu verursachen, sondern zu lindern. Beruhigt blieb es auf dem glatten, kalten Grund mit geschlossenen Augen liegen und atmete immer wieder ein und aus. Lange verharrte es so, hoffte auf Hilfe, hoffte, dass seine laute Klage vernommen worden war. Es wusste nicht, worauf es wartete, doch was immer es war, es kam nicht. Nichts geschah. Irgendwann schlief es ein.
Seine Träume waren ohne Bilder oder Erinnerungen, doch voller unbekannter Gefühle, verwirrter, ungeordneter Gedanken und hoffnungsvoller Wünsche, die niemand ausser ihm kannte, und die nicht einmal es selbst zu fassen vermochte. Es fühlte Furcht, obwohl es nicht wusste, wovor es sich ängstigte. Seltsame Geräusche erfüllten das ewige Dunkel, das sich nie lichtete, Schreie, leise Atemgeräusche, Weinen, Rauschen.
Als es erwachte, wurde es von Panik ergriffen, doch als es sich seines erstes Erwachens und des Ausbruchs erinnern konnte, verschwand diese langsam. Es fühlte einen leichten Durst. Zunächst vorsichtig, dann immer bestimmter, versuchte es sich zu erheben, doch es war zu schwach. Auf Händen und Knien tat es seine ersten Schritte. Misstrauisch schlug es seine Lider auf, und sah zum ersten Mal Licht. Der schwache, flackernde Schein blendete es zunächst, erschrocken schloss es wieder die Augen. Als es sie wieder öffnete, ertrug es das Licht, und erblickte Formen und Gegenstände. Es befand sich in einem kleinen Raum, aus schwarzem Stein erbaut. Als es hinter sich blickte, sah es einen alten, hölzernen Tisch, zu seinen Füssen lag zerschmettert eine längliche, plumpe Kiste, sein Gefängnis. Kein weiterer Gegenstand befand sich im Raum. Verwirrt durch das Licht und die Bilder, die es sah, hob es seine Hände vor die Augen und starrte sie lange Zeit an. Seine Haut war bleich und glatt, Arm und Hände schmal. Verwundert bewegte es seine Finger, und dieses Mal fühlte sie die Regung nicht bloss, sie sah sie auch. Vorsichtig, fast ängstlich, betastete es sein Gesicht, fuhr mit den Fingern über kühle Haut. Plötzlich erfüllte es der heftige Wunsch, sich selbst ins Gesicht zu blicken, doch wusste es nicht, wie es dies vollbringen sollte.
Es wandte sich um und bemerkte eine Öffnung im schwarzen Raum. Ein langer, gebogener Gang erstreckte sich dahinter, und aus ihm drang der schwache, unruhige Schein. Voller Neugier und Misstrauen zugleich kroch es auf den Gang zu, verharrte kurz unsicher, und betrat ihn. Nicht weit vor ihm krümmte sich der Weg nach rechts, so schnell es konnte kroch es auf die Windung zu, denn plötzlich meinte es, Wärme zu spüren, die vom Licht ausging. Doch als es die Biegung hinter sich hatte, lag vor ihm nur ein weiterer Gang, lang und gerade, und die Wärme war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Irgendwo in der Ferne, am Ende des Weges, erblickte es wieder das Licht. Die Furcht kam wieder, beunruhigende Laute drangen an sein Ohr, doch wusste es nicht, woher sie kamen, oder ob es selbst diese Geräusche erzeugte. Verängstigt legte es sich auf den Boden, der ihm alle Wärme zu entziehen schien. Der Durst begann in seinem Inneren zu schmerzen. Es presste seine dünnen Beine dicht an den Körper heran und verbannte das Licht, indem es die Augen schloss und die Dunkelheit willkommen hiess.
Die steinernen Mauern aus grob gearbeiteten Felsblöcken umgab ihn ganz, liess ihm keinen Raum zur Bewegung. Es war sein eigenes Gefängnis, und es wusste, dass es diese Mauern niemals durchbrechen konnte, ohne sich selbst zu begraben. Ab und zu drang ein schwaches Licht durch die schmalen Lücken zwischen den Felsblöcken, doch sobald es versuchte, den lockenden Schein zu erspähen, verschwand dieser und tauchte vor einer anderen Lücke wieder auf.
Als es erwachte, lag es in vollkommener Stille, und in der Entfernung flammte noch immer das flackernde Licht. Und noch immer verspürte es den Drang, sich diesem Schein zu nähern. Es fühlte sich stärker als zuvor, also streckte es die bleichen Hände nach den groben, schwarzen Felsblöcken aus, hielt sich an ihnen fest und zog sich hoch, obwohl die zerschnittenen Handflächen schmerzten. Zitternd blieb es stehen, wartete, bis es sich sicher fühlte, dann folgte es mit ungeschickten Schritten dem dunklen Gang. Seine Schritte hallten dumpf an den Wänden wider. Je weiter es kam, desto wärmer schien die Luft und der steinerne Boden unter seinen nackten Füssen. Immer schneller wandelte es, und wäre einige Male beinahe zu Boden gestürtzt. Lange ging es so, der Weg schien sich endlos durch die Schwärze zu graben, immer weiter schälte sich der Gang weiter aus der Finsternis, doch es gab seine Hoffnung nicht auf, seine Gedanken waren vom Licht besessen und besetzt. Plötzlich verschwand die flackernde Flamme wieder, verstört und in fast völliger Dunkelheit hielt es inne. Nun, da der unstete Schein nicht mehr zu sehen war, kehrte der Durst zurück.
Von Zweifeln und Furcht erfüllt schlich es geduckt und mit weit aufgerissenen Augen weiter, versuchte keinen Laut von sich zu geben, denn der Widerhall seines Atems und seiner Schritte breitete sich unheimlich und verzerrt in dieser ganzen finsteren Welt aus. Nach wenigen Augenblicken erschien eine Weggabelung. Drei neue Gänge lagen vor ihm, einer bog nach rechts, der andere nach links, der dritte folgte derselben Richtung wie der alte Weg. Es versuchte seine Furcht zu lindern, doch es gelang nicht. Die neuen Pfade schienen ihm noch finsterer und bedrohlicher. Doch es wollte nicht zurück, wollte die Kammer mit dem hölzernen Gefängnis nie mehr sehen, wo alles begonnen hatte.
Ohne weiter darüber nachzudenken wählte es einen Gang. Es horchte angestrengt in die Finsternis, doch es herrschte Totenstille. Die Dunkelheit war beinahe so vollkommen wie die Ruhe, die schwarzen Wände schienen mit ihr zu verschmelzen und ein einziges, gewaltiges Ding zu werden. Sein Herz begann heftiger zu schlagen, das einzige, was in sein Ohr drang war das Rauschen des eigenen Blutes und das unruhige Atmen, seine Augen waren weit aufgerissen, obwohl es dennoch nur Schwärze vor sich erkennen konnte. Plötzlich stiess es vor sich auf Stein. Erschrocken blieb es stehen und tastete vor sich die Mauer ab. War der Weg hier zuende? Sein Herz hämmerte schmerzvoll und laut, Schweiss benetzte seine bleiche Haut. Es folgte der Wand langsam und vorsichtig einige Schritte nach links, immer nach den Felsbrocken tastend, um die Orientierung nicht zu verlieren. Da fassten seine Hände ins Nichts. Verwundert suchte es mit seinen Fingern eine feste Öberfläche, doch es fand keine. Unsicher wandte es sich um, um in den Gang zurückzukehren, aus dem es gekommen war, doch hinter ihm war nun auch harter, ewiger Fels. Ohne Orientierung und völlig verloren und verstört in der Finsternis lief es einfach los, weiter in die Dunkelheit hinein. Das Geräusch seiner Tritte klang laut und hallend in seinen Ohren, doch sein rasender Atem übertönte alles.
Lange lief es so, verzweifelt und verängstigt, immer tiefer, wünschte sich hinter jeder Biegung das Licht herbei, doch es blieb verschwunden. Irgendwann war sein Körper erschöpft. Langsam und müde, doch immer noch ganz erfüllt von Furcht, legte es sich zitternd auf den Boden. Ihm wurde schwindelig, als es dalag war es, als bewegte es sich zusammen mit dem Boden, dem Gang, der ganzen Welt. Schlagartig überkam es starke Übelkeit, es bäumte sich auf, keuchte, erbrach sich auf schwarzes Gestein. Dann schlief es ein.
Tiefschwarze Dunkelheit lag in der Luft, so dicht wie Blindheit. Es lief durch endlose Gänge, irgendwo vor ihm war ein Schatten, unsichtbar, doch es wusste, dass er da war. Es suchte ihn, Es jagte ihn, doch obwohl es der Jäger war, fürchtete es sich. Die Jagd war endlos, es sah die Bewegungen des Schattens nicht, roch seinen Schweiss nicht, hörte seine Schritte nicht, doch dennoch war er da, ungreifbar, verschmolzen mit der Schwärze, überall und nirgends, es war gleichgültig, nie würde er erlegt, doch es gab nicht auf, jagte weiter durch die vollkommene Dunkelheit, immer weiter, immer schneller...
Es schlug die Augen auf. Nichts hatte sich verändert, doch dies liess seine Furcht nur weiter erstarken. Hastig erhob es sich, sah sich vergebens in alle Richtungen um, und ging weiter, endlose, beengende Pfade entlang, sich bei jeder Weggabelung quälend, welchen Gang es begehen sollte, die einzigen Geräusche die Laute des eigenen Leibes, der einzige treue Gefährte die schleichende Furcht. Ewigkeiten dauerte es an, wiederholte sich endlos, jeder Pfad schien es bereits einmal begangen zu haben, jede Entscheidung war so schwierig und quälend wie die vorherige. Es gab nichts, woran es sich hätte orientieren können, keinen Anhaltspunkt, wessen es sich hätte erinnern können, keine Heimat, zu der es hätte zurückkehren können. Beinahe wünschte es sich jetzt, wieder in seiner Geburtskammer zu sein, doch hatte sie den Weg zurück verloren.
Wieder liess es sich zu Boden sinken, dieses Mal nicht von Erschöpfung, sondern von Verzweiflung bezwungen. Eine tiefe Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihm aus, mit dem Rücken gegen die Wand und mit gesenktem Kopf starrte es in die Dunkelheit, die es nicht verstand, einsam, nur von totenstiller Kälte und leerer Finsternis umgeben.
Wieso war es hier? Wer hatte es hierher gebracht? Wieso gab es hier nur diese ewige Schwärze und Kälte, dieser endlose Irrgarten? War dies alles, was es hier gab? War es alleine oder teilten auch andere sein Schicksal? Es war erfüllt von Sehnsüchten und Fragen, doch diese Welt schien weder seine Wünsche noch seine Neugier stillen zu können. Es weinte, die Tränen fielen kühl auf seine ausgestreckten Beine und zersprangen auf der glatten, weissen Haut.
Einige Zeit verging, bis es sich beruhigt hatte. Mit brennenden Augen wollte es sich erheben, doch erstarrte es inmitten der Bewegung. Durch einen Schleier aus Tränen hindurch sah es ein Licht, ganz nah und unbewegt. Mit hämmerndem Herzen lief es los. Nach wenigen Schritten hatte es das offene Tor in der Mauer erreicht, aus dem das helle Licht fiel. Geblendet wich es zurück und hob seine Arme schützend vor die Augen. Vorsichtig und mit tränenden Augen spähte es durch das Tor. Es war ein kleines Zimmer, in seiner Mitte stand neben einem hölzernen Stuhl ein kleiner Tisch. Auf ihm stand eine brennende Kerze, deren Schein weiss und hell die Kammer aus der Dunkelheit hob.
Rund um den Tisch lagen hoch aufgetürmt Bücher, Foliante und Schriftrollen, unzählige, scheinbar ohne Ordnung im Raum verstreut.
Es starrte die ruhige Flamme auf der Kerze an. Es war nicht das Licht, dass es gesucht hatte, doch nun war es sich nicht mehr sicher, ob es dieses überhaupt jemals gegeben hatte. Misstrauisch betrat es die Kammer, den Blick auf die Schriftstücke gerichtet, die überall herumlagen. Es beugte sich hinab und nahm ein schweres, dickes Buch in die Hände, von dem der Staub herunterrieselte, als es hochgehoben wurde. Mit zitternden Fingern schlug es das Buch auf. Die Seite enthielt ein Bild. Es zeigte etwas, das es noch nie gesehen hatte: einen hohen Baum mit dicken Wurzeln und einem grauen Stamm. Auf einem seiner Äste sass ein Vogel.
Überwältigt starrte es lange auf das Bild, ohne seinen Blick abzuwenden. Irgendwann blätterte es eine Seite um. Wieder ein Bild. Sowie auch auf der nächsten. Erstaunt sah es das ganze Buch durch. Jede der unzähligen Seiten war bemalt und zeigte Dinge, die es noch nie erblickt hatte. Es liess das Buch fallen und öffnete ein weiteres. Auch hier war jede einzelne Seite bemalt. Zitternd sah es sich noch viele andere Schriftrollen und Bücher an, auf jedem Stück Pergament war es dasselbe. Ihm schwindelte. Schwitzend, voller Furcht und Neugier, suchte es eines der schwersten Bücher, trug es zum Tisch in der Mitte des Raumes, setzte sich auf den Stuhl und schlug die erste Seite auf. Es sah den dunklen Nachthimmel, bedeckt mit Sternen und dem weissen Mond, darunter lag ein kleines Haus im bleichen Licht auf einer weiten, grasbewachsenen Ebene. In der Nähe stand ein Wald mit Bäumen. Das nächste Bild zeigte dieselbe Hütte, doch bei Tage, Wolken bedeckten den Himmel, und die Sonne stand hoch und blendend über allem. Ein Mensch stand vor der Hütte und sprach mit einem anderen, in den Händen hielt er die Zügel des Pferdes, das gerade mit den Hufen im Dreck scharrte. Nun, beim Licht des Mittags, konnte sie auch den kleinen See erkennen, der nicht weit weg vom Haus entfernt lag. Auf der nächsten Seite sah sie das Innere des Hauses und ein Fenster, durch das man die Wiesen, Bäume und den Himmel erblicken konnte. Jedes einzelne Bild sah es sich an, fasziniert und gebannt. Dasjenige, das es sich am längsten ansah und welches sie am stärksten in den Bann zog und berührte, zeigte einen Menschen, der über den See gebeugt stand und sein eigenes Gesicht im ruhigen Wasser betrachtete. Der Durst erwachte wieder, quälend und fordernd.
Was sind diese Bilder?, fragte es sich im Innersten bewegt. Sind es Erinnerungen? Oder sind es nur Träume und Vorstellungen einer schöneren Welt? Wer hat alle diese Seiten gefüllt?
Es betrachtete die unzähligen, aufgetürmten Bücher verwirrt, doch es fand keine Antwort, und die Fragen peinigten es und liessen es nicht ruhen. Lange dachte es nach, doch irgendwann wurde es doch durch die Müdigkeit besiegt und schlief ein.
Es war noch immer in der Kammer der Bilder, doch etwas hatte sich verändert. Schattenhafte Gestalten wanderten zwischen den Bergen von Büchern, schlugen immer wieder Bücher mit weissen, durchscheinenden Händen auf, schauten sich die Bilder an und lachten oder weinten dabei. Manche dieser weissen Schatten brachten auch neue Bücher voller Bilder und legten sie auf die älteren.
Es wollte die Gesichter derer sehen, die ganz in seiner Nähe standen, doch sobald es seinen Blick auf die unheimlichen, geisterhaften Umrisse lenkte, schienen sie ihre Form zu verlieren und verschmolzen mit dem hellen Licht der Kerze. Es versuchte es immer wieder, doch es gelang ihm nie.
Als es erwachte, hatte es Mühe, Traum und Wahrheit zu trennen. Unsicher blickte es sich um und fragte sich, was tatsächlich geschehen war, doch es fand bloss unsichere Antworten. Traurig und voller Sehnsucht erhob es sich vom Stuhl und starrte auf die schwarzen Wände. Was lag dahinter? Das ewige Nichts, oder die Bilder, die es in den Büchern erblickt hatte? Doch es schien keine Rolle zu spielen, wie konnte es diesem Gefängnis denn schon entfliehen?
Es verliess die Kammer, wanderte endlos durch die finsteren Gänge und versuchte die Erinnerungen an eine andere Welt zu vergessen, doch es gelang nicht. Es verzweifelte an seinen Fragen, auf die es keine Antwort gab, kratzte an den schwarzen Felsen, in der Hoffnung, die Wand würde brechen und einen Weg freigeben. Doch nichts änderte sich, alles befand sich in endloser Wiederholung, und die Kammer der Bücher fand es nie wieder.
In wahnsinnigem Zorn zerfetzte es sich selbst die Innenseiten seiner Hände. Der Durst raste in seinem Körper, verlangte nach Linderung. Mit dem Blut, in der Schwärze fast ebenso schwarz wie die Dunkelheit selbst, begann es ein Fenster an die dunkle Wand zu malen, und innerhalb dieses Fensters formte das Blut Bäume, Wiesen, Seen und den Himmel. Als es fertig war, sank es zu erschöpft und schwach zu Boden. Der rote Lebenssaft sprudelte noch immer aus den zerfleischten Händen, es fühlte, wie alle Kraft aus ihm wich und sein Blick langsam verschwamm. Sehnsüchtig und mit vor Trauer und Schmerz verzerrtem Gesicht starrte es zu seinem Fenster empor, das es kaum mehr erkennen konnte. Es starb, und als seine Augen erloschen, begannen die Felsbrocken zu beben, die Mauer zerfiel zu Staub und diese gesamte finstereWelt stürzte in sich zusammen. Doch konnte es nicht mehr sehen, was hinter seinem Gefängnis lag, noch hatte es im Augenblick seines Todes gewusst, ob es bald wieder in einem Sarg erwachen sollte, ob seine Seele in der Kammer der Bücher Bilder einer fremden Welt malen würde, in ewiger Sehnsucht, oder ob alles nur ein böser Traum gewesen war.
Ende