Es ist nicht so einfach
Warme Sonnenstrahlen berühren sanft mein Gesicht. Ich schließe die Augen und atme die frische Luft tief ein. Um mich herum höre ich Unterhaltungen der vorbeigehenden Menschen. Sie lachen und unter jedem ihrer Schritte knirschen leise kleine Kieselsteine, die auf dem Spazierweg liegen. Von weiter her erklingen fröhliche Kinderstimmen. Zwischendurch ist auch das Zwitschern der Vögel zu hören.
Ein friedlicher, ja beinahe idyllischer Tag, der sich um mich herum abspielt.
Meine Hände berühren den Umschlag des Buches auf meinem Schoß. Ich öffne die Augen, schlage es auf und senke meinen Kopf. Aber ich lese nicht. Stattdessen widme ich mich wieder ganz den Geräuschen um mich herum. Das Buch ist einfach nur eine Art Maske, genau wie die Sonnenbrille auf meiner Nase.
„Na, Sie?“
Ich blicke zur Seite und lächle, als sich eine Person zu mir auf die Bank setzt. „Wieder am lesen?“
„Ja, scheint so.“ Ich schlage das Buch zu und drehe mich zu dem jungen Mann mit der freundlichen Stimme. Seit einigen Tagen kommt er jedes Mal und setzt sich zu mir. Ich weiß nicht warum, aber was ich weiß, ist, dass es angenehm ist, sich mit ihm zu unterhalten, mit ihm zu lachen, ja sogar mit ihm zu schweigen.
„Wie machen Sie das nur?“, fragt er auf einmal. „Im ersten Moment scheinen Sie so unglaublich vertieft in ihr Buch zu sein, als wenn nichts Sie davon abbringen könnte, zu lesen aufzuhören. Und im nächsten Augenblick blicken Sie mich an und widmen sich voll und ganz mir.“
Ich muss grinsen.
„Sie beobachten mich also, ja?“
Er lacht und es kling ein wenig nervös.
„Sagen Sie… Ich treffe mich gleich mit einigen Freunden in der Stadt. Wollen sie mit mir kommen?“
Ist das der Grund, warum er so nervös ist? Ich schlucke. So gerne hätte ich „ja“ gesagt. So gerne will ich mit ihm durch den Park spazieren. Und so gerne will ich mit ihm in die Stadt gehen…
„Es tut mir leid, ich kann nicht.“, erwidere ich betrübt.
„Nun… Schade. Vielleicht ein anderes Mal?“, fragt er und die pure Hoffnung ist seinen Worten herauszuhören.
„Ja, bestimmt.“
„Schön. Dann freue ich mich schon darauf.“ Er steht auf, nimmt meine Hand und schüttelt sie. „Ich wünsche Ihnen weiterhin einen schönen Tag.“ Damit entfernen sich seine Schritte.
Ich seufze leise, als jemand kurz darauf von hinten seine Hände auf meine Schultern legt. Ohne mich umzudrehen weiß ich, wer es ist.
„Andy, es ist so ungerecht.“, entfährt es mir und ich stehe auf.
„Warum sagst du es ihm nicht einfach? Es wäre besser.“
Ich hacke mich bei ihm ein und zusammen spazieren wir langsam über den Spazierweg, den ich nun schon in und auswendig kenne. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und danke Gott, dass er mir Andy geschickt hat, um mir in meinen Leben zu helfen – zumindest für die nächsten Wochen. Die Tatsache, dass Andy es nicht wirklich freiwillig macht, verdränge ich voll und ganz. Ich weiß ja, in einigen Wochen wird er seine Sozialstunden abgearbeitet haben und dann wahrscheinlich nicht mehr ins Heim kommen. Bis es aber so weit ist, will ich die Zeit mit ihm genießen.
„Ich… Es ist nicht so einfach.“, versuche ich zu erklären. Ja, es ist wirklich nicht einfach. Wie würde er reagieren?
„Denkst du, er rennt gleich weg?“ Andy lacht leise. Dieses Mal aber kann ich nicht mitlachen. Er hat meine größte Angst ausgesprochen.
„Hey…“ Er drückt mich sanft an sich. „Etwas Gutes gibt es aber noch immer, oder?“
Ich grinse.
„Ja. Ich kann gut schauspielern, nicht wahr?“
„Ich finde, du kommst einfach nur gut mit deiner Situation zurecht.“
Und irgendwie hat er ja sogar Recht, denn, würde es nicht so sein, würde ein jeder sofort merken, dass ich blind bin.