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Etwas ist anders

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23.07.2001
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Etwas ist anders

Etwas ist anders

Ich tauche langsam auf. Es wird hell hinter meinen Lidern. Ich bin entspannt und gelöst. Die Gedanken kommen, noch wirr, aber ich ordne sie. Langsam öffne ich die Augen und schaue an die Decke, dann zum Fenster hinaus und fühle mich wohl. Das Gefühl des Traumes hält mich noch in seinen Armen. Ich war am Meer. Ich spürte den Wind, den würzigen Duft der See. Hörte die ohrenbetäubende Brandung, die mit aller Macht an die Felsen schlug. Es war ein Genuß der Sinne. Ein Gefühl der Zufriedenheit hält mich noch umschlungen.
Langsam gleite ich in die Realität, in mein Zimmer, mein Bett. Die Brandung ist fort. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe die Decke höher und schiebe eine Hand unter das Kissen. Die Vorhänge sind zurückgezogen und ich kann die Vögel sehen, wie sie in den Zweigen der großen Birke turnen.
Ein Gedanke schiebt sich durch die weiche Wand meiner Zufriedenheit. Etwas ist anders.
Es kommt ein sonderbares Gefühl von Unsicherheit über mich. Nun bin ich hellwach. Etwas ist anders. Ich schaue wieder aus dem Fester und beobachte die Vögel...Sie singen nicht. Es ist ein strahlend schöner Morgen. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. Die Vögel singen immer an einem solchen Tag. Ich richte mich auf und schlage die Decke zurück. Da ist kein Rascheln des Stoffes, nicht das gewohnte Ächzen der Matratze. Ich höre nichts. Alles ist still. Ich klopfe mit der Hand auf die Bettdecke, nichts, kein Geräusch. In mir steigt Unruhe auf, aber ich unterdrücke die Angst. Es besteht kein Grund dazu. Ich weiß es. Ich bin gesund. Mein Arztbesuch liegt nur Tage zurück. So etwas gibt es. Eine vorübergehende Störung. Sowas ist nach einigen Stunden wieder vorbei. Stille, Nichts. Manchmal sehne ich mich nach Stille, aber nicht nach dieser. Meine Stille hat Geräusche, leise, aus der Ferne, Geräusche, die man nur in der Stille wahrnimmt. Eine Stille, die die Sinne öffnet.
Ein Schlaganfall? Nein, ich bin gerade mal vierzig. Trotzdem will ich zum Arzt.
Ich wasche mich, kleide mich an, frühstücke nicht.
Zur Praxis ist es nicht weit, nur die Straße hinunter und durch die Fußgängerzone. Lautlos gleiten die Autos dahin. Es sind nur wenige. Weniger als sonst. Es ist ein seltsames Gefühl, die Welt ohne Klang zu erleben, so, als gehöre ich nicht dazu. Ich bin Zuschauer eines Stummfilms, der mich aufsaugt. Die wenigen Menschen, die mir begegnen sind ernst und hasten vorbei. Ich halte mich dicht an der Häuserreihe. Fürchte, von einem Rad oder Skater angefahren zu werden. Ich würde sie nicht rechtzeitig bemerken. Doch es sind keine Skater oder Radfahrer unterwegs. Eine Bewegung links von mir macht mich aufmerksam. Ein Auto steht auf der Straße und ein kleiner Junge zitternd davor. Beide, Fahrer und Kind sehen maßlos erschrocken aus. Hatte der Junge die Hupe nicht gehört? Hatte der Fahrer überhaupt gehupt? Hatte überhaupt jemand etwas gehört? Mir fällt auf, daß sich die Menschen seltsam aufmerksam benehmen. Sie gehen vorsichtig, schauen sich um, blicken zurück. Immer wieder. Eine Frau geht an mir vorbei. Sie führt ein Kind an der Hand. Die Frau weint. Ich sehe es ganz deutlich. Sie wird nicht von Weinkrämpfen geschüttelt aber auf ihrem Gesicht sind Tränen.
In der Fußgängerzone bleibe ich stehen und beobachte die Menschen. Ich schaue in ihre Gesichter. Kein Lächeln, keine Zufriedenheit, einige Tränen. Vor dem Schaufenster eines Geschäftes steht ein junger Mann, wohl kaum zwanzig Jahre alt. Es wirkt grotesk, wie er immer wieder den Mund zu stummen Schreien öffnet. Kaum einer beachtet seine Verzweiflung. Die Stille ist nicht nur um mich. Ich denke an eine Seuche, an Radioaktivität. Vor einem Kiosk stehen Leute und gestikulieren. Keine Schlagzeile, die erklärt. Keine Überschrift, die warnt. Die Welt ist still. Ich erinnere mich nur schwach an das Brausen des Verkehrs, die Stimmen der Menschen, wenn sie sich unterhalten, Kinder die laut lachen, Musik aus dem Radio. Eine Welt, die lebt.
Nahe der Kirche, unter einem Baum sitzt ein alter Mann auf einer Bank. Gedankenverloren hält er eine Rose in seinen faltigen Händen. Auch er beobachtet die Menschen, doch wirkt er sonderbar gelassen. Es scheint, als wäre in ihm keine Angst, eher Wissen und Mitleid. Jetzt sieht er mich an. Als unsere Blicke sich treffen lächelt er ernst und nickt mir zu. Ich setze mich neben ihn und fühle mich allein durch seine Gegenwart auf unerklärliche Weise beruhigt. Nicht mehr allein in dieser Welt, die ich von einer Stunde auf die andere nicht mehr wiedererkenne. Ich habe Papier und einen Stift in meiner Tasche.
Ich schreibe deutlich: „Was ist passiert?“
Der Mann liest, schaut auf seine Blume, riecht daran und reicht sie mir. Er bedeutet mir, auch zu riechen. Das zarte und frische Aroma der Blüte bleibt mir verschlossen. Hat die Blume keinen Duft? Es gibt keinen Duft. Für mich nicht und für niemanden. Ich weiß es. Der alte Mann schaut mich an, als ob er wüßte, was ich denke. Dann nimmt er Papier und Stift und schreibt. Er hält mir den Zettel hin, nickt ernst und deutet auf den Himmel. Ein diffuses Blau, noch immer ohne Wolken. Doch etwas ist anders. Ich sehe die Sonne. Ich schaue direkt hinein. Sie ist hell, aber sie hat keine Kraft. Die Schatten auf der Erde sind schwach. Im Blick des alten Mannes ist nun Trauer.
Ich schaue auf den Zettel:
„Es ist soweit. Das Ende.“


[ 17.07.2002, 19:48: Beitrag editiert von: Dreimeier ]

 

Hallo, Dreimeier!

Deine KG ist genial, stilistisch perfekt und überwältigend.
Meine Gänsehaut wird sicher bis morgen anhalten.

Ciao
Antonia

 

Hi Dreimeier,

einfach super. Hat mir auch sehr gefallen. Bis zum Ende total spannend.

"Es ist soweit. Das Ende."
Wow :eek: . Der Satz haut echt rein.

MFG Kathryn

 

Hallo Antonia,
ich hoffe, Deine Gänsehaut hat sich inzwischen gelegt.
Ich muß aber zugeben, dass ich mich gefreut habe, dass Du sie hattest.
Danke für Deine Kritik.

Hallo Kathryn,
seit Wochen nehme ich mir vor zum Optiker zu gehen. Ich brauche dringend neue Gläser.
Ein Kollege hat mir gestern erzählt, ihm gehe es genauso.
Meine Schwiegermutter hört immer schlechter.
Langsam bekomme ich Angst.
Löst sich alles auf?

Schön, dass ich Euch unterhalten konnte.
Danke fürs Lesen.
Gruß Manfred

 

Sehr sehr stimmig und poetisch beschrieben. So könnte ich mir das Ende vorstellen.

Hat mir sehr gut gefallen.

 

Hallo Dreimeier,

zuerst dachte ich, dein Protagonist sei gestorben. Dass sich die Geschichte dann so auflöst, hat mich überrascht. Hübsche Idee. Der Schluss hat mir auch recht gut gefallen.
Aber ist dir mal aufgefallen, dass du sehr viele Sätze mit "Ich" beginnst? Allein im ersten Absatz sechsmal. Vielleicht könntest du da noch ein wenig mehr Abwechslung reinbringen.

Grüße
Cat

 

Aber ist dir mal aufgefallen, dass du sehr viele Sätze mit "Ich" beginnst? Allein im ersten Absatz sechsmal. Vielleicht könntest du da noch ein wenig mehr Abwechslung reinbringen.
Stört mich auch ein bisschen.

Ansonsten: Tolle Story!
Diese Vorstellung vom (ominösen, nicht genauer definierten, aber allen wohl bekannten) Ende ist eine der gruseligsten.

 

Hallo André
Hallo Cat,
Hallo Leif,
Wenn ich eine Geschichte schreibe, dann habe ich oft eine bestimmte Vorstellung, wie sie gelesen werden sollte und in welcher Stimmung.
Ich gebe zu, daß ich vom Schreiben eigentlich keine Ahnung habe. Also, was wirklich ein Spannungsbogen ist, Einleitung Formulierungen u.s.w. Literatur im Allgemeinen- keine Ahnung. In meiner Schulzeit wurde da glaube ich nichts gebracht. Also mache ich alles aus dem Bauch heraus. Das bedeutet, daß ich beim Schreiben selbst in der Stimmung bin, die ich mir zum Lesen oder Erleben der jeweiligen Geschichte wünsche. Das hier viele Sätze mit „Ich“ beginnen ist Absicht und gehört m.E. zu diesem Stiel. Aus den o.g. Gründen kann ich aber nicht genau erklären warum. War halt mein Gefühl und bei mir im Bauch.
Ich bin aber trotzdem stolz, daß sie Euch gefallen hat.
Viele Grüße und danke
Manfred

 

Hi Dreimeier,

auch mir hat Deine Geschichte sehr gefallen. Auf den Schluß wäre ich wirklich nie im Leben gekommen! :) Daß so viele Sätze mit "Ich" anfangen, hab ich jetzt überhaupt nicht als störend empfunden...

Gruß,
stephy

 

Hi Dreimeier,

faszinierende Idee, Geschichte mit sehr gutem Schluss. Zu kritisieren sehe ich nichts. Die Ich´s sind mir beim ersten Lesen nicht aufgefallen. Wenn man dann so darauf geschubst wird, sieht man es zwar, hätte es als gewolltes Stilmittel gesehen, dem Leser die Identifikation mit dem Protagonisten auf zu drängen.

Gruß vom querkopp

 

Hallo Dreimeier,

mir hat deine Geschichte deshalb so gut gefallen, weil du das Ende eben lautlos beschreibst und nicht mit dem zu erwarteten Erdbeben und Donner und Groll und sonst noch was... Find ich echt klasse!

Die vielen "Ich's" sind mir auch nicht aufgefallen. Liest sich gut deine Geschichte! Echt klasse!

Güße, Korina. :)

 

Wenn man aus der Ich-Perspektive erzählt, findet man natürlich auch viele "Ich's" in der Geschichte, oder? ;) Ich seh' da echt kein Problem. Ist doch ganz normal.

Gruß,
stephy

 

Hallo zusammen,
ich finde es richtig toll, daß meine Geschichte so viel Interesse findet und danke für das Verständnis für die Ichs.
Natürlich auch fürs Lesen.
Grüße Manfred

 

Ich bin durch Stephys Empfehlung auf diese Geschichte gestoßen und mich hat sie gleichermaßen beeindruckt.
Vor allem die letzten Sätze sind erschütternd. Es wäre viel erträglicher, wenn "das Ende" mit apokalyptischem Donnergrollen einher ginge, als mit dieser Stille.

 

Hallo Ginnyrose,
so schiebt man ungewollt seine Geschichte wieder zum Anfang.
Was soll’s? Wenn man gelobt wird, sollte man sich auch bedanken.
Ich hab mich gefreut.
Gruß Manfred

 

Hi Manfred!

Ja, beim Lesen Deiner Geschichte wurde auch mir etwas mulmig... Sehr gut erzählt! :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup:

Zur Gänsehaut hat es allerdings nicht gereicht, denn ich bin überzeugt, daß weder ich, noch meine Kinder und auch nicht meine Enkel, die es ja noch gar nicht gibt, den Weltuntergang nicht erleben werden...

Was die oben angesprochenen ich´s betrifft, kann ich nur sagen: Ich fand auch beim Lesen nicht, daß es zu viele wären. ;) (Vielleicht als Ersatz mal "meinereiner"...? :D :D :D )

Liebe Grüße
Susi

 

Hallo Häferl,
so ein Weltuntergang wohl kaum und einen Anderen hoffentlich auch nicht.
„Meinereiner“ ist super, das wird ich mal übernehmen.
Danke und Gruß
Manfred

 

Hallo Dreimeier!

Eine gut zu lesende Geschichte, die einen schon irgendwie nachdenklich macht. Erst das Gefühl der Gehörlosigkeit, in die man sich richtig toll reinversetzen kann und dann diese Weltuntergangsstimmung, die unglaublich ruhig geschildert wird. Manche Menschen sind zwar ein wenig verängstigt, aber dafür, dass sie vom nahenden Untergang wissen, sind sie eigentlich wirklich gelassen.
Eine Frage hab ich, die mich brennend interessiert: Warum stellst du dir vor, dass man vor dem Weltuntergang nichts mehr hört?

Liebe Grüße
Babs

 

Hallo Barbara,

daß man vor dem Untergang nichts mehr hört ist natürlich nicht meine tatsächliche Vorstellung.
Ein Weltuntergang, wenn er denn stattfinden sollte, was wir ja nicht hoffen, würde ja anders ablaufen. Reaktoren, die durchbrennen, Kriege, Meteore, die einschlagen und die Erdachse verschieben, u.s.w. nebenbei, wäre dies auch nicht der Untergang der Welt sondern, wohl nur der Menschen und einiger Tiere. Die Natur würde das schon packen, nur wir nicht.

Zur Geschichte:
Ich hatte mir vorgenommen, beim Leser ein bestimmtes Gefühl hervorzurufen. Eine Beklemmung. Dann kam mir die Idee, wie es wohl sein würde, wenn man morgens aufwacht und nichts mehr hört. Ich meine damit nicht, dass man das Hörvermögen verloren hat und plötzlich taub ist, sondern dass in unserer Welt die Akustik nicht mehr existiert. Die Luft hat die Fähigkeit verloren den Schall zu transportieren oder auf irgend eine Art gibt es keinen Schall mehr. Meine Idee war dann, dass sich langsam alle Sinneseindrücke auflösen. Also, nicht das Vermögen der Wahrnehmung selbst, sondern dass sich das, was wahrzunehmen ist auflöst und zwar langsam und nacheinander. Andernfalls wäre dann ja einer taub, der andere blind u.s.w. also nicht auf die Personen bezogen sondern auf die Welt. Sicher hätte ich auch mit Blindheit anfangen können, aber dann lassen sich logisch keine Bilder vermitteln. Jedenfalls nicht so. Andere Sinneseindrücke wie fühlen oder schmecken geben für dies Thema ja nichts her. Ich hätte es vielleicht noch nebenbei einbauen können.
Also ist die Geschichte so geworden, wie sie ist. Ich hätte sie auch noch ausbauen können aber.......
Obwohl, das Thema mit der Blindheit hat auch seinen Reiz. Ich werde mir mal was überlegen. Würde dann aber wohl nichts mit dem Weltuntergang zu tun haben.
Das schöne an der Fantasie ist, dass man nicht erklären muß wie das genau funktionieren soll.
Liebe Grüße
Manfred

 

Ja, schöne Geschichte. Hab ich gern gelesen. Während des Lesens dachte ich mir so ab der zweiten Hälfte: "Mann, wie will er (also du, Manfred) da wieder rauskommen?" Das heißt: Um die Erzählung zu einem schlüssigen Ende zu führen. Denn solche Geschichten wie diese schreien natürlich geradezu danach. Dass du diese dann gleich mit einer Art tabula rasa abschließen würdest - darauf bin ich beim Lesen dann, wie auch meine Vorredner, tatsächlich ebenfalls nicht gekommen. Dafür mein Kompliment! :)
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Das einzige, was ich mich dann allerdings noch selbst fragte: Woher will dieser Alte denn mehr wissen, als der Protagonist? Ist es nur eine Vermutung, oder hat er das aus irgendeiner Prophezeiung? Naja, bleibt halt offen.
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Eine ganz ähnliche Idee wie deine, nämlich dass eines Tages in der Welt keine Akustik mehr existieren würde, hat ich auch schon. Und zwar in
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Durchzogen von flüssigem Licht
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Auch hier verändern sich plötzlich physikalische Gesetzmäßigkeiten, ohne dass jemand eine Erklärung dafür hat (mit der Ausnahme, dass das "Ende" naht oder ähnliches, was aber schließlich keine vernünftige Erklärung sein kann). Im Gegensatz zu deiner Geschichte ist meine allerdings auf ein einzelnes Individuum beschränkt (das natürlich für geisteskrank erklärt wird) anstatt, wie bei dir, auf ein Kollektiv.
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Ach ja, etwas irritiert hat mich deine Formulierung "Es ist hell hinter meinen Lidern". Ich weiß zwar, was du damit meinst. Aber ich persönlich kann mich nicht erinnern, jemals bewusst wahrgenommen zu haben, dass es beim Aufwachen hell hinter den Lidern wird. Zumindest "Es wird hell hinter meinen Lidern" hört sich besser an. Nicht so sehr, als wenn gerade jemand den Lichtschalter betätigt hätte. Verstehst du?
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Ansonsten aber: Schön geschrieben, hat Hand und Fuß, nicht zu lang und nicht zu kurz. Sehr stimmig! :thumbsup:
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Gruß
Thomas

[ 16.07.2002, 21:31: Beitrag editiert von: Die philosophische Ratte ]

 

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