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Eure Stimmen
Er sitzt am Rand des Lichtkegels und denkt darüber nach, zu welchem Porno er sich heute Nacht einen runterholen soll. Er denkt an auftoupierte Blondinen und Männer mit Intimrasuren und als er sich räuspert, zucke ich kurz zusammen.
Ich habe keine Ahnung, woher ich weiß, dass Holger gerade genau daran denkt, aber ich weiß es. Hundertprozentig.
Wenn er einatmet, fallen Schatten über sein Gesicht, wenn er die Luft durch seine Nase wieder ausbläst, ist es, als würde er ins Licht auftauchen. Es ist spät und seine Augen sind nur noch Schlitze. Er gähnt und hält sich den linken Handrücken vor den Mund, um gleichzeitig auf seine Armbanduhr sehen zu können. Dreiundzwanzig Uhr elf. So eine Scheiße.
Er sieht mich an und erst jetzt bemerke ich, dass mein Mund offen steht. Ich drehe mich zur Seite und kneife meine Lippen fest aufeinander. Und plötzlich ist alles anders.
Als würde jemand den Radiosender wechseln, schwappen zwei Stimmen ineinander. Dann ist Holger weg, doch stattdessen höre ich jetzt Miriam. Nicht die Stimme, mit der sie uns versucht klarzumachen, wie wichtig der Zusammenschluss der beiden Firmen ist, nein, sondern ein leises Flüstern, das mehr Wind ist als Wort. Ich kann es kaum verstehen, immer nur einzelne Wörter, doch als ich mich auf ihre Augen konzentriere, die viel zu grün sind, verstehe ich alles. Ihr ist warm und mir fallen die dunklen Flecken unter ihren Achseln auf. Immer wieder denkt sie, dass wir ihr nicht zuhören. Dass kein Schwein ihr zuhört, wie es immer ist, dass sie nur für sich selbst redet, nicht, weil es schon zu spät ist, sondern weil es niemanden je interessiert, was sie zu sagen hat. Ich möchte ihr zustimmen, doch kann es nicht.
»Wir sollten für heute aufhören«, höre ich und erst als Holger aufsteht wird mir bewusst, dass sie es nicht gedacht, sondern gesagt hat.
»Ja«, nicke ich, seufze und wühle mich durch den tiefen Sessel. »Bis Morgen.«
Es ist sieben Uhr achtundfünfzig. In zwei Minuten wird der Wecker klingeln. Das Laken liegt zusammengerollt auf dem Boden am Fußende des Bettes und das Kissen steckt unter meinem Rücken und biegt mich ins Hohlkreuz. Wenn man stundenlang wach ist, wird selbst bequemstes Liegen irgendwann zur Qual.
Ich denke jetzt bereits so lange über den gestrigen Abend nach, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ihn überhaupt je erlebt zu haben. Geschweige denn, die Gedanken anderer Menschen gehört zu haben. Draußen ist es bereits hell und die Sonne scheint und ich höre auf, an gewisse Dinge zu glauben.
Ich rolle mich aus dem Bett, strecke mich gähnend und bevor der Wecker das erste Mal klingelt, schalte ich ihn aus. Ich trage noch die Bluse von gestern Abend. Sonst nichts. Ich rieche an ihr, an mir und das erste, was mir einfällt, ist eine Dusche. Langsam schleife ich mich ins Bad gegenüber, beuge mich in die Kabine, drehe den Kopf der Brause gegen die Wand und öffne den Wasserhahn. Das Geräusch schmerzt in meinen Ohren. Jeder Wassertropfen fällt auf mein Trommelfell und als ich mich auf den kleinen weißen Hocker setze, sägt sich das Quietschen der Schrauben bis in mein Gehirn. Meine Haare schmerzen, wenn ich sie berühre. Als hätte ich getrunken. Viel getrunken. Ich habe nicht gewusst, dass Schlafmangel einem Kater so ähnlich ist.
Ich schließe meine Augen und jetzt höre ich wieder jedes Wort, jeden Gedanken von Holger, sehe die nackten Frauen vor mir, sehe Miriam, wie sie zuhause vor dem Spiegel steht und zitternd Farbe auf ihre vollen Lippen pinselt. Ich sehe ihre tränenden Augen und das Taschentuch, mit dem sie Mascara von ihren Wangen wischt.
Als ich die Augen wieder öffne, ist der Spiegel beschlagen.
Ich schäle mich aus meiner Bluse, werfe sie in Richtung der Wäschetruhe, verfehle sie und steige unter die Dusche. Nur wenig Wasser berührt mich, aber selbst diese Menge will mich verbrühen. Ich stelle den Hahn kälter, drehe den Duschkopf in meine Richtung, atme scharf ein und stelle den Hahn noch kälter.
Das Wasser tut weh und die Schmerzen ziehen kurz die komplette Aufmerksamkeit auf sich.
Sonnenstrahlen zerstechen die Frühlingswolken und kalte Luft steht wie Hochwasser auf den Straßen. Männer und Frauen in Anzügen und mit toten Aktentaschen unter den Armen eilen über die Bürgersteige, während Taxis mit höchstens zwei Menschen besetzt hupend und viel zu schnell in Kurven fahren.
Von der Markise des Kiosks baumeln Zeitungen, Zigarrenschachteln liegen unter Glas und dahinter steht ein Mann, der auf einem Brötchen herumkaut, das nach Pappmachee schmeckt.
Ich muss ihr eins verpassen, höre ich und sehe ihm dabei zu, wie er einen faustgroßen Adamsapfel schluckt.
»Wie bitte?«
Er schüttelt den Kopf. »Wollen Sie was?«
Ich nicke, kratze mich an der Stirn und deute auf eine Stange Marlboro. Ich rauche nicht.
Er sagt: »Gute Wahl«, stopft sich den Rest des Brötchens in den Mund, greift erst nach meinem Geld und dann nach der Stange.
Mach dich vom Acker, und ich bin durcheinander, drehe mich um und eile über den Gehweg in irgendeine Richtung.
Ein Dutzend Leute versammelt sich um eine Bushaltestelle, die Platz für fünf hat und starrt schweigend auf Handys, Zeitschriften und Reklametafeln.
Ich höre Werbejingles, drehe mich einmal um mich selbst, sehe dann einem Teenager in die Augen, die von Pickeln eingekreist sind. Er verzieht den Mund, fragt, was ich hier will und mir wird klar, dass er nicht mich das fragt.
Ich stelle meine Tasche zwischen meinen Beinen ab, reiße dann die Stange Marlboro auf, nehme eine Schachtel und drücke den Rest dem Teenager in die Hand, der sich erst wundert, dann schweigend dafür bedankt. Ich ignoriere die Blicke der Rentner, die hinter mir stehen, aber das Gezeter kann ich nicht überhören. Die Schimpfwörter.
Wer hätte gedacht, dass alte Leute solche Worte kennen.
Ich sitze in einem Taxi. Den Bus konnte ich nicht nehmen. Die Stimmen, sie hätten mich in den Wahnsinn getrieben.
Der Taxifahrer redet. Er redet und er denkt und ich hätte nie gedacht, dass Menschen zwei Dinge gleichzeitig so unterschiedlich tun können. Er redet vom Wetter, dann von seinen Söhnen und schließlich von den Frauen seiner Söhne und er denkt über seine Frau nach, dass sie so fett geworden ist und er mustert meine Brüste im Spiegel, in dem ich seine hellen, fast grauen Augen erkennen kann. Er denkt, dass seine Frau auch mal so aussah wie ich, dass sie hübscher war als ich, weil ich nichts Besonderes bin und als ich seufze, halten wir endlich an. Ich bezahle ihm viel zu viel, ich will mich von seinen Gedanken freikaufen, die sich wie Ketten um mich gelegt haben. Ich will sie nicht hören, bin aber nicht stark genug, das Ganze zu ignorieren.
Ich stehe vor einem frisch gestrichenen weißen Gebäude, das drei Stockwerke in die Höhe ragt. Warum ich hier bin, weiß ich nicht. Habe ich dem Taxifahrer gesagt, er soll mich hierher bringen? Müsste ich nicht die Gedanken der anderen hören, könnte ich mich an meine eigenen erinnern.
Ich drehe mich um, laufe über die Straße, ignoriere das Hupen eines jungen Mannes in einem grünen Polo und ignoriere sein verfickte Schlampe, das er erst denkt, dann sagt, als ich schon auf dem Bürgersteig balanciere. Vor mir ein Park, vielleicht fünfzig Bäume auf geringem Platz zusammengepfercht, als wären sie Legehennen, die nur Schatten an heißen Tagen liefern sollen.
Die Temperatur sinkt um einige Grad, als ich den Park betrete und wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb es so still ist. Hier ist niemand.
Ich lehne mich an einen Baum und lasse mich zitternd zu Boden rutschen. Nur kurz … Ruhe …
Ich muss eingeschlafen sein. Jemand zieht an meinem Pullover und als ich die Augen öffne, springe ich gleichzeitig auf.
»Alles in Ordnung?«
Ich sehe einem Mann Ende fünfzig in die Augen, frage mich kurz, was er von mir will und nicke dann. Als ich mich umdrehe und davon gehe, sticht ein kurzes nicht ganz dicht in meinen Rücken, dann bin ich weg, ist er weg, sind seine Gedanken weg.
Ein anderes Taxi, ein anderer Fahrer. Gedanken, die zwar neu, aber nicht besser oder angenehmer sind, begleiten mich zu meinem Arbeitsplatz, an dem bereits Holger hinter seinem Schreibtisch auf den Capuccino wartet, den ich ihm jeden Morgen mitbringe, den er aber heute nicht bekommt, was ich erst bemerke, als ich bereits auf meinem Bürostuhl sitze. Ich schiebe es auf den Wachmann, der meinen Hintern kneten wollte.
»Tut mir leid«, sage ich, ohne es wirklich so zu meinen.
»Müde«, sagt er.
»Kein Schlaf«, sage ich.
Seine Stimmbänder schweigen und in seinem Kopf purzeln Zahlen durcheinander, Worte, die kaum zueinander gehören und ich bin überrascht, wie schwer es ist, jemandes Gedanken zu folgen. Zehn Minuten lang, dann arbeitet er nicht mehr. Klickt Pornoseiten an, die bei jedem erdenklichen Suchwort auf der ersten Seite erscheinen.
Wenn der wüsste.
»Entschuldige mich«, und schiebe gleichzeitig den Stuhl mit den Kniekehlen nach hinten.
»Barbara?«
Ich will ihn nicht hören.
Ich stoße die Toilettentür auf, weiß, dass in Kabine zwei eine Frau auf dem Deckel hockt, deren Mann mit ihrer Schwester vögelt und beuge mich über ein Waschbecken. Kaltes Wasser läuft in meinen Kragen und kurz ist es still.
Dann wieder, ein Jammern hinter und in mir und ich räuspere mich.
Die Spülung geht, die Tür öffnet sich und Miriam tritt heraus.
»Barbara, hi«, sagt sie, wäscht sich dann gezwungenermaßen die Hände, hasst mich für meine großen Augen und verschwindet.
Stille.
Ich lehne mich gegen die Wand, ignoriere die Kälte in meinem Rücken und wünsche mir, dass nie wieder jemand hierher kommt.
Nie mehr.
Ich melde mich krank.
Ich höre das innerliche Seufzen meines Chefs, Miriams stechende Blicke und Holger, der sich fragt, ob ich dann heute nicht mit ihm ins Bett gehe.
»Nein«, sage ich ihm und er sieht mich verwirrt an. »Frag mich am Ende der Woche noch mal, ob ich mit dir vögeln will.«
Er wird blass, greift nach einem Stift, schreibt wahllos Wörter auf die Schreibunterlage um beschäftigt zu wirken und sieht mir nicht nach, als ich das Büro verlasse.
Ich muss nach Hause.
Taxi Taxi Taxi. Nach minutenlangem Gedenke halte ich mir die Ohren zu, schreie irgendetwas, das mir gerade in den Sinn kommt oder das der Fahrer gerade gedacht hat und der Wagen hält.
Raus, ich muss auch nichts dafür bezahlen.
Ich stürme über die Straßen, vergrabe das Kinn in meiner Brust und strenge mich so an, nichts zu hören, dass ich beinah zum Schlag ausgeholt hätte, als eine Hand sich um meinen Ellbogen schließt und mich festhält.
Ich drehe mich um, sehe in die Augen eines älteren Mannes und versuche seine Gedanken zu lesen. Da ist nichts. Ich sehe, wie seine Lippen sich bewegen, aber ich verstehe es nicht.
Über mir leuchtet ein rotes Männchen und neben mir peitscht Fahrtwind.
Ich entspanne mich.
»Was ist denn los? Sie wären beinah auf eine befahrene Straße gelaufen!«
Ich höre, wie er sich fragt, ob ich vollkommen bescheuert bin und verfluche ihn dafür, dass er mich festgehalten hat.
Ich höre sie jetzt schon durch die Wände, durch die Decke, in der Wohnung unter mir. Überall sind Menschen, überall denken sie und ich wünsche ihnen allen den Tod. Dafür, dass sie selbst im Schlaf nicht aufhören können zu denken, dafür, dass sie so laut denken, dafür, dass ich es mir anhören muss, diese ewige Litanei uninteressanter Monologe.
Ich setze meine Brille ab, massiere meinen Nasenrücken und schlage mit der anderen Faust gegen die Wand. Haltet die Klappe, haltet eure verfluchte Klappe!
Mir ist kurz nicht klar, dass sie mich nicht hören können.
Ich gehe nur in Socken vor meine Wohnung und klopfe, hämmere gegen die Tür gegenüber.
Egal, wer darin wohnt.
Niemand öffnet.
Ich poche erneut, immer fester, schlage dann mit beiden Fäusten dagegen, und noch immer geht die Tür nicht auf.
Scheiße Scheiße Scheiße.
Ich habe keinen Wagen, reiße also die Beifahrertür eines vor einer roten Ampel wartenden BMWs auf und sage dem Fahrer, wenn er sein Leben liebt, soll er lieber keinen Gedanken daran verschwenden, was ich hier will.
Und der Idiot hält die Klappe und fragt sich nur, was hier eigentlich passiert.
Ich ziehe ihm mein Küchenmesser über den rechten Arm, stoße ihn dann gegen die Fahrertür und merke, dass er eine Lederjacke trägt. Er fängt an zu zittern, innerlich völlig auszurasten und ich hole erneut mit dem Messer aus. Das Blut, das aus der Wunde an seiner Wange sickert, übertönt seine Gedanken und dann denkt er nichts mehr. Ich greife über ihn, öffne die Tür, schubse ihn hinaus und gebe Gas. Der Wagen stirbt ab, ich trete auf die Kupplung, starte erneut und schaffe es jetzt, zitternd los zu fahren. Das Messer liegt auf meinem Schoß und das Blut fängt an kalt zu werden, als ich um die erste Kurve biege.
Ich trete gegen Holgers Wohnungstür, färbe sie rot und höre, wie er seine Gedanken näher trägt. Bevor er öffnet, sage ich: »Du dreckiger kleiner Scheißkerl, irgendwas hast du mit mir gemacht.«
Er steht vor mir, barfuss, in Jeans und T-Shirt, sieht darin so anders aus, ist irritiert und fragt sich, was ich hier will.
»Hi«, sagt er, dann entsetzt, was ist jetzt los?
Ich fuchtle mit dem Messer, schneide damit das getrocknete Blut von meinen Oberschenkeln, die jetzt selbst anfangen zu bluten, und sage ihm, dass er der erste gewesen ist. Und dass er irgendwas mit mir gemacht haben muss.
»Was ist passiert?«, fragt er, denkt aber nur an das Blut, das meine Strümpfe rot färbt und das Messer, das schon rot ist.
Ich schüttle nur den Kopf und hole aus.
Fäuste in meinem Rücken, meine Handgelenke in Handschellen. Laute Stimmen und noch lautere Sirenen vor dem Haus und Holgers Nachbarn, die über uniformierte Schultern blicken. Und Schreie. Holgers Schreie in meinen Erinnerungen gepaart mit denen im Jetzt. Sanitäter, die ihn ruhig stellen, und Schnittwunden, die dagegen arbeiten.
Und trotzdem.
Stille. Wie sie im Himmel sein muss.
Polizisten treten mir auf dem Hof in die Hacken und Männer in offenen Bademänteln spucken aus, auf einen Boden, übersät mit Zigarettenkippen und Glasscherben.
Alle sehen mich an und ich ahne was sie denken.
Aber ich weiß es nicht.
© Tamira Samir