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Eskapismus

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27.02.2005
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Eskapismus

Schon nach seiner ersten Begegnung mit einem “Menschen” war Alvin Forelli klar, dass er nicht unter diesen würde leben können. Es lag nun knapp 20 Jahre zurück, dass Alvin zum ersten Mal den strammen Banden mütterlicher Obhut zu entrinnen vermochte und einige zögerliche, aber wagemutige Schritte in das konfuse Wirrwarr hinein tat, das gemeinhin als „Welt“ galt.
Noch heute kann er sich entsetzlich genau an die Szenen erinnern, die da vor seinen glotzenden Kindsaugen abgespult wurden, die auf ihn eindonnerten wie seine eigenen ungelenken Trommelschläge auf elterliches Kochgeschirr. Von der „Welt“, ihrer Anmut und ihrer Glorie, wie er sie aus Schilderungen seiner Eltern, aus Werbespots und Bildercollagen kannte, oder besser gesagt zu kennen glaubte, blieb ihm vor allem eines im Gedächtnis haften: Getrampel. Getrampel und Geschrei und Geglotze und Gedränge.
Wie sie allesamt mit peinlichem Eifer durch die „Straßen“ hetzten, diese „Menschen“, getrieben von einer grausam dominanten Generalhysterie, die, wie Alvin später in Erfahrung brachte, gemeinhin als „Ehrgeiz“ und „Strebsamkeit“ missverstanden wurde. Als säße ihnen jede Sekunde der Totmacher am Genick, hätte ihnen bereits die kratzige Schlinge umgelegt, mit geisterhaft kehliger Stimme drohend, zuzuziehen, sollte auch nur ein Schritt zu wenig getan, ein Atemzug an Gemütlichkeit vergeudet werden, ein einziger Handgriff die maximale Effizienz verfehlen.
Sie trampelten zielstrebig durch die „Welt“, schrien lauthals um die Wette, wie Löwen, die sich gegenseitig durch zorniges Gebrüll einzuschüchtern und auszubooten suchten, glotzten einander giftig an und drängten sich so dicht, dass die Atemluft erschrocken und empört aus ihrer Mitte wich, um sich in höher gelegene, weniger „menschliche“ Gefilde zu flüchten.
Auch Alvin war damals nach Flucht zumute gewesen. Doch der Weg, den er in die „Welt“ hinein genommen hatte, war zu seinem Entsetzen versperrt, zugepfropft mit einem massiven Korken aus „Menschen“fleisch.
Panisch taumelte er zwischen stampfenden Obelisken in Polyester und Nadelstreifen umher, drückte sich gequält die kurzen Finger in die Ohren und erschrak jedes Mal fürchterlich, wenn sein furchtsam nach oben gerichteter Blick den eines „Menschen“ schnitt. Eine Flut aus Schweiß, kaltem Speichel und peitschendem Blut erfasste ihn, trieb ihn vor sich her und versetzte seinen Körper als auch seinen Geist in einen elektrisierten, bis zur Ohnmachtsschwelle angespannten Zustand, der ihm im nachhinein als „Leben“ erklärt wurde. Und über allem schwebte der Totmacher auf einem unsichtbaren Thron, verteilte Schlingen und stierte, trieb die Meute an und hob keifend und Galle spuckend den Strick, wenn einer innezuhalten wagte.
Niemand entging seinem aufmerksamen Blick und hätte Alvin nicht im letzten Moment eine Wärme an seiner Hand gespürt, die er als die seiner Mutter kennen, aber nicht lieben gelernt hatte, der Totmacher wäre zu ihm herabgeklettert und hätte auch ihn mit einer Schlinge angeleint.
20 Jahre später blickt Alvin in das angsterfüllte Gesicht einer Frau, die kein „Mensch“, sondern eine „Liebe“ ist. Wie er herausgefunden hat, ist eine sobeschaffene Nähe um einiges angenehmer als die eines „Menschen“, da man sich mit einer „Liebe“ gegenseitig von den Schlingen befreien kann und der Totmacher einen nicht zu erspähen vermag, wenn man das Gesicht des anderen schützend in seinen Armen verbirgt.
„Was tust du da?“ fragt sie, die Stimme bebend wie der Spiegel eines Wasserglases, wenn man versehentlich mit dem Fuß gegen ein Tischbein stößt.
Er zögert, zu antworten, die Panik schnürt ihm die Kehle zu. Nun, besser sie, als eine Schlinge des Totmachers, wie er findet.
„Guck sie nicht an! Guck ihnen nicht in die Augen!“ stößt er schließlich, beinahe erstickt, hervor.
Der Revolver zittert in seinen Händen. Der schmierige Schweißfilm auf seinen Handflächen hat sich auf das ehemals kalte, nun feuchtwarme Blei übertragen und droht, seinen Griff um die Waffe, seine letzte Verteidigungslinie, zu lösen.
„Sie sind umstellt! Lassen Sie augenblicklich die Waffe fallen und legen sie Hände hinter den Kopf! Es wird Ihnen nichts geschehen, solange Sie sich kooperativ verhalten!“
Die Worte hallen in seinen Gehörgängen nach, als versuchten tausend kleine Echos ihrerseits, den Forderungen des „Polizei“beamten, eines Gehilfen des Totmachers, in seinem Innersten Nachdruck zu verleihen.
Sie starrt ihn an, flehend, dicke Tränen quellen wie Blutstropfen aus einer Wunde, um die man das Fleisch zusammendrückt.
„Alvin... „ beginnt sie, bringt jedoch nicht mehr als seinen „Namen“ hervor. „Namen“, so nennt der Totmacher die Kennnummern in seinem wuchtigen Aktenordner, in dem jeder „Mensch“ aufgelistet und mit Notizen versehen ist. Jeder „Mensch“ hat seinen eigenen, damit der Totmacher Aufrührer früher ausmachen und schneller am Strick rütteln kann.
„Guck sie nicht an!“ brüllt er schließlich, den Revolver nun mit beiden Händen umklammernd.
„Guck ihnen nicht in die Augen! Dann geht die Maschine aus. Die Maschine, die sie „Geist“ nennen, die sie vom Morden, vom Vergewaltigen, vom Plündern abhält. Wenn die Maschine ausgeht, zerbeißen sie ihre Schlingen und stürzen aufeinander los, zerfetzen sich gegenseitig die Kehlen! Lass die Tiere nicht aus ihrem Käfig, die Maschine darf nicht ausgehen! Nicht in die Augen gucken, nicht in die Lichter gucken! Die Maschine muss weiter laufen, lass sie nicht ausgehen, guck ihnen nicht in die Augen!“
Er brüllt, verzweifelt, eingekeilt und praktisch schon am Boden. Die „Menschen“ haben ihn umringt, glotzen, einige trampeln, wenige schreien, aber alle drängen. Er weiß, über der Masse schwebt der Totmacher und hat ihm bereits eine Schlinge angepasst.
Ob er ihr bereits eine umgelegt hat? Da steht sie, am ganzen wunderschönen Leibe zitternd, ausgemergelt und mit tauben Nerven. Ihre Augen starren, aber sie glotzen nicht. Er kennt sie noch nicht lange, doch liebt sie seit jenem ersten Tage, den er unter „Menschen“ verbrachte und sich seither an die Hoffnung klammert, der Totmacher habe nicht nur ihn bei der Schlingenausgabe übersehen.
Und da steht sie nun, ihm gegenüber, und doch an seiner Seite. Wo bislang noch die Verzweiflung des von Feinden in die Ecke gedrängten Beutetieres herrschte, keimt nun eine Kraft, eine Macht, wie sie nur einer erlangen kann, der die „Welt“ einst ohne Schlinge geschaut hat.
Er stürmt auf sie zu, packt sie beim Arm, drückt sie an sich, schießt den ersten „Polizei“beamten, der ihn packen will, nieder und hechtet, atemlos, vorwärts in die Menge. Die „Menschen“ brechen auseinander wie morsches Geäst in einem Herbstwald, sprudeln zur Seite wie steriles Wasser im Schwimmbecken.
Er zieht sie durch die Masse, hält ihr die Augen mit der linken Hand zu, während er mit der rechten umher fuchtelt. Niemandem sieht er in die Augen. Die Maschine läuft weiter und ihr gleichmäßiges Summen beruhigt den mörderischen Drang in den „Herzen“ der „Menschen“.
Endlich brechen sie frei, stürzen davon, kreischend, sich in den Armen liegend und frohlockend. Sie fliehen vor den „Menschen“, vor der „Welt“, hinein ins Leben.

 

Hi Pink Grapefruit,

sprachlich fand ich deine Geschichte gut, inhaltlich leider ein bisschen verworren. So genau habe ich die Geiselname auch bei mehrmaligem Lesen nicht begriffen. Offenbar hantelt es sich um eine Frau, die Alvin liebt. Allerings, was ist Alvin, wenn kein Mensch?
Das Tempo der Zeit als Zivilisationskritik habe ich schon entdeckt. Die Angst vor dem Tod als Motor der Eile auch, andererseits ist mir die fast schon wahrnehmungsgestörte Form der Liebe nicht ganz klar.
Der Mensch ist also in seinem Ursprung roh und wild, gewalttätig und mordend, nur die Eile, die Stricke des Todes hindern ihn daran, das auszuleben? Oder sind es die Stricke, die den Menschen gewalttätig machen? Hier bist du mE etwas zu unklar, nicht dass ich etwas gege Nachdenken hätte, mir scheint aber ein Hinweis zu fehlen.

Lieben Gruß, sim

 

Hi Sim

Erstmal danke für die Resonanz.

Zu den Unklarheiten:
Alvin ist natürlich ein Mensch - durch seine traumatischen Erlebnisse in früher Kindheit (und den offensichtlichen psychischen Knacks) erlebt er seine Mitmenschen allerdings als trampelnde, hetzende, mechanische Ungetüme. Die philosophische Ironie, wenn man so will, liegt darin, dass Alvin eben aufgrund seiner psychischen Störung die "gesunden" Menschen als das entlarvt, wozu sie die moderne High Speed-Gesellschaft gemacht hat.

Deine Interpretation bzgl. der natürlich Brutalität des Menschen, die Alvin verkörpert, geht an meiner Intention vorbei. Die Geschichte dreht sich um die Gesellschaft und wie die Menschen in ihr zu Unmenschen verkommen. Alvin ist lediglich Beobachter, seine Charaktereigenschaften gänzlich individuell und nicht repräsentativ.

Was die Liebe angeht: als wahrnehmungsgestört war Alvins Verhältnis zu der Frau keineswegs gedacht. Au contraire: die Liebe soll als emotionales, menschliches Gegengewicht zum verzehrenden Gesellschaftsstrudel dargestellt werden. Während im Berufsleben, der nicht enden wollenden Eile des modernen Lebens, kaum Zeit für wahre Menschlichkeit bleibt, steht die Liebe für das letzte Refugium von Spiritualität, Privatssphäre und Wärme.

 

Hi Pink Grapefruit,

meine Interpretation kam nicht von ungefähr. Diese Stelle hat mich darauf gebracht.

„Guck ihnen nicht in die Augen! Dann geht die Maschine aus. Die Maschine, die sie „Geist“ nennen, die sie vom Morden, vom Vergewaltigen, vom Plündern abhält. Wenn die Maschine ausgeht, zerbeißen sie ihre Schlingen und stürzen aufeinander los, zerfetzen sich gegenseitig die Kehlen! Lass die Tiere nicht aus ihrem Käfig, die Maschine darf nicht ausgehen!
Alvin versucht, seine geliebte vor den Menschen zu beschützen, deshalb soll sie ihnen nicht in die Augen sehen. Gleichzeitig darf aber die "Maschinerie nicht ausgehen, die die Menschen von ihrem Ursprung abhält. Der Absatz ist so formuliert, dass der Mensch ohne die Industrialisierung, ohne die Eile, ohne das, was Alvin unter den Menschen als negativ empfindet, noch zerstörerischer würde. Er würde über die anderen Menschen herfallen.

Vielleicht ist an der Stelle etwas noch unklar oder missverständlich?

Lieben Gruß, sim

 

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