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Etwas ist anders
Etwas ist anders
Ich tauche langsam auf. Es wird hell hinter meinen Lidern. Ich bin entspannt und gelöst. Die Gedanken kommen, noch wirr, aber ich ordne sie. Langsam öffne ich die Augen und schaue an die Decke, dann zum Fenster hinaus und fühle mich wohl. Das Gefühl des Traumes hält mich noch in seinen Armen. Ich war am Meer. Ich spürte den Wind, den würzigen Duft der See. Hörte die ohrenbetäubende Brandung, die mit aller Macht an die Felsen schlug. Es war ein Genuß der Sinne. Ein Gefühl der Zufriedenheit hält mich noch umschlungen.
Langsam gleite ich in die Realität, in mein Zimmer, mein Bett. Die Brandung ist fort. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe die Decke höher und schiebe eine Hand unter das Kissen. Die Vorhänge sind zurückgezogen und ich kann die Vögel sehen, wie sie in den Zweigen der großen Birke turnen.
Ein Gedanke schiebt sich durch die weiche Wand meiner Zufriedenheit. Etwas ist anders.
Es kommt ein sonderbares Gefühl von Unsicherheit über mich. Nun bin ich hellwach. Etwas ist anders. Ich schaue wieder aus dem Fester und beobachte die Vögel...Sie singen nicht. Es ist ein strahlend schöner Morgen. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. Die Vögel singen immer an einem solchen Tag. Ich richte mich auf und schlage die Decke zurück. Da ist kein Rascheln des Stoffes, nicht das gewohnte Ächzen der Matratze. Ich höre nichts. Alles ist still. Ich klopfe mit der Hand auf die Bettdecke, nichts, kein Geräusch. In mir steigt Unruhe auf, aber ich unterdrücke die Angst. Es besteht kein Grund dazu. Ich weiß es. Ich bin gesund. Mein Arztbesuch liegt nur Tage zurück. So etwas gibt es. Eine vorübergehende Störung. Sowas ist nach einigen Stunden wieder vorbei. Stille, Nichts. Manchmal sehne ich mich nach Stille, aber nicht nach dieser. Meine Stille hat Geräusche, leise, aus der Ferne, Geräusche, die man nur in der Stille wahrnimmt. Eine Stille, die die Sinne öffnet.
Ein Schlaganfall? Nein, ich bin gerade mal vierzig. Trotzdem will ich zum Arzt.
Ich wasche mich, kleide mich an, frühstücke nicht.
Zur Praxis ist es nicht weit, nur die Straße hinunter und durch die Fußgängerzone. Lautlos gleiten die Autos dahin. Es sind nur wenige. Weniger als sonst. Es ist ein seltsames Gefühl, die Welt ohne Klang zu erleben, so, als gehöre ich nicht dazu. Ich bin Zuschauer eines Stummfilms, der mich aufsaugt. Die wenigen Menschen, die mir begegnen sind ernst und hasten vorbei. Ich halte mich dicht an der Häuserreihe. Fürchte, von einem Rad oder Skater angefahren zu werden. Ich würde sie nicht rechtzeitig bemerken. Doch es sind keine Skater oder Radfahrer unterwegs. Eine Bewegung links von mir macht mich aufmerksam. Ein Auto steht auf der Straße und ein kleiner Junge zitternd davor. Beide, Fahrer und Kind sehen maßlos erschrocken aus. Hatte der Junge die Hupe nicht gehört? Hatte der Fahrer überhaupt gehupt? Hatte überhaupt jemand etwas gehört? Mir fällt auf, daß sich die Menschen seltsam aufmerksam benehmen. Sie gehen vorsichtig, schauen sich um, blicken zurück. Immer wieder. Eine Frau geht an mir vorbei. Sie führt ein Kind an der Hand. Die Frau weint. Ich sehe es ganz deutlich. Sie wird nicht von Weinkrämpfen geschüttelt aber auf ihrem Gesicht sind Tränen.
In der Fußgängerzone bleibe ich stehen und beobachte die Menschen. Ich schaue in ihre Gesichter. Kein Lächeln, keine Zufriedenheit, einige Tränen. Vor dem Schaufenster eines Geschäftes steht ein junger Mann, wohl kaum zwanzig Jahre alt. Es wirkt grotesk, wie er immer wieder den Mund zu stummen Schreien öffnet. Kaum einer beachtet seine Verzweiflung. Die Stille ist nicht nur um mich. Ich denke an eine Seuche, an Radioaktivität. Vor einem Kiosk stehen Leute und gestikulieren. Keine Schlagzeile, die erklärt. Keine Überschrift, die warnt. Die Welt ist still. Ich erinnere mich nur schwach an das Brausen des Verkehrs, die Stimmen der Menschen, wenn sie sich unterhalten, Kinder die laut lachen, Musik aus dem Radio. Eine Welt, die lebt.
Nahe der Kirche, unter einem Baum sitzt ein alter Mann auf einer Bank. Gedankenverloren hält er eine Rose in seinen faltigen Händen. Auch er beobachtet die Menschen, doch wirkt er sonderbar gelassen. Es scheint, als wäre in ihm keine Angst, eher Wissen und Mitleid. Jetzt sieht er mich an. Als unsere Blicke sich treffen lächelt er ernst und nickt mir zu. Ich setze mich neben ihn und fühle mich allein durch seine Gegenwart auf unerklärliche Weise beruhigt. Nicht mehr allein in dieser Welt, die ich von einer Stunde auf die andere nicht mehr wiedererkenne. Ich habe Papier und einen Stift in meiner Tasche.
Ich schreibe deutlich: „Was ist passiert?“
Der Mann liest, schaut auf seine Blume, riecht daran und reicht sie mir. Er bedeutet mir, auch zu riechen. Das zarte und frische Aroma der Blüte bleibt mir verschlossen. Hat die Blume keinen Duft? Es gibt keinen Duft. Für mich nicht und für niemanden. Ich weiß es. Der alte Mann schaut mich an, als ob er wüßte, was ich denke. Dann nimmt er Papier und Stift und schreibt. Er hält mir den Zettel hin, nickt ernst und deutet auf den Himmel. Ein diffuses Blau, noch immer ohne Wolken. Doch etwas ist anders. Ich sehe die Sonne. Ich schaue direkt hinein. Sie ist hell, aber sie hat keine Kraft. Die Schatten auf der Erde sind schwach. Im Blick des alten Mannes ist nun Trauer.
Ich schaue auf den Zettel:
„Es ist soweit. Das Ende.“
[ 17.07.2002, 19:48: Beitrag editiert von: Dreimeier ]