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Evolution

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10.05.2008
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Evolution

Draußen vor dem Fenster singt ein kleiner Dinosaurier, während sich ein Mini-Säbelzahntiger schnurrend an meiner Hand reibt. Früher hätte er sie abgerissen und in einem Rutsch gefressen. Evolution ist wirklich etwas Angenehmes.
Da sitze ich – die Krone der Schöpfung – und jage mir meine Spritze in den Arm. Der kleine Dino vor meinem Fenster fliegt zirpend davon, als hätte er genau darauf gewartet. Machs gut, mein Lieber, man sieht sich. Evolutionier noch ein bisschen, vielleicht wird ja doch noch was aus dir.

Ich kippe nach hinten, die Spritze immer noch in meinem Arm und scheiße mir dabei in die Hose. Ja, ich, die Krone der Schöpfung, das Meisterwerk der natürlichen Auslese, scheiße mich ein. Es ist nicht einmal unangenehm. Fast behaglich, wie eine alte Kuscheldecke aus der Kindheit.
Die Wirkung der Spritze ergießt sich über mich und umfängt mich wie eine Plazenta. Ich stürze raus aus dieser Welt und rein in die kuschelige Dunkelheit. „Hello Darkness, my old friend. I´ve come to talk with you again.“
Meine Gedanken verlieren sich in der Unendlichkeit meines eigenen Kopfes. Die Zeit beginnt zu zerfließen, wie Vanilleeis auf einer voll aufgedrehten Heizung. Ich entwickele mich zurück zum Einzeller. Verdammt und glücklich treibe ich dahin in meinem eigenen Sud.

Bismarck, mein Kater, knabbert an meinem Fuß herum. Keine Ahnung, wie lange er schon am Knabbern ist. Das ist allerdings auch nicht der Grund dafür, dass ich wach geworden bin.
Ich starre an die Decke die einmal weiß gewesen war, nun aber das Gelb von Nikotin angenommen hat und voller seltsamer schwarzer Flecken ist, von denen ich keine Ahnung habe, wie sie dorthin gekommen sind. Ich starre oft dorthin, vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen kann, weil die Nachbarin über mir sich alle zwanzig Minuten mit ihrer Gehhilfe zur Toilette schleift. Ihre Blase muss die Größe einer Erdnuss haben.
Dieses schreckliche Geräusch von Metallstelzen, die auf den Parkettboden knallen. Es hört sich jedes Mal an, als würde sich die alte Dame dort oben prügeln. Als würde sie jede Nacht mit dem Tod wrestlen.
Plötzlich höre ich, was mich wieder in die Realität der anderen zurückgespült hat.

„Hilfe!“

Die Stimme klingt, als käme sie aus tiefem Wasser. Hilflos und gebrechlich dringt sie durch die Mauern meiner Altbauwohnung.

„Hilfe!“

Monoton und so verzweifelt. Es ist die Stimme der Frau über mir. Wie lange sie wohl schon ruft? Ich hebe meinen Kopf und sehe aus dem Fenster. Es ist immer noch ein wenig hell, viel Zeit kann noch nicht vergangen sein. Obwohl die Kacke an meinem Hintern bereits fast getrocknet ist.
Das dritte „Hilfe“ schmerzt in meinem Kopf. Ich weiß, dass ich endlich meinen Arsch hochkriegen sollte, um ihr zu helfen. Ich weiß aber auch, dass ich mir wünsche, einfach kein weiteres „Hilfe!“ mehr von ihr hören zu müssen. Und tatsächlich: Für ein paar Minuten ist es still und ich beginne mir einzureden, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Das mein zerfressenes Gehirn mir nur einen makaberen Streich gespielt hat. In der Stille geht Bismarck von Knabbern zu Ablecken über.

Dann kommt es wieder, etwas leiser zwar, doch trotzdem füllt es meinen ganzen Verstand aus.

„Hilfe!“

Ich schäme mich dafür, aber ich will es einfach nicht mehr hören. Am liebsten würde ich meinen Fernseher, oder meine Anlage voll aufdrehen. Doch mein Strom ist abgestellt. Die Stimme der alten Frau ist die erste, die ich seit Tagen höre.
Ich schwanke gedanklich und versuche gegen die Schweinehundarmee in meinem Kopf anzukämpfen. Während ich noch dabei bin, hat mein Körper bereits eine neue Spritze aufgezogen und den Arm für die Injektion vorbereitet. Ich mache einen überraschten Gesichtsausdruck, als ich mir die Nadel in den Arm steche, so als hätte ich niemals damit gerechnet…
Die Dunkelheit, mein alter Freund, kommt diesmal nicht langsam angekrochen, sondern fällt über mich her wie ein bengalischer Tiger. Die Welt rauscht unter mir davon wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat. Keine Dinosaurier mehr vor meinem Fenster, keine alte Frau, die über mir mit dem Tod wrestlet. Nur ich, der in einer giftigen Blase durch den endlosen Raum treibt.

 

Hallo Zellhaufen,

Eine schön beschriebene Szene von Drogenkonsum und Sich-gehen-lassen, und dementsprechend passende Bilder.

zwei paar komische Ausdrücke:
"Evolutionier" - heisst das nicht "evoluier"?
"scheiße mich ein." - "an" oder?

und
"alles nur eingebildet habe. Das mein zerfressenes Gehirn" - "habe, dass..."

Mochte den Vergleich mit der Kuscheldecke, (würde dann kurz darauf aber nicht nochmal "kuschlig" verwenden) und Simon and Garfunkle im Hintergrund.

Gern gelesen

Liebe Grüsse

Elisabeth

 

Hallo zurück,

die komischen Ausdrücke sind Absicht, die Rechtschreib- und der Doppel-Moppelfehler nicht... Danke für deine Kritik.

LG

 

Hallo Zellhaufen,

ich setze das Fazit zu deiner Geschichte an den Anfang. Direkt. Sachlich. Treffend.

Die ersten Zeilen mit dem Dinosaurier und dem kleinen Säbelzahntiger führen auf bitterkomische Art und Weise in die Handlung ein. Da ich selber in jüngeren Jahren viel gekifft habe und damals oft ähnliche innere Kämpfe ausefochten habe, traf mich die Thematik mitten ins Herz. Man kann das Verhalten des Prots auch auf zahlreiche andere Gesellschaftsschichten übertragen. Die Gleichgültigkeit gegenüber allem und die Unfähigkeit, seinen inneren Schweinehund zu überwinden ist eine weit verbreitete Krankheit in der modernen Welt.

Wirklich eine absolut treffende Momentaufnahme aus dem Leben eines drogensüchtigen, abgewrackten Menschen. Schönes Ding.

PS: Der Begriff "Wrestlen" stört mich irgendwie auch, wobei er natürlich auch den begrenzten Horizont und Wortschatz des Drogensüchtigen ganz gut herausstellt. Weiß nicht recht.

Herzlichst
Markus

 

Dickes Dankeschön für eure netten Kommentare!
Wenn das Wort "wrestlen" so stört werde ich das arme Ding wohl ins digitale Nirvana schicken müssen. Tut mir ein bisschen leid für es, schließlich hätte es sich ja noch "evolutionieren" können...
LG

 

Hej Zellhaufen,

in Kombination mit der Überschrift lese ich aus Deiner Geschichte eine Kritik an der Idee, der Mensch sei etwas Besseres (als ein z.B. ein Säbelzahntiger) heraus.
Man könnte es aber auch so verstehen, dass dies nur für Junkies gilt.

Gut geschrieben, bis auf die unnötige Verwendung des Wortes "wresteln" - mir fällt gerade auf, dass Du es sogar zweimal verwendest.

scheiße mich ein.
"scheiße mir ein" kenne ich - mal sehen, was Du da noch für Angebote bekommst.

meinem Hintern bereits fast getrocknet ist.
ich würde das "bereits" weglassen.

Viele Grüße
Ane

 

Ah, itzt doch noch was hierzu, sehen wir mal davon ab, was zuvor an anderer Stelle zu Hilfsverben, Kommasetzung und Konjunktiv gesagt wurde.

Grüß Dich Zellhaufen,

ich ließe "wrestlen" stehn, sind doch z. B. auch die kleinen Dinosaurier von Piepmätzen die Nachkommen der großen Vorfahren. Zudem lässt sich dann die englische Gramm. mit der würde-Konstruktion harmonisch einfügen.

Schön find ich, dass diese kleine Geschichte über einen Ohnemich(el) vor der medial gefeierten Woche des Ehrenamtes (wann gibt's endlich wenigstens einen Tag für Schwerhörige &/oder Halbtaube?) hier eingestellt wurde.

Gruß & nix ... ungut

Friedel

 

Dass die Geschichte kurz vor der Woche des Ehrenamtes eingestellt wurde war leider keine Absicht... Schade.
Im Übrigen habe ich (zumindest in meiner Word-Datei) den Begriff "mit dem Tod wrestlen" durch "mit dem Sensenmann ringen" ersetzt. Ich weiß nicht, ob das wirklich besser ist.

 

Hallo zellhaufen.

Fand ich auch ganz nett die Geschichte. Die Gedanken sind schön abgespaced, und dann wird man mit sterbeneden Omis und Scheiße in die Realität zurückgeholt... guter Effekt.

mfg,


JuJu

 

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