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- 31.08.2008
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- Anmerkungen zum Text
Estrella bekam fünf Töchter. Die jüngste wurde schon mit 18 Jahren, um ihre Kontakte zu Zapatisten zu beenden, nach Spanien geschickt. In Pamplona fand sie sich schnell in den Kreisen der ETA. Später wurde sie meine Schwägerin.- Als ich mich auf eine Reise nach Mexiko vorbereitete, warnte sie vor dem Norden, dort solle ich nicht hinfahren: "Torreón es horrible!" sagte sie über ihre Heimat. Die Empfindung der Mutter war in ihr lebendig.
Estrella
„Und?“ Piedros Augen drangen verzweifelt in Marias ein. Maria zuckte mit den Schultern. Gerade hatte sie Estrella Tee serviert, ihr einen guten Morgen gewünscht, aber keine Antwort erhalten. So kam sie bedrückt die Treppe herunter, stand einen Augenblick vor Piedro, dann wandte sie sich ab und setzte ihren Weg in die Küche fort. Piedro ging in den Salon, wo die Familie bereits frühstückte. Man unterhielt sich fröhlich, oder versuchte es zumindest, und vermied ein Thema völlig: Estrella.
Piedro konnte nichts essen. Vor seinem inneren Auge sah er die Bilder, die von seinen Begegnungen mit Estrella geblieben waren, wie sie sich kennengelernt hatten in der Heimat, im nordspanischen Pamplona, sich verliebt, geliebt, schließlich, bei seinem zweiten Besuch in Spanien, geheiratet hatten. Es war eine große Hochzeit, mit an die eintausend Gästen, die zahlreiche Verwandschaft Estrellas, und einige Dutzend aus seiner Familie aus Mexiko waren auch dabei gewesen, hatten dafür die weite Reise über das Meer angetreten. Dreihundert Jahre ging das schon so: man lebte im Norden Mexikos, war erfolgreich dort, aber für die Brautschau hielt man sich an den Ursprung, an die wahre Heimat, an Pamplona.
Er erinnerte sich, wie sie ihn nach der Größe seiner Hazienda gefragt hatte, er hatte zurück gefragt: „Wie lange brauchst Du, um einmal die Grenze eures Hofes abzureiten?“, sie hatte ohne zu zögern geantwortet: „eine halbe Stunde“, dann hatte er gestockt, sie fragte noch einmal: „wie lange?“, und er hatte geantwortet: „eine Woche“. Das hatte sich gut angefühlt, ihren bewundernden Blick hatte er noch tief in sich, aber Größe ist nicht alles, das hatte er auch in dem Augenblick gewusst. Er ging nach draußen, es gab viel zu tun, sein Pferd war schon gesattelt, er musste in die Stadt, nach Torreón, um sich um die Maisladungen zu kümmern, die von der Hazienda aus nach ganz Mexiko verkauft wurden, ein Teil auch nach Übersee.
Estrella schlürfte den Tee. Wie lange hatte er gestanden? Er schmeckte bitter und war fast kalt. Vielleicht sollte sie sich einen Kaffee brühen lassen und ihn dann gleich trinken, nicht erst nach einer halben Stunde. Ihr Blick schweifte zum Fenster. Bis zum Horizont braune, verbrannte Erde. Nichts. Alles ein großes, gewaltiges Nichts. Eine Woche würde man reiten, um die Hazienda ihres Mannes, nun also auch ihre, zu umrunden. Das hatte er gesagt. Aber was nützt die Größe, wenn es nur Wüste ist? Es ist Herbst, hatte er geantwortet. Warte ab, warte auf den Frühling, dann blüht hier alles. Das konnte sie nicht glauben, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass hier auch etwas wachsen musste, denn auf verbrannte Erde gründet sich kein Reichtum, und reich war ihre neue Familie, daran gab es keinen Zweifel. Sie hatte auf dem Weg hierher aufmerksam alles angeschaut, einige Tage hatten sie in Mexiko-Stadt die Fahrt unterbrochen, weil Piedro Geschäfte zu erledigen hatte, sie hätte gern verweilen wollen auf den Märkten, aber Piedro war ungeduldig, ihn hatte es gedrängt, nach Hause zu kommen, sie seiner Familie vorzustellen, und, natürlich, sich an die liegen gebliebene Arbeit zu machen. Den Namen „Santos“ hatte sie auf den Säcken erspäht, wo immer Mais gehandelt wurde, und gewusst, dass dies von der Hazienda ihres Mannes kam. Stolz hatte sie dabei gespürt, der Name ihrer Familie, überall im Land zu finden, überall die Grundlage für Tortillas.
Estrella rief nach Maria, bat um einen Kaffee, versank wieder in Gedanken. Als sie Mexiko-Stadt verlassen hatten, mit dem Zug nach Norden fuhren, Stunden, Tage vergingen und die Landschaft immer einsamer und trockener wurde, hatte sich eine tiefe Verzweiflung ihrer bemächtigt. Piedro hatte sich bemüht, sie bei Stimmung zu halten, hatte von lustigen Begebenheiten mit seiner Familie erzählt, den vielen Nichten und Neffen, die alle zusammen lebten. Er hatte sie nicht halten können; sie entglitt ihm von Tag zu Tag mehr. Als sie endlich angekommen waren, eine große fröhliche Gruppe sie am Bahnhof empfing, war sie geistig abwesend, sah alles nur noch durch einen Schleier, hörte nichts mehr als ein Gewirr fremder Stimmen. Man hatte sie entschuldigt, die weite Reise habe ihr zugesetzt, sie auf ihr Zimmer gebracht – und da saß sie nun, seit Sonntag, schaute aus dem Fenster und aß nicht mehr.
Jeden Tag klopfte Piedro an ihre Tür, hatte ihren verschwommenen, abweisenden Blick erlebt und nichts mehr sagen können, anfangs kam er abends, heute, Mittwoch, kam er schon nach dem Mittagessen, um ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden, bemühte sich um ein paar tröstende Worte, und, nachdem sie beide einen Augenblick schweigend dagesessen hatten, ging er wieder.
Freitagmittag schlug Piedro vor, zusammen auszureiten, sie hatte nur das Gesicht abgewandt. Sich so, blass und schwach, dem Gesinde zu zeigen, das hätte Piedro sich denken können, wie sie das empfinden würde. Sie schaute wieder aus dem Fenster, auf den Horizont, in der Ferne Kämme der Kordillieren, dahinter das Meer, über das sie hierher gefahren war, wieder in ihre Heimat fahren könnte. Piedro ging.
Sonntagmorgen kam Piedro und bat sie, mit in die Kirche zu kommen. Mit dunklen, verheulten Augen blickte sie ihn an. Piedro hatte nun jeden Stolz vergessen, ihn scherte nicht mehr, was die Menschen dachten und redeten, er fühlte, dass er diese Frau immer noch liebte, dass sie sich nicht ineinander getäuscht, sondern sich wirklich erkannt hatten. War in ihrem Blick so etwas wie „Verzeih mir!“ enthalten, so sandte er ihr ein „Ich verstehe Dich. Ich liebe Dich!“ zurück, das ihr inneren Frieden gab. Piedro verließ die Kammer, um mit der Familie zur Kirche zu fahren – sonntags wurde die Kutsche aus der Scheune geholt, geputzt, die Pferde davor gespannt; sonntags wurde nicht geritten.
Mittags, als die Familie vom Gottesdienst zurückkehrte, kam Maria aufgeregt zu Piedro, mit strahlendem Gesicht kam sie ihm ganz nah, um dann ganz leise zu flüstern: „Estrella hat gegessen!“ Piedro wusste sich vor Glück nicht zu halten, wollte aber nichts den anderen mitteilen, so behielt er seine Freude für sich. Die zarte Pflanze nicht in die pralle Sonne stellen … auch zu Estrella ging er an diesem Tag nicht mehr.
Am Montag begann alles wie gewohnt, die Familie hatte gemeinsam gefrühstückt, Piedros Mutter hatte Piedro sorgenvoll angeschaut dabei halblaut gesagt „Es ist jetzt eine Woche“, Piedro hatte in seinen Kaffee geschaut, aber Estrella hatte Maria gebeten, ihr ein Frühstück auf ihr Zimmer zu bringen. Danach hatte Estrella aufrecht und bestimmt vor Maria gestanden und gesagt: „Bringe mir meine Reitsachen!“ Maria war erschrocken in die Diele geeilt, wo alles bereit lag, auch die Stiefel, die Estrella aus Spanien mitgebracht hatte. Estrella hatte sich angezogen und dann, ebenso bestimmt, gesagt: „Jetzt bringe mich zum Pferdestall.“ Dort angekommen hatte Estrella sich mit kundigem Blick einen Hengst ausgesucht und zielsicher seinen Sattel vom Haken genommen. Der Knecht hatte sie bemerkt, hatte erschrocken gerufen „warten Sie, das mache ich doch!“, dann, als sie sich anschickte, eine Stufe von einem Meter hinunterzuspringen, „warten Sie, dort hinten ist doch eine Treppe!“, doch Estrella war gesprungen, mit den blank geputzten Stiefeln mitten in einen Haufen Pferdemist, und ehe der staunende Knecht ihr den Sattel abnehmen konnte, hatte sie ihn schon dem Hengst auf den Rücken geworfen, einige Augenblicke später ritt sie aus dem Stall, in die Weite der Landschaft, in ihr Land.