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Es wird generell zu viel nachgedacht
Seit zweieinhalb Wochen sind wir jetzt auf Tour, und ich hatte mich tatsächlich schon in Sicherheit gewähnt.
Jeden Morgen erwachst du in einem schwankenden Bus, schiebst den Vorhang zur Seite und siehst eine fremde Landschaft an dir vorüberziehen; du kannst die Nummernschilder nicht zuordnen, und du hast keine Ahnung, wo es hingeht; alles was du weißt, ist: Heute Abend wird wieder gerockt! Dann schwingst du dich aus deiner Koje und fängst an, den Kater vom Vorabend zu verscheuchen.
Du lebst den Traum. Alles prima. Das war der Plan ...
Aber einen Morgen gibt es auf jeder Tour – da schwingst du dich aus deiner Koje und weißt ganz genau: Hier stimmt doch was nicht!
Lastendes Schweigen.
Der Tag des Tourkollers ist gekommen.
Dieser Tag war heute.
Ich schwinge also gerade meinen Arsch aus der Koje, da begrüßt mich unser Basser mit dem schlimmsten Satz, den jemals ein Mensch zu mir gesagt hat. Ich meine, jeder hat doch so eine Liste mit schlimmen Sätzen, und auf der sind Wir müssen reden oder Was denkst du gerade ziemlich weit oben. Vor heute Morgen dachte ich ja noch, dass Was denkst du gerade nicht von seinem Ehrenplatz verdrängt werden könnte – weit gefehlt. Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat, unser Basser?
"Ich habe nachgedacht."
Ehrlich wahr, das hat er gesagt: "Ich habe nachgedacht."
Da wurden mir zwei Dinge klar. Erstens: Es wird generell zu viel nachgedacht. Und zweitens: Scheißtag.
Wenn Judas Priest der Tourbus zu eng wird, dann kommen da wenigstens Klassiker wie Livin' After Midnight bei raus. Nicht bei unserem Basser – der hatte nachgedacht.
Und der Rest der Truppe? Tja, der hatte wohl auch nachgedacht, denn alle hockten sie mit diesem "Es hätte alles ganz anders laufen können"-Blick auf ihren Sitzen – und sie blickten und starrten, und überhaupt konnte man von überall her diese Frage hören: "Haben wir das so gewollt?"
Ich sag ja: Scheißtag.
"So?", frage ich also unseren Basser. "Und was hast du ermittelt?"
"Ach, ich weiß auch nicht", sagt er, und ich lege eine neue Liste an: Die Liste der schlimmsten einleitenden Sätze. Platz eins: Ach, ich weiß auch nicht ... "Weißt du, was mir gestern passiert ist?", fragt er. "Ich geb so einem Fanzine ein Interview. Das war kurz nach dem Gig. Da fragt der Kerl mich, wo wir denn noch überall auftreten würden? Und ich sag so: Essen, Dortmund ... Da schaut er auf und sagt: Wir sind hier in Dortmund!"
"Aha", sage ich und lege mir die Duffy-Duck-Ansprache zurecht. Denn gleich kommt wieder diese "Ich weiß nicht, wo ich bin und wo's hingeht"-Nummer. Die hatten wir schon auf der Tour 2005.
"Weißt du, ich bin irgendwie ohne Orientierung. Wir fahren rum und haben Spaß, okay, aber ... Na ja, ich weiß auch nicht. Das ist halt auch irgendwie im übertragenen Sinne zu sehen ... Nicht zu wissen, wo man gerade ist."
So was kommt also dabei raus, wenn man nachdenkt. Ach Herrje ...
"Tja", sage ich, "Duffy Duck meinte mal: Wenn du ein Rockstar bist und ein Konzert gibst, aber nicht weißt, in welcher Stadt du gerade bist – dann ruf einfach: Thank you Detroit! Du liegst zu siebenundvierzig Prozent richtig."
"Duffy Duck?"
"Duffy Duck", sage ich, obwohl's eigentlich Duck Dodgers war; in der Folge mit Dave Mustaine. "Der Punkt ist doch: Scheiß was drauf, wo du bist! Was kümmert's dich, unter welchem Namen diese Ansammlung von Burger Kings, Pimkies und Footlockers heißt? Ist doch eh immer dasselbe."
"Na, darum geht’s ja auch gar nicht."
"Ich weiß", sage ich, "der übertragene Sinn. Übertrag mal das: Willst du rumrocken?" Dieser Koller hier ist eindeutig einfacher zu handhaben, als die 2005'er Ausgabe.
"Na, klar will ich rocken."
"Also, was schert's dich, wo du's tust?"
Er pausiert kurz, und fragt dann: "Duffy Duck?"
Ich nicke. "Duffy Duck." Obwohl's eigentlich Duck Dodgers war.
Einen hatte ich.
Ich überlasse unseren Basser seinen Gedanken, wanke nach vorne und merke: Unser Sänger hat tatsächlich auch nachgedacht. Da sitzt er und blättert in seinem Heine-Gedichtband. Genau wie bei der großen Textkrise auf der Tour 2003. Obwohl's damals auch Schiller gewesen sein könnte. Es wallet und siedet und brauset und zischt ... Das hatte es ihm damals angetan. Oh Mann.
Ich setze mich also neben ihn, greif mir eine seiner Kippen und frage: "Alles in Ordnung?"
Und er legt gleich los: "Hör dir das mal an: Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht, Wir weben Deutschlands Leichentuch, Und weben hinein den dreifachen Fluch. Wir weben, wir weben!"
"Hm, cool", sage ich, paffe ein wenig vor mich hin und schaue auf die überholenden Autos hinab.
"Das ist doch ... ist das nicht geil?"
"Sicher", sage ich, und: "Ziemlich."
"Und dann schau dir mal unsere Texte an!"
Ich wusste es. Was ich zu dem Zeitpunkt aber nicht wusste: Wie zum Teufel hatten wir die Krise 2003 bewältigt? Titten; irgendwas hatte unser Fahrer damals über Titten erzählt, und die Sache war gegessen.
"Ich weiß halt einfach nicht, ob ich unsere Texte noch lange bringen kann. Ich hab das Gefühl, dass ich ... irgendwie mehr bringen müsste. Was Gehaltvolles. Das kann's doch nicht sein."
Da fällt's mir wieder ein. Na klar: Titten!
"Ich will dir ja nicht zu nahe treten", sage ich. "Und dein Heine hat's auch echt drauf. Aber wen interessieren denn schon die Texte, wenn wir erstmal rumrocken? Ich meine, schau mal!" Und jetzt komme ich zu den Titten: "Texte im Rock sind wie der Nacken einer Frau. Sicher, wenn sie im Abendkleid vor dir steht, und du weiter nichts zu sehen bekommst, ist so ein Nacken echt mal 'ne feine Sache. Aber wenn ihr in der Kiste seid, und nackt, und zur Sache geht – was schert dich denn da noch der Nacken?" Ich glaube, unser Fahrer hat 2003 statt des Nackens die Fesseln genommen. Aber egal ... "Wenn ihr so richtig rangeht, dann schaust du doch eh nur noch auf ... na, du weißt schon."
"Na ja, stimmt schon, aber trotzdem ...", sagt er, und ich lege noch eine Liste an: Die Liste der hilflosesten Erwiderungen. Platz eins: Aber trotzdem ...
"Mach's halt wie diese Weber da. Die machen einfach das, was sie am besten können, und alle lieben sie dafür." War das überhaupt so? Egal. "Und außerdem: Wer hindert dich daran, selbst ein Gedicht zu schreiben? Solang du's heute Abend nicht vortragen willst ..."
Er legt seinen Gedichtband zur Seite, fängt ebenfalls an zu paffen und sinniert zum Fenster hinaus.
Und noch einen hatte ich.
Dieser Koller war wirklich einer der Leichtesten.
Tja, und so ging's dann weiter. Unser Drummer hatte sich anstecken lassen und meinte, irgendetwas im Leben zu verpassen; aber ein Bier und ein Hinweis darauf, dass man zu jeder Zeit und an jedem Ort immer einen atemberaubenden Sonnenauf- oder Untergang verpasst – irgendwo auf der Welt – brachte ihn wieder zurück auf's richtige Gleis. Keine große Herausforderung.
Überhaupt fühle ich mich heute wie ein Glückskeks: Da bröselst du den Leuten irgendwelche Weisheiten vor die Füße, und denen bringt's tatsächlich noch was. Teufel, ich habe sogar die Nummer mit dem Glas gebracht! Sie wissen schon: Für die einen ist das Glas halb leer, für die anderen ist es halb voll. Meinen Kollegen an der Klampfe habe ich so immerhin zu folgendem Schluss bewegen können: "Du weißt halt nie, wann dir die nächste Saite reißt."
So sieht das mal aus.
Und jetzt? Jetzt sind es noch zehn Minuten bis zu unserem Auftritt; unsere Vorband hat die Latte recht niedrig gelegt; der Saal ist ausverkauft und die Meute bester Laune.
Unser Basser hat aufgehört zu denken und gibt wieder irgendwo ein Interview; unser Sänger hat Heine überwunden und kehrt sein Aug' in die Halle, als wär dort ein Publikum, zu hören seine Texte; unser Drummer ist betrunken und muss nur noch von der Leine gelassen werden; mein Co-Klampfer reißt sicher wieder irgendwo ein Groupie auf ... Das kann man nie so genau wissen.
Und ich? Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo wir heute spielen. Das Bier schmeckt widerlich, also könnte es Köln sein, oder Düsseldorf, oder sonstwas. Aber wissen Sie was? – Es ist mir völlig egal. Kein Grund, um mit dem Nachdenken anzufangen.
Und natürlich könnte mir auch jederzeit eine Saite reißen; sicher. Aber es könnte auch jederzeit ein Gitarrenbauer auf mich zukommen, mir ein Endorsement anbieten, eine nagelneue Klampfe in die Hand drücken und sagen: "Hier, nimm die und lauf für mich Werbung!" Das ist eine tolle Sache: Dann hast Du völlig unerwartet ein richtig scharfes Gerät zur Hand, das du am liebsten sofort allen zeigen möchtest; und alles was du dafür tun musst, ist das, was du eh am Besten kannst.
So was passiert.
Auch im übertragenen Sinne ...
Noch fünf Minuten, und alle sind versammelt. Tja, ich schätze, wir sind wieder im Geschäft.
Das Plektrum fliegt, das Schlagzeug kracht; wir rocken emsig Tag und Nacht. Wir rocken, wir rocken!
Und wir haben keine Ahnung, wo wir morgen sein werden.
Thank you Detroit!