Mitglied
- Beitritt
- 12.04.2006
- Beiträge
- 2
Eva, mein (Schutz-)Engel
…Einst träumte ich von einem wunderschönen Engel.
Einem Engel, für dessen Schönheit ich keine Worte zu finden vermochte, der so unbeschreiblich bezaubernd war, dass es keinen Vergleich zu geben schien, der auch nur annähernd die Ausstrahlung, die Reinheit und die unerreichte Schönheit dieses Engels hätte verdeutlichen können. Man möchte glauben, dass es keine Engel gibt, und erst recht unvorstellbar scheint der Gedanke, dass ein solcher Engel einem selbst auch noch begegnen könne. So unglaublich, fantastisch, so verwunderlich dies auch klingen mag, aber ich habe einen solchen Engel gesehen. Er begegnete mir in der einsamen und trostlosen Abgeschiedenheit der Nacht, als dunkle Schatten mich in qualvoller Tristesse eingehüllt und schwarze, vehemente Todesgedanken mich wie in jeder Nacht nach draußen getrieben hatten.
Mein Herz blutete fürchterlich, meine Seele, so trocken wie der von einem modrigen Blätterkleid bedeckte kalte Herbstboden, war ein Quell der Verzweiflung und der immerwährenden Trostlosigkeit. Und zugleich war sie auch ein Äon der wildesten und schmerzhaftesten Gefühle, immer darauf bedacht, meine selbst ihnen auferlegten Fesseln zu lösen und auszubrechen, nach draußen zu gelangen, um der Person, für die ich am meisten empfand, für die ich eben diese tiefsten aller Gefühle hegte, ein Zeichen der Wahrheit überbringen zu können, um ihr einen mysteriösen und geheimnisvollen Teil von mir selbst, mein höchstes und wohlbehütetes Gut zu schenken: meine aufblühende Liebe.
Doch mein einziger Verbalisierungsapparat, nämlich meine spröden Lippen und meine Zunge waren trocken, hatten kein einziges liebliches Wort in Gegenwart meiner großen Liebe herausgelassen. Mein Mund schien jedes Mal, wenn ich sie gesehen hatte, von einem unsichtbaren, unzerreißbaren Band der Stummheit umhüllt und gefesselt worden zu sein. Mit der Zeit hatte ich dann zu meinem tiefsten Bedauern feststellen müssen, dass dieser wohl auch unbewegt bleiben würde, immer unfähiger, seiner Funktion beraubt, auch nur den kleinsten Laut oder auch nur eine einzige Silbe in Anwesenheit dieses wunderschönsten aller Geschöpfe Gottes zu vollbringen.
Mit zunehmender Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, meine Unfähigkeit nicht mehr mit ansehen wollend, zog es mich also immer öfters an einen abgeschiedenen Ort inmitten der weiten Felder, an dem ich meine Gedanken in endlosen Bahnen schweifen lassen konnte, da mein Sprachorgan schon längst nicht mehr zu gebrauchen war (ich schien das Sprechen verlernt zu haben, seufz). So blieb mir nichts anderes übrig, als in mich selbst zu kehren und mich meinen Gedanken zu widmen, die nur einem ganz besonderen Mädchen galten. Meine Augen schlossen sich in der Finsternis während ich meinen Gedanken freien Raum ließ…
Ich hatte sie in einer dieser öffentlichen Gebäude getroffen, als ich einsam meines Weges gegangen war. Ich hatte sie dort so plötzlich und ganz unerwartet das erste Mal ansehen müssen, während ich alles um mich herum vergessen hatte (und meinen Freund neben mir, der weiterhin auf mich eingesprochen hatte).
Ich entsann mich an diesen gütigsten und wundervollsten aller Augenblicke, als ob es gestern gewesen wäre, als mich ihre unbeschreiblich faszinierenden Augen förmlich angelacht hatten, wie sie es immer taten, wenn sie Menschen in ihrer Umgebung wahrnahm. Ja, von diesem Augenblick an hatte ich gewusst, dass ich nicht mehr alleine hatte sein wollen, denn in diesem Moment hatte die Last der jahrelangen Einsamkeit und des ewigen Alleinseins, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nie zuvor gespürt hatte, unendlich schwer gewogen, schien mich förmlich zu erdrücken, mir die Luft aus den Lungen zu pressen, um mich danach selbst zu zerquetschen.
Meine Sinne schienen betäubt, mein Körper war regungslos gewesen, doch mein Herz hatte so wild und schnell gepocht, hatte gegen meine Rippen geschlagen, schien förmlich aus meiner schwachen Brust brechen zu wollen, und nur meine Augen hatten noch ihren Dienst verrichtet. Eine unglaublich große Welle von wahrgenommenen Bildern und Seheindrücken hatte mich augenblicklich innehalten lassen. Alles um mich schien vergessen, meine ganze Aufmerksamkeit hatte der kleinen, zierlichen Person gegolten, die einem himmlischen Engel gleichkam, der von Gott auf die Erde entsandt worden sein musste, um der Welt und den Menschen immerwährenden Sonnenschein und somit endlosen Frühling in Form dieses Mädchens zu schenken, damit sie sich immer am Leben erfreuen würden können und jeder auch nur ansatzweise traurige Gedanke bei ihrer Präsenz verblassen und ersticken würde. Der liebe Gott schien all seine Macht und all sein Bestreben in der Schaffung dieses Engels deutlich gemacht zu haben. Wo sie entlanglief, sprießen wundersame Keime der Freude und Glückseligkeit um sie herum, wem sie begegnete und ein Lachen schenkte, dem gab sie neuen Lebensmut, neue Hoffnung und spendete neues Licht, wer einmal mit ihr gesprochen hatte, der wusste, das alles scheinbar Wichtige auf dieser Welt unscheinbar und unwichtig, dass alles Geld und alle Güter der Welt so unermesslich überflüssig und absolut nichtig waren.
Auf diese Weise und mit dieser zunehmend stärker werdenden Erkenntnis hatte sie mich von Tag zu Tag mehr bezaubert. Sie schien mich förmlich anzuziehen und jeder neue Tag, an dem ich sie hatte sehen dürfen, jeder Augenblick, den ich mit ihr in gemeinsamer Präsenz hatte teilen dürfen, hatte mich mehr mit Freude erfüllt, hatte mich in Glück und Zufriedenheit aufleben lassen. Und jeder Abschied hatte auch ein neues Wiedersehen in Bälde versprochen, auf dessen Erfüllung ich immer mit größter Vorfreude geblickt hatte. Denn wenn ich sie erblickt hatte, waren jeglicher Kummer und alle Sorgen aufs Neue von mir genommen gewesen, und dies allein durch die göttliche Macht ihres strahlenden Lächelns, welches mit der Sonne zu konkurrieren schien.
Bereits nach kurzer Zeit und wenigen Tagen hatte ich gewusst, dass dieses seltsame und wohlig behagliche Gefühl, welches ich immer dann in meinem Bauch verspürt hatte, wenn ich sie erneut hatte sehen dürfen, wohl Liebe genannt wurde.
Ich blickte von meinen Gedanken wieder auf in die Nacht hinein, der Mond war inzwischen hinter einer dichten Wolkenmasse verschwunden und erhellte nur unscheinbar die Nacht. Während ich so in die kühle Nachtluft hineinstarrte, meine bedrückten Blicke über die kahlen Felder und Wege streifen ließ, musste ich an eine Zeile denken, die aus einem Lied von Oasis stammte und die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Stumm bewegten sich meine Lippen und formten die Worte dieser Liedzeile nach: “’Cause maybe you’re gonna be the one that saves me: and after all you’re my wonderwall!“.
In diesem Moment durchfuhr mich erneut diese schreckliche Erkenntnis, dass ich meine Königin, meinen einzigen Lebensinhalt verloren hatte. Welch Ironie des Schicksals, dass ich sie bereits in dem Augenblick verloren hatte, als ich jenen mysteriösen Teil von mir preisgegeben hatte, meine unendliche Liebe, die ich für sie empfand, für meinen Engel, der ein Teil meines Lebens, ja mein einziger Lebensinhalt geworden ist. In ihrer Unfehlbarkeit hatte sie meine Liebe nämlich nicht erwidern können, hatte daher versucht, mich mit sanftem Geleit auf andere Gedanken zu bringen, hatte mich mit sanft in der Hand geführter Feder auf die Unmöglichkeit der Erwiderung meiner Gefühle hingewiesen. Die dargelegten Worte hatten mich wie eine Speerspitze getroffen, die mein Herz zu durchbohren schien. An diesem Tag war ich das erste Mal gestorben.
Diese Gewissheit tat so fürchterlich weh, die Gedanken daran schnitten mir noch immer wie tausend Messerstiche ins bereits kalt gewordene Fleisch. Wieder musste ich mir den größten Fehler meines Lebens und den damit verbundenen selbst verschuldeten Seelenschmerz eingestehen. Doch lange sollte mein nichtig gewordenes Leben ja nicht mehr fortwähren.
Ich saß noch immer auf dieser verlassenen Bank in der kälter werdenden Nacht. Eine große, alte Eiche thronte mächtig über der alten Bank und schien Nachtwache zu halten, schien mit ihren langen, morschen und verzweigten Ästen, die überall um mich herum von dem weisen Baum herabhingen, mein schändliches Nachtwerk vor den Augen der Welt verbergen zu wollen. Doch meine Selbsterlösung sollte noch einige Augenblicke auf sich warten müssen.
Zu dieser späten Stunde brach der helle Mond nun doch noch einmal durch den Wolkenhimmel, das fahle Mondlicht spiegelte sich dabei im kalten Metall, dass ich in meinen zitternden Händen hielt.
Der Wind heulte, blies um mein von Verzweiflung gezeichnetes Gesicht, während ich mit dem Wind weinte. Ich selber, voller Leere, keine Hoffnung, keine Freude, keinen Lebensmut mehr, den sie mir doch einst so oft gespendet hatte. Mein Blick verschwamm, wurde trübe und unscharf. Um mich herum ward durch den nassen Schleier meiner Selbstoffenbarung nichts mehr erkennbar. Die Tränen, nur eine weitere Woge endgültigen Ausdrucks ewiger Sehnsucht, von der mich keiner erlösen würde können, denn meine geliebte Königin war fort, meine Prinzessin des unermesslichen Glücks. Sie ist von mir gegangen, obwohl sie doch immer da gewesen war, sie war stets so nah und doch so fern gewesen, für immer unerreichbar, ich hatte sie sehen können, doch blieb sie immer außer Reichweite. Nur ihr Lächeln, welches ich mir in meinem Kopf versuchte vorzustellen, war noch alles, was übrig geblieben ist.
Diese Erinnerung daran konnte mir nicht mehr genommen werden, doch war sie nicht annähernd so exakt wie das reale Lächeln, nicht annähernd so lieblich, ebenso konnte ich nicht die Wärme spüren, die ich bei ihrem Anblick immer empfunden hatte.
Doch damit nicht genug, ich wusste nicht, ob ich es gerade Glück nennen konnte, aber ich hatte in diesem Augenblick nicht nur ein Bild von ihr in meinem Kopf, sondern auch den wunderschönsten und herrlichsten Namen, ihren Namen, der mich bis in meine Träume verfolgte und in meinem Gedächtnis unaufhörlich verweilte: Eva. Sein frohlockender Klang ließ mich, wenn er auch nur ausgesprochen wurde und mein Stille gewohntes Ohr erreichte, stets von Neuem verzaubern und dahinschmelzen wie Eis in der Sonne.
Nie würde ich ihn vergessen, ich wollte diesen Namen mit hinübernehmen auf die andere Seite, auf dass er mich für immer daran erinnern würde, für wen ich gestorben sein würde.
Und doch wusste ich so wenig von ihr, ich kannte nicht mal ihre Augenfarbe, und dies bestürzte mich zutiefst. Ich wollte aus dem Leben scheiden ohne auch nur ihre Augenfarbe gekannt zu haben.
Ich musste feststellen, dass sie für mich dem stets schlagenden Organ in meiner Brust gleichkam, das mich am Leben erhielt aber zugleich auch der Grund für mein vorzeitiges Entweichen in die Sphären der Schmerzlosigkeit war, wohin ihr strahlendes Lächeln mich dann (hoffentlich) nicht hätte verfolgen können um mich somit wieder mit schwarzer Agonie in den Schlund der Hoffnungslosigkeit zu stoßen.
Wie die ganzen Nächte zuvor saß ich auch an jenem mysteriösen Abend wieder auf der kleinen Holzbank unter der alten Eiche, die mich schon oft weinen hatte sehen müssen. Die Äste begleiten meine Trauerzeremonie in stiller Anwesenheit.
Mit feuchten Augen blickte ich auf meine Hände hinab: in der einen Hand mein letztes Gedicht, welches über den Ausklang meiner sinnlosen Existenz verkünden sollte und in der anderen wiederum dieses Stück Eisenmetall, dessen blanke Seite mich bedrohlich anlächelte und dennoch wusste ich, dass dieser Gegenstand neue Pforten öffnen würde, durch die sie mir nicht hätte folgen können.
Noch ein letztes Mal blickte ich den alten Trampelpfad hinab, der in die Stadt führte. Keine Menschenseele zu sehen, nicht dass ich mir das wünschte. Mein Werk durfte nicht gesehen werden, auf keinen Fall.
Dann zuckte ich plötzlich krampfhaft zusammen, schlug mir die kalte Seele aus dem Leib, indem ich mir die stumpfe Scheide in meine linke Brust trieb. Eine klebrige Flüssigkeit glitt durch die Finger, die das Messer noch immer krampfhaft umklammert hielten. Mir wurde schwindlig, meine Sinne schienen langsam zu versagen. Um meine Augen legte sich ein schwarzer Schleier der lang ersehnten Erlösung.
Welcher Art ist hier der Traum?
Noch einmal stellte ich mir vor, wie sie mich mit ihren süßen kirschroten Lippen anlächelte und mit ihren glühenden Wangen stellte sie ein Ebenbild der schönsten Rose dar. Weiter schenkte ich meine letzten Herzschläge diesem wunderschönen Traum. Ich dachte nur: Eva, mein geliebter Engel, meine Rose, mein Sonnenschein, mein Leben ist bedeutungslos ohne deine Liebe. Hiermit begebe ich mich ins Reich des Todes, wo ich wieder alleine verweilen werde.
In der letzten Sekunde meines dahinschwindenden Lebens sah ich, wie die Nacht einem hellen, näher kommenden Schimmern wich. Ich spürte noch ein letztes Mal diese unbeschreibliche Wärme, wie ich sie sonst nur in Evas Nähe verspürt hatte. Und auf einmal vernahm ich ihr leuchtendes Gesicht, ihr Lächeln, ihre goldenen Haare, ihre kleinen, süßen Ohren und ihre karmesinroten, weichen Lippen über meinem Gesicht.
War ich bereits tot, oder träumte ich noch? Ich konnte es nicht sagen. Ich keuchte in die Nacht hinein:
„Eva, ich vermisse Dich so sehr, ich will Dich nicht verlassen, bitte bleib bei mir!“
Eva setzte sich neben mich ins Gras (ich lag bereits auf dem Boden) und hielt meine kalte Hand in der Ihrigen, die so warm und weich war. Ihre zarten, süßen Finger umschlossen meine nunmehr schlaffe Hand und sie wartete ab, wie ich langsam hinüberglitt…
Dann ein lieblicher Kuss, oh Gott, ihr Lebenshauch streifte meine Lippen.
Was danach geschah, vermochte ich nicht zu sagen. Alles, was ich sehen konnte, bevor sich die Schwärze wie ein Grabtuch über meine Sinne legte, waren Shilouetten in der Ferne.
Und während ich meinen letzten Herzschlag abwartete, war sie auch schon so schnell wieder gegangen, wie sie gekommen war, schien mit der kühlen Nachtluft entflogen zu sein.
Jetzt waren die Shilouetten deutlich näher gekommen, wurden zu schemenhaften Umrissen. Es waren zwei Männer und eine Frau, die etwas zu schreien schienen, was ich aber nicht hören konnte.
Während die Schwärze vollständig über mich hereinbrach, galt meine letzte Aufmerksamkeit der Frage, warum sie wohl nur in eben jener Stunde zu mir gekommen war…