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Es ist etwas passiert
Es war meine Mutter, die mich in der Dusche fand.
Ich hatte mich etwa zwei Stunden zuvor in unserem Badezimmer eingeschlossen. Ich begann damit, mich zu rasieren. Ich trug den Rasierschaum meines Vaters sorgfältig auf mein Gesicht auf und ließ die Rasierklinge vorsichtig meine Bartstoppeln abschneiden. Danach benutzte ich das Rasierwasser, das sich mein Vater immer zu Weihnachten von mir hatte schenken lassen und das für besondere Anlässe gedacht war. Ich spürte die kleinen Schnittwunden, die durch den Alkohol anfingen zu brennen. Ich warf einen Blick in den Spiegel und untersuchte mein Gesicht. Aber ich fand nichts. Außer einer Stelle am Hals, die ich beim Rasieren übersehen hatte. Ich seifte sie erneut ein. Auch dort schnitt ich mich.
Ich nahm mein Duschgel, mein Shampoo und die altmodische Rasierklinge, die ich mir tags zuvor gekauft hatte, und legte es in das Duschbecken. Ich zog mich aus, entriegelte die Tür wieder – leise - und stieg in die Dusche. Der Dampf, der von dem heißen Wasser aufstieg, ließ den Duschvorhang sofort beschlagen. Ich konnte nicht mehr sehen, was außerhalb der Dusche war.
Ich shampoonierte mein Haar, ließ den Schaum kurz einwirken und spülte es dann kräftig aus. Mir fiel auf, dass sich zwischen meinen Fingern einige Haare verfangen hatten. Ich dachte, ich werde alt.
Ich wusch mich gründlich. Ich ließ das Duschgel langsam in meine Hand fließen und rieb es dann so lange, bis sich Schaum bildete. Ich schäumte meinen ganzen Körper ein. Ich versuchte jede Stelle zu erreichen, auch die am Rücken, die so schwer zugänglich sind. Ich wusch meinen Bauchnabel aus und sah den Fusseln zu, wie sie im Abfluss verschwanden. Ich wusch meine Füße, meine Ohren, meinen Hals. Das Wasser blieb konstant heiß. Es machte Spaß, sich so ausgiebig zu waschen. Ich merkte, dass ich schwitzte.
Ich ließ das Wasser weiterlaufen, obwohl ich mit dem Waschen fertig war. Ich stellte die Halterung des Duschkopfes so ein, dass ich ihn auch im Sitzen noch erreichen konnte. Ich setzte mich hin, schloss die Augen und ließ das Wasser über meinen Kopf laufen. Ich konnte nichts mehr hören. Das Wasser war überall um meinen Kopf herum.
Ich nahm die Rasierklinge und hielt sie eine ganze Weile in meiner Hand. Ich sah sie an und wusste nicht so recht, was ich damit nun machen musste. Sie war längst vom Wasserdampf beschlagen. Sie glänzte nicht, sie war irgendwie matt, irgendwie harmlos.
Ich setzte sie auf mein linkes Handgelenk, ohne dabei Druck auszuüben. Ich spürte sie fast gar nicht. Das Wasser hatte sie auf Körpertemperatur erwärmt. Ich atmete ein und zog eine gerade Linie von meiner Handwurzel bis kurz vor meinen Ellbogen. Das Blut schoss aus der Öffnung. Nachdem ich die Linie gezogen hatte ließ ich die Klinge fallen. Mein Blut klebte an den Kacheln und ich sah ihm zu, wie es langsam herunterlief. Ich beruhigte mich.
Ich hob die Rasierklinge wieder auf. Mit meiner blutenden, linken Hand setzte ich sie an meinem rechten Handgelenk an. Meine Finger konnten die Klinge nicht mehr richtig halten. Sie zitterten. Dann versuchte ich auch rechts eine gerade Linie von meinem Handgelenk zu meinem Ellbogen zu ziehen. Aber meine linke Hand schmerzte und so rutschte ich einige Male ab. Erneut spritzte Blut an die Kacheln, aber nicht mehr so viel wie bei meinem linken Arm. Ich hatte meinen rechten Arm eigentlich nur angeritzt. Aber ich entschied, dass die Öffnungen groß genug waren. Für mehr fehlte mir der Mut. Ich saß da und sah dem Blut zu, wie es in den Abfluss sickerte. Es sah gar nicht rot aus, eher rosa. Blut und Wasser. Und beides kreiste um den schwarzen Abfluss.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis das Wasser kälter wurde. Seine Temperatur ging langsam, aber stetig zurück. Ich fühlte mich wohl, außer dass mir langsam kalt wurde. Ich hörte meine Mutter an die Badezimmertür klopfen und etwas sagen. Ich konnte sie nicht verstehen, wusste aber, dass ich sicher nicht so viel Wasser verschwenden sollte. Ich antwortete nicht. Ich drehte nur das Wasser ab.
Aus meinen Handgelenken trat kaum noch Blut aus. War es am Anfang in konstanten Schüben herausgequollen, so tröpfelte es jetzt nur noch. Es war bemerkenswert: es tat nicht weh und es sah wunderschön aus. Mein Blut. So rot. Ich schloss die Augen.
Später klopfte meine Mutter erneut an die Tür. Sie musste mal und wir hatten kein Gäste-WC in unserer Wohnung. Sie bekam keine Antwort. Nach ein paar Minuten versuchte sie es nochmals, aber wieder ohne Antwort. Beim dritten Mal drückte sie die Türklinke herunter und stellte fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Sie öffnete die Tür langsam, wobei sie die ganze Zeit mit mir sprach. Sie drehte den Kopf zu der Wand, die der Dusche gegenüber lag, zog ihre Hose herunter und setzte sich auf die Kloschüssel. Sie betätigte die Spülung und hielt den Kopf immer noch von der Dusche abgewandt. Sie zögerte, ging dann aber doch zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Da sah sie das Blut von meinem rechten Handgelenk. Ein paar Tropfen waren am Vorhang vorbei nach draußen gedrungen.
Sie schob den Vorhang zurück und sah mich an. Sie legte mir ihre Hand auf die Stirn und setzte sich auf den nassen Rand der Dusche. Sie nahm meine Hände, betrachtete die Öffnungen und presste sie gegen ihr Gesicht. Es kam kein Blut mehr.
Sie wusch sich das Gesicht. Dann ging sie zu meinen Sachen, die ich vor dem Duschen in die Ecke des Badezimmers geworfen hatte und nahm meine Unterhose. Sie legte meine Beine über den Rand der Dusche und zog mir die Unterhose an. Dann schob sie meine Beine in ihre ursprüngliche Position zurück. So wie sie mich gefunden hatte.
Sie ging aus dem Badezimmer und holte ihre Putzsachen. Sie ließ warmes Wasser in den Eimer laufen, gab etwas Reinigungsmittel hinein und zog ihre Handschuhe an. Sie tauchte das Tuch in den Eimer und begann die Kacheln zu reinigen. Das Wasser in dem Eimer wurde rot.
Sie schüttete das Wasser in die Toilette und betätigte die Spülung. Sie zog die Handschuhe aus und sah mich an. Ich glaube, sie wollte mir in die Augen sehen. Ihre Hand strich mir die Haare aus der Stirn. Sie sah verwundert aus; vielleicht, weil sie nicht weinte.
Sie ging aus dem Badezimmer und zum Telefon im Wohnzimmer. Sie suchte in dem Haufen Notizzettel neben dem Telefon nach der Nummer meines Vaters. Sie rief meinen Vater auf der Arbeit an. Sie fragte am Telefon nach meinem Vater und ließ ihn aus der Halle holen. Sie wartete und sah dabei auf den Fernseher, der stumm eine Talkshow zeigte. Mein Vater kam an den Apparat. Sie sagte ihm, er solle nach Hause kommen. Sie sagte, es sei etwas passiert. Mein Vater legte auf. Er fragte nicht, was.
Sie legte den Hörer hin und ging ins Schlafzimmer. Sie zog sich um. Bald würde sie die Ambulanz rufen müssen. Sie zog frische Sachen an und dann begann sie zu weinen.