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Es gibt keine Monster
“Dein Sohn hat wieder einmal Angst vor Monstern.”
Elizabeth hatte ihren “Kümmere Du dich darum - Blick” aufgesetzt. Also kümmerte Bob sich besser. Als er das Zimmer seines Sohnes betrat wartete dieser schon auf ihn. Jimmy saß aufrecht auf seinem Bett, mit den Armen hatte er seine angewinkelten Beine umschlungen. Bob setzte sich neben ihn und hoffte dass sein entspanntes Lächeln auf den Jungen überspringen würde. Es funktionierte nicht ganz. Etwas mehr müsste er sich heute abend schon anstrengen.
“Wie sieht das Monster denn aus? “ Jimmy schwieg einen Moment.
“So wie der Fischmensch in der Zeitschrift, Daddy. Der mit den scharfen Klauenhänden.”
Bob wusste sofort wer gemeint war. Sein Sohn hatte ihm vor dem Abendessen ein Photo aus der Fernsehzeitschrift gezeigt, das ihn anscheinend beschäftigte. Es handelte sich um den “Schrecken vom Amazonas”, ein für Erwachsene recht albern aussehendes Filmmonster aus den Fünfzigerjahren.
Er hatte Jimmy einige Fragen zu dem Photo beantworten müssen. Wie Fischmenschen atmen, was sie so fressen, wo sie leben. Als würde es sich um eine reale Tiergattung handeln.
“Was haben wir denn besprochen? Gibt’s solche Fischmonster wirklich?”
“Nein, das ist bloß ein Kerl im Gummianzug, der Geld dafür kriegt dass er so rumläuft.” Jimmy hob die Hände um einen schwerfälligen Monstergang zu imitieren. Beide mussten lachen.
“Richtig. Solche Monster gibt’s nicht wirklich. Die hat man sich nur ausgedacht, damit man spannende Geschichten von ihnen erzählen kann. Erwachsene und große Kinder wissen aber, dass das bloß Männer im Gummianzug sind.” “So wie Godzilla", rief Jimmy begeistert aus. Monster waren zur Zeit einfach sein Lieblingsthema. “Der ist auch nur so ein Japaner, der auf Spielzeughäusern rumstampft.”
Er freute sich, dass er auch schon zum erlauchten Kreis der Erwachsenen und großen Kindern gehörte, da er wusste, das Monster in Wirklichkeit Männer in Gummianzügen waren.
Mission erfüllt. Bob sah noch mit ernsthafter Mine unters Bett und in den Wandschrank, bevor er zur Tür ging. Das gehörte zum abendlichen Ritual. “Daddy, aber was ist mit Einbrechern? Die gibt’s doch wirklich.” Bob hielt im Türstock inne. “Stimmt, Einbrecher gibt’s wirklich. Aber die wollen wertvolle Dinge stehlen. Und so was haben nur reiche Leute in ihren Häusern. Bei uns gibt’s nichts, was einen Einbruch lohnt.” Jimmy nickte. “Gute Nacht, Dad.”
Auf dem Weg ins Wohnzimmer dachte Bob, wie gut es war, dass der Kleine noch nichts von psychopatischen Serienmördern wusste.
Bis jetzt noch nicht.
Als Jimmy durch die Geräusche aufwachte hatte er gerade seltsamerweise nicht von Monstern geträumt. Das Gespräch mit seinem Vater hatte ihm soweit seine Ängste genommen, dass er sich mit den anderen Dingen des Lebens beschäftigen konnte. In seinem Traum hatte er den vergangenen Schultag Revue passieren lassen. Er stand gerade auf dem Pausenhof und alberte mit seinen Freunden herum als ihm auffiel, dass ein Mädchen aus seiner Klasse immer wieder auf ihrem Fahrrad vorbeifuhr und ihm zulächelte. Weshalb nahm sie soviel Platz in seinem Traum ein? Und warum interessierte ihn ein Mädchen fast so sehr wie der Fischmann vom Amazonas?
Bevor er auf diese Fragen näher eingehen konnte wurde er durch die besagten Geräusche aus dem Schlaf gerissen. Ein lautes Poltern. Das Splittern von Glas. Seine Mutter schrie so schrill auf, dass es ihm durch Mark und Bein fuhr. Irgend etwas Schreckliches war gerade im Gange. Wieder ein lautes Poltern. Vorsichtig schlich er zur Türe und öffnete sie einen Spalt. Im Schlafzimmer seiner Eltern brannte Licht. Seine Mutter schrie wieder, doch diesmal schwächer. Dazu war immer wieder ein schneidendes Geräusch zu hören. Der Junge nahm seinen ganzen Mut zusammen und schlich auf den Gang hinaus.
Als er in das Schlafzimmer sehen konnte bot sich ihm ein Bild des Grauens.
Auf dem Boden vor dem Bett lag sein Vater, regungslos, von blutenden Wunden übersäht. Auf dem Bett saß, rittlings auf seiner Mutter ein Mann in schwarzer Motorradkluft. In der Hand hielt er ein Messer, das in halbkreisförmigen Hieben der Frau die Haut vom Oberkörper fetzte. Das Blut spritzte in hohen Bögen an die weiße Wand hinter dem Bett. Jimmys Mutter leistete keine Gegenwehr mehr. Ihr Arm hing schlaff über den Bettrand hinaus. Trotzdem stach der Mann wie ein Besessener auf sie ein. Doch plötzlich hielt er inne. Er hatte den Jungen entdeckt. Der Fremde versuchte zu lächeln, was ihm jedoch misslang. Dazu war er noch zu sehr in seinem Blutrausch gefangen. Langsam stieg er von der Frau, wollte sich dem Jungen unauffällig nähern, zum Sprung ansetzen. Doch Jimmy löste sich rechtzeitig aus seiner Starre und eilte in sein Zimmer zurück. Hinter sich hörte er wie sich der Mann in Bewegung setzte, die schweren Stiefel, die ihm nacheilten. In seinem Zimmer angekommen schlug er die Türe zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Keinen Moment zu spät, denn schon wurde die Klinke nach unten gedrückt. Wutschnaubend schlug der Verfolger gegen das Holz. Jimmy sprang unter sein Bett und kroch weit zurück bis zur Wand. Der Fremde rannte zwei mal mit voller Wucht gegen die verschlossene Türe, dann sprang sie auf. Nun sah Jimmy die Motorradstiefel, die für einen Moment ruhig in seinem Zimmer standen. Er schien sich umzuschauen, nach Versteckmöglichkeiten zu suchen. Unter dem Bett oder im Wandschrank?
Er ging in die Hocke um die erste Möglichkeit zu überprüfen. Jimmy sah das Messer, an dem das Blut seiner Eltern klebte. Dann schob sich der große Kopf mit dem grimmigen Gesicht nach unten. Er sah den Jungen, der in der hinteren Ecke kauerte, und richtete sich langsam wieder auf. Gemächlich, ohne jede Eile ging er um das Bett herum, um sein nächstes Opfer besser erreichen zu können. Kurz nachdem der Fremde die Tür zum Wandschrank passiert hatte schob sich diese auf. Der Eindringling blieb verdutzt stehen. Wer mochte sich noch in diesem Zimmer versteckt haben?
Für Jimmy brach die Reale Welt nun völlig zusammen. Aus seinem Versteck sah er die riesigen beschuppten Füße, die mit schmatzenden Geräuschen auf den Eindringling zustampften.
Die Motorradstiefel hoben vom Boden ab, der Fremde wurde leicht wie eine Puppe hochgehoben. Dann kam ein schneidendes Geräusch. Wie das des Messers, nur vier mal so stark. Der Kerl gab ein japsendes Geräusch von sich. Die Krallenhand schlug noch einmal zu und glitschige Eingeweide fielen auf den Boden, dorthin, wo gerade noch die Stiefel standen. Noch mehr Schnitte und der ganze Unterkörper viel herunter. Der Rumpf wurde achtlos daneben geworfen. Die Augen des Einbrechers waren fassungslos. Seine Lippen bewegten sich wie die eines Fisches an Land. Dann wurde das Bett angehoben und zur Seite gestoßen.
Hier stand er nun tatsächlich, der Fischmensch vom Amazonas.
Nur nicht die kitschige Fünfzigerjahre Version, bei der man den Reisverschluss sehen konnte, sondern ein Wesen, so angsteinflößend, wie es nur der Phantasie eines Achtjährigen entspringen konnte. Seine Augen sahen den Jungen hungrig an und seine Klauenhand, an der noch Fleischfetzen hingen, holte zum Schlag aus.
Falls Jimmy seinen Vater bald wieder treffen würde, müsste er mit ihm ein ernstes Wort wechseln. Denn in einem Punkt war er eindeutig belogen worden: Monster gab es doch.