Was ist neu

Eulenspiegel bei der Musterung

Beitritt
22.11.2005
Beiträge
993
Zuletzt bearbeitet:

Eulenspiegel bei der Musterung

Jung, dynamisch, atmungsfähig. Bringen Sie bitte eines der aufgelisteten Kriterien mit zur Knabenkontrolle. So steht es in dem Wisch, der sich durch meinen Türschlitz gezwängt hat und nun Kaffee aufsaugt auf dem Tisch. Und seien Sie nüchtern, glatt und trocken, bis auf den letzten Knochen. Gewöhnen Sie sich schon mal an die Tröpfcheninfusion, die bevorzugt wird in diesem Bauernstaat und Bratwurstland, bis es Ihnen schmeckt, bitte lachen eins, zwei, drei im Gleichschritt Gassenhauer. Stillgestanden, rühren und in die Kneipe treten.

Das Leben ist Verpackung, die ich entsorge bis zum Tod. Morgentrunken meine Beine, der Schlaf hängt an den Schultern, im Gesicht noch das Morgenbrot. Schnell den Spiegel umgedreht, das hat nicht geholfen. Rasch hinabgespült, den Scheiß von gestern, leere Gedanken fortgeweht. Mit der Faust schlag ich mir selbst die Maske ins Gesicht und das Lachen gerade. Klar musste es soweit kommen, aber was soll ich sagen? Für einen Fick nur, lohnt es sich zu leben. Hubs, vorbei! Was mach ich jetzt? Im Hier und Nun, im Da und Heute. Du bezahlst für alles, auch wenn du dasitzt und schwitzt, man ist immer Nettostaatsdelikt und Beute. Was ist Satire, was noch Leben?

Irgendwo im Irgendwann rutscht meine Jugend noch die Rutsche runter, sitzt die Faust gelockert in der Tasche, fertig zum Dessert, das niemals kommt, denn ich werd nicht satt, kann essen ganze Kälber, Schweine, halbe Affen. Wer nicht fragt, der hört auch keine Lügen, lügt sich ein Jeder selbst in die Visage, die ich nicht mehr sehn kann, Tag und Nacht, und zwischendurch bei Kerzenlicht im Mondenschein. Ich kann mich nicht mehr hören, nicht mehr riechen, schmecken, sehen. Ich kann mich an mir selbst verschlucken, mich erwürgen und sagen, der da wars. Ich kann das Kleinkaliber wählen, um mich ballern im Preußens Gloria Marsch, dabei Ich wars! Ich wars! rufen, noch so laut, Ihr warts! Ihr warts! werd ich verstanden, Wir warns! Wir warns! wird geschrieben. Entschuldigung, Verbeugung, Abgang, Marsch.

Ich quetsch mich durch Menschentrauben, dräng mit ihnen in die Bahn, gemeinsam gepresst an der Scheibe. Schaut mich an mit euren kleinen Augen. Ihr schämt euch fremd, das ist so in in der Moderne. Doch ich sag euch, ihr seid nicht Teil von meiner selbst, was geht euch das an. Aus der Bahn werd ich gestoßen, Rolltreppe rauf geschubst, Kaffee in die Hand gedrückt, Zeitung vors Gesicht, Krawatte bis es würgt und einen Aktenkoffer der schmückt. (Wie viele Hände soll ich haben?) Fürs Dastehen und nicht weitergehen, fürs Ausruhen und Verschnaufen, ja schon im Geburtskanal verlangen sie Eintritt, Mitgift, Steuer.

Hier bin ich nun, was soll ich tun, was soll nun werden?

Das frag ich Sie, mein Herr. Darf ich mal einen Blick auf Ihre Daseinsberechtigung werfen?

Sie scherzen, guter Mann von der Behörde, ich hab meinen Mutterkuchen nicht dabei.

Auch noch frech werden, wie?

Aber nie! Nur sollen Sie wissen, ich bin kein Klumpen Knete, kein Sandsack und kein Klumpatsch aus Neuronen, bin nicht zu formen durch Stöße, Schläge, Streicheleinheiten, pass nicht in die Form zurück, bin nicht umtauschbar, kein Gewürz, kein Partyzubehör, schon gar nicht nur Dekor. Mein Beitrag ist die Demontage.

Bringen Sie mich nicht in Rage!

Wohlan, so soll es wohl sein. Ich bin hier, bin nun ihr Sklave, fresse Scheiße, wenn Sie es wollen. Nur Ihren Wisch, den hab ich zuhause auf dem…

NUMMER!

Nummer?

DASEINSBERECHTIGUNGSNUMMER!!!

Hm. Eins?

Ich mach dich zur Minna, du Harlekin!

Zwei?

Auf einmal renne ich, wie verfolgt und auf der Flucht. Ich könnt mich dran gewöhnen, nur der Kollege nicht.

 

hi Aris, mir gefällt der text! man möchte ihn bisweilen mitpfeifen, so lustig fließt manchmal die sprachmelodie durch den text. du schriebst ja letztens was von der beabsichtigten wirkung des dreiers, hier ziehen mich die sprachlichen mittel so sehr durch den text, ich musste ein zweites mal lesen, um mich dem inhalt zuzuwenden. obwohl der ja beileibe nicht nur amüsant ist, zwischenzeitlich scheint der moderne eulenspiegel sehr angekotzt zu sein. aber er lässt das scherzen nicht, bis zur letzten zeile zieht ers durch und dann läuft er weg. schönes ende, das finde ich konsequent.

Ich quetsch mich durch Menschenpflaumen
suchtest du einfach ein substitut für trauben? ich fürchte, bei mir funktioniert das bild nicht.

Jung, dynamisch, atmungsfähig. Bringen Sie bitte eines der aufgelisteten Kriterien mit zur Knabenkontrolle.
:D herrlich

Fremdschämen tut ihr euch, das ist so in in der Moderne. Doch ich sag euch, ihr seid nicht Teil von meiner selbst, was geht euch das an.
chapeau!

herzliche grüße

 

>Und sein Sie nüchtern, glatt und trocken, bis auf den letzten Knochen<, was ich doch zu "sein" gedenke (wäre nicht von der Behörde ein "seien" oder "sei'n" nach amtlichen Regeln vorgenommen worden?), kann ich Kubus folgen,

lieber Aris,

der Verwahrungsanstalt entflohen vorm nächsten Amt, denn >für einen Fick nur, lohnt es sich zu leben und doch'n bisschen mehr an unbestimmtem Ort zu unbestimmter Zeit: >Was ist Satire, was noch Leben?<, wird berechtigt gefragt. Kafkanistan und Kafkanien liegt überall. Aber dass Wilhelm (Kurzform: Till) sich nicht leiden mag, wundert mich: >Wer nicht fragt, der hört auch keine Lügen, lüg ich mir selbst in die Visage, die ich nicht mehr sehn kann, Tag und Nacht, und zwischendurch bei Kerzenlicht im Mondenschein. Ich kann mich nicht mehr hören, nicht mehr riechen, schmecken, sehen<, etc.

Aber einzig die "tun"-Konstruktion stört mich ein wenig - obwohl's hier im Ruhrgebiet Gang & Gäbe ist: >Fremdschämen tut ihr euch, das ist so in in der Moderne<, aber Eulenspiegel ist kein Ruhrpottler, auch kein flämischer Ulenspiegel. Warum nicht "Ihr schämt Euch fremd ...", wobei die Mehrdeutigkeit erhalten bliebe: man schämt sich des andern, aber seiner selbst ... Gepfiffen!

Gelungen der Dialog: >Hier bin ich nun, was soll ich tun, was soll nun werden?

Das frag ich Sie, mein Herr. Darf ich mal einen Blick auf Ihre Daseinsberechtigung werfen?

Sie scherzen, guter Mann von der Behörde, ich hab meinen Mutterkuchen nicht dabei.

Auch noch frech werden, wie?<, etc.

Was mach ich nur mit'm Krull?

Gruß

Friedel

 

Hallo Kubus,

danke dir. Dabei hatte ich befürchtet, dass der Text an vielen Stellen hakt. Aber gut, wenn er gepfiffen werden kann... Es reimt sich ja mehr auf gut Glück. Eulenspiegel ist halt jemand, der auf das scheiß Leben keine andere Antwort weiß, als alles und jeden, und sich selbst, auf den Arm zu nehmen. Im Text wird er mittendrin sehr ernst, ja. Aber auch nicht so wirklich, finde ich. Denn er bleibt im Takt. Dadurch, dass da Metrum nicht durchgängig ist, kann ich vielleicht gut behaupten, es zeige diese Zerrissenheit von Ernst des Lebens und Eulenspiegelhumor.

ich werde trauben schreiben

danke und Gruß

Hallo Friedrichard,

hab ich Halozinationen? Ich hätte schwören können, dass da gerade noch ein Kommentar von dir bei der Magnus KG war. Oder bin ich deppert?

Danke für diese Kritik jedenfalls. Es soll auch seien heißen, ich dachte, sein hat mehr Schwung, aber das macht wohl kaum einen Unterschied.
Mit dem tun, ja. Der Till nicht, aber ich, ich lebe wohl schon zu lange hier (aber nur noch bis Januar), dass ich immer alles tue. Werde das mal ändern.

Der Eulenspiegel grämt sich ein bischen. Schließlich lebt er so lange schon, dass er zu einem Motiv für Schreiber wie mich geworden ist, die ihn aus seiner Zeit rausholen und zu Musterung schicken. Deswegen ist er wohl para texta so schlechtgelaunt. Weil er zu Musterung muss. Zudem ist es die Innenwelt von Till, die man ja bisher noch gar nicht kennt. Der Mann scherzt ja, um zu überleben! Wie es in ihm drinnen aussieht, sehen wir hier. Wer den Mensch zum lachen bringen will, der muss ihn hassen. (vielleicht sollte ich den Satz als Schlusssatz nehmen)

Gruß
Aris Eulenspiegel

 

Hallo Aris,

so richtig entschlüsseln konnte ich deine Gesichte grad nicht, das mag aber auch an meinem müden und schweren Kopf liegen. Ein wenig liest sich der Text so, als wäre es dir speziell auf Wortklang und Sprachrhythmus angekommen, sehr treibend, stellenweise atemlos. Dein Eulenspiegel aber schein mir fast ein Etiketten-Schwindel zu sein, einer der sich in der KG eher von bunt in grau abschminkt, wie der jammernde Bajazzo. Nur am Schluss wird ein wenig eulengespiegelt. Stellenweise ist mir das zu gewollt tiefgreifend, da durchstößt die Hand schon den Boden der Trickkiste. Aber ich lese es morgen noch einmal, und vielleicht schäme ich mich dann, weil ich das Wesentliche heute nicht erkannt habe.

Rick

 

Hallo Rick,

schämen brauchst du dich nicht. Es gibt im Grunde nichts soooo tiefgründiges. Es ging mir, schon richtig, um Rhythmus. Aber auch um Gesellschaftskritik. Im Rhythmus wollte ich eine KG, die so schnell wird, dass sie den Leser überholt. Klingt jetzt komisch. Aber ich habe die Worte mit der Peitsche geschrieben. Bin aber hier nicht annähernd zufrieden.
Die Gesellschaftskritik steckt da überall. Eulenspiegel hat viel Selbsthass, er denkt an einer Stelle gar an einen Amoklauf.
Wer Till als lustigen Harlekin sieht, der irrt. Für mich ist er ein Hofnaar. Witze sind sein Beruf. Ich denke da in etwa an Krusty den Clown, wobei man die beiden nicht vergleichen sollte, aber die Einstellung ist ähnlich. Eulenspiegel ist viel mehr ein Satiriker. Seine Witze dienen nicht der puren Unterhaltung des Publikums, was dieses immer zu meinen gedenkt, viel mehr dienen sie seinem Lebensunterhalt und der Spiegelung der GEsellschaft. heißt ja nicht umsonst, EulenSPIEGEL. :) Er ist es im Grunde, der sich über sein Publikum lustig macht, während dieses denkt, unterhalten zu werden und einen armen Clown auszulachen der ihen ausgeliefert ist. Viel mehr ist das Publikum der Satire ausgeliefert. Statt auf dem Scheiterhaufen landet E. mit seinen derben Witzen im Schloss des Herzogs.

Ich habe hier vieles verändert. Was aber kein Etikettenschwindel ist. Ohne das Motiv des Till Eulenspiegel wäre diese Geschichte sehr mühsam geworden. Ich habe ihn verändert, ja. Und aus seiner Zeit gerissen. und das ein witziger Clown so eine tiefe Innensicht hat, mit sich selbst im Unreinen, ist ja seit Bölls Ansichten eines Clowns bekannt. Ich zeige sozusagen die Seite von Eulenspiegel, die man noch nicht kennt. Wäre die Innensicht weg, wäre es eine reine Eulenspiegelgeschichte. Aber das wollte ich nicht.
ist schwer zu erklären, und meine Umsetzung ist nicht die beste. Aber du verstehst mich?

beste Grüße

 

Hallo nachtschatten,

danke für diese Einschätzung.

Man kann hier so viel bereden:

Wo hakt mein Rhythmus, wo stolpert der Leser? Das hauptsächlich. Und dann kann man über das Eulenspiegel Motiv reden, so wie Rick. Über einzelne Stellen im Text, wie man die verstehen kann, usw.
Da gebe es so viel.

Trotzdem vielen Dank.

und Grüße

 

Hallo aris

Ein Text, der mir wohltuend um die Birne knattert, temporeich, mit gelungenen Wortschöpfungen und slapstickhaften Momenten und von der Länge her gerade an der richtigen Stelle fini. Bratwurstland, ha, das jefällt mir.
Der Inhalt geht bei all dem flotten Vorwärtsdraufhau ein wenig in die Binsen. Macht in diesem Fall aber nix, weil genug zum Schmunzeln übrig bleibt.

Viele Grüsse

 

Hallo Hawowi,

entschuldige die späte Antwort. Das ist sonst nicht meine Art. Hatte eine kleine Auszeit genommen, da ich Dinge auserhalb des Netzes klären musste :)

Es bleibt mir nur, mich zu bedanken für die netten Worte. Es freut mich natürlich, dass das Tempo der Geschichte bei dir gut ankommt. Inhalt wird im Allgemeinen überschätzt!

beste Grüße

 

Servus Aris,

ich war zwischenzeitlich auch nicht ganz schlüssig, mit was ich es hier zu tun habe. Teils dachte ich, ein Versmaß erkennen zu können.

Das Leben ist Verpackung, die ich entsorge bis zum Tod. Morgentrunken meine Beine, der Schlaf hängt an den Schultern, im Gesicht noch das Morgenbrot.

Die Intention, eine Geschichte zu schreiben, die den Leser überholt ist dir aber eindeutig gelungen und so wirds auch nicht langweilig.

Den Schluss mit dem angerissenen Dialog fand ich am besten, da hätte gut noch mehr kommen können.

Grüßlichst

 

Moin Marvin,

auch dir vielen Dank. Es freut mich, dass diese Geschichte so viel Freunde findet, denn sie ist sehr emotional, mit viel Haß im Bauch geschrieben worden. (nicht über eine Musterung)

Das Reimen ab und an verschnellert das Lesen. Es ist aber kein durchgehendes Versmaß, so gut bin ich nicht.

Wenn mir mehr eingefallen werde, hätte ich sicherlich auch mehr geschrieben, aber in dem Tempo zu bleiben ist nicht über so viele Zeilen möglich.

Danke und Gruß

 

Hallo Aris,

welch Bubenstück öffnet sich denn da, vor dem Leser dahineilend? Es hat eine Daseinsberechtigung, mit oder ohne Nummer – da möchte man doch gleich mitzählen ‚Eins‘? Oder ‚Zwei‘? Diese Planlosigkeit, ein schöner Kontrast zum „eins, zwei, drei im Gleichschritt“.
Überhaupt ist das sprachlich ansprechend, das Tempo, die vielen kleinen witzigen und stichelnden Einfälle („Schnell den Spiegel umgedreht, das hat nicht geholfen“; „Krawatte bis es würgt und einen Aktenkoffer der schmückt.“).

„ja schon im Geburtskanal verlangen sie Eintritt, Mitgift, Steuer.“

Verstehe ich nicht ganz – Eintritt im Geburtskanal? Vielleicht ‚schon im Geburtskanal ist man verdammt zu …‘?

Ein nicht alltäglicher Text, gut komponiert und diesem und jenem der Marsch geblasen!

Woltochinon

 

Hallo Wolto,

schön, dass du diesen Text gefunden hast. Er liegt mir sehr am Herzen.
Das interessant ist, dass ich ihn nicht komponiert habe, sondern an einem glücklichen Tag ziemlich genau so niedergeschrieben habe. Ein Tag voll der Poesie und des Haßes.

Ich wollte meinen, dass es überall Eintritt kostet, auch im Geburtskanal, dass schon die Geburt finanzielle, kapitalistische Zwecke mit sich bringt.

Aber es ist keine Bubenstück, sondern eins meiner liebsten KGs.

noch mal beste Grüße

PS: Sagst du mir bitte bescheid, wenn du mal wieder was schreibst. Ich verpasse zuzeit viele neue Themen, da ich so wenig Zeit habe. (auch als Student, so sind die Zeiten)

 

Hallo Aris,

vermute, dass hier ein Mißverständnis vorliegt: "Bubenstück" ist ein gelungener Streich, etwas Freches, seltenes, das man deshalb schon wieder bewundert.-

Wenn ich das richtig verstehe meinst du, dass mit der Geburt schon der Eintritt in (kapitalistische) Zwänge stattfindet?

Woltochinon

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom