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Ewiges Leben
Er hatte die Augen geschlossen und um noch atmen zu können, versuchte er die Pistole nicht zu weit in seinen Mund zu stecken. Er wollte sich den Schädel wegpusten und nicht einen erbärmlichen Erstickungstod sterben. Das wäre zu peinlich gewesen. Er hatte schon die Zeitungsartikel vor Augen: Mann, der sich selbst töten will, erstickt an seiner eigenen Waffe. Ha ha. Das wäre bestimmt die Krönung seines verkorksten Lebens gewesen.
Was hatte er eigentlich zu verlieren. Ihm fiel nichts ein. Rein gar nichts. Keine Freunde, keine Familie, nicht einmal ein richtiges Sexualleben. Sogar die Nutte im Dorf ließ sich nicht einmal gegen Bezahlung auf ihn ein. Dann kam noch dieser beschissene Job als Totengräber hinzu.
Er war gewillt den Lauf der Waffe tiefer in seinen Mund zu stecken, doch er konnte sich noch zurückhalten.
Wieso, dachte er sich, hatte er eigentlich das ganze Waffenmagazin mit Patronen aufgefüllt? Wollte er ein zweites Mal abdrücken, wenn er sich selbst verfehlen würde? Oder vielleicht sogar ein drittes mal? Egal. Er wollte es jetzt hinter sich bringen.
Er hatte oft gehört, dass einen Menschen kurz vor dem Tod noch das gesamte Leben als Film vor den Augen abläuft, das wollte er sich nicht entgehen lassen. Doch wie typisch in seinem Leben ließ auch der auf sich warten.
Nicht einmal eine eigene Wohnung hatte er, stattdessen wohnte er in diesem alten, abbruchreifen Haus auf dem Friedhof, das die Gemeinde für ihn bereitgestellt hatte.
Drück‘ ab, der Film kommt nicht mehr, also worauf wartest du noch?
Er wusste es nicht. Über fünfzig Jahre lang irrte er auf dieser Welt rum und er hatte sich immer völlig fremd gefühlt. Man hatte ihn verhöhnt und ausgelacht. Fünfzig verdammte Jahre, in diesem fetten hässlichen Körper, der jedem Einwohner in diesem scheiß Dorf ein Grinsen abmühte. Fünfzig hingeschissene Jahre! Wo bleibt dieser verfluchte Film? Hey, ihr da oben, legt endlich den Film ein!
Plötzlich hörte er ein Kratzen. Was war das? Kam es von draußen, oder hatten die da oben endlich den Wiedergabeknopf gefunden? Es war ihm egal. Er wollte nicht mehr warten, das hatte er schon lange genug getan. Er wollte endlich diese Welt verlassen.
Das Kratzen wurde lauter. Was, verdammt noch mal, war das?
Erst vor einigen Wochen hatte er ein paar Jugendliche verprügelt, die er beim Gräberschänden erwischt hatte. Waren sie gekommen um sich zu rächen? Mit einem lauten Klirren ging eine Fensterscheibe zu Bruch. Er riss die Augen auf und zog den Lauf seiner Pistole aus dem Mund. Wenn diese Punks zurückgekommen waren, wollte er sich ihnen entgegenstellen. Mit wütenden Schritten ging er zu Tür und öffnete sie. Und das was er da sah, ließ ihm das Blut in seinem fetten Körper gefrieren. Mister Roth, den er erst vor einem halben Jahr begraben hatte, stand vor der Tür. Sein Anzug, indem er ihn beerdigt hatte, war zerrissen und einige Stellen seines Körpers waren schon halb verwest. Nur sein Grinsen, den er früher schon so verabscheut hatte, war breiter geworden. Vor Schreck sprang der Totengräber zurück, stolperte allerdings dabei und fiel zu Boden.
Die Arme ausgestreckt wie ein Schlafwandler kam Mister Roth mit langsamen aber stetigen Schritten auf ihm zu. Der Totengräber hob seine Waffe und schoss. Die Kugel traf sein Ziel und hinterließ ein riesiges Loch in der Brust des Toten. Doch Mister Roth setzte seinen Weg fort, um das tun, weswegen er aus dem Reich der Toten auferstanden war. Um zu Töten.
Der Totengräber kroch zurück im Zimmer und schaffte es auf die Füße zu kommen. Warum fällt diese zerlumpte Leiche nicht tot um, fragte er sich dabei. „Vielleicht, weil er schon tot ist. “, hörte er sich sagen. Eine zweite Fensterscheibe ging zu Bruch und er sah wie ein halb verwester Arm durch das Fenster schaute. Bevor der Totengräber sich wieder Mister Roth zuwandte, hatte der ihn auch schon am Hals gepackt und drückte fest zu. Du wirst nun doch einen Erstickungstod sterben, dachte er sich, als ihm langsam schwarz vor Augen wurde.
Mit letzter Kraft hob er seine Waffe, presste sie an die Stirn der lästigen Leiche und zog den Abzug. Wie eine überreife Melone explodierte der Kopf und hinterließ im Zimmer eine unvorstellbare Sauerei. Aber Mister Roth, der eigentlich tot war, war jetzt wirklich tot. Mit einer angewiderten Handbewegung wischte er sich einige Hirnreste vom Gesicht und eilte gleich zum nächsten Zombie, der immer noch versuchte mit einem breiten Grinsen durch das Fenster einzusteigen. Erneut hob er die Waffe, doch bevor er schießen konnte, rutschte die Leiche ab und köpfte sich selbst an den restlichen Glassplitter, die am Fenster hochragten. Geschieht ihm recht, hätte nicht so blöd grinsen sollen, dachte sich der Totengräber und lief zur Tür. Er schaute hinaus in die klare Sommernacht und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Hunderte, oder vielleicht sogar Tausende von Toten hatten ihre Gräber verlassen und waren dabei den Hügel hinaufzugehen auf dem sein Haus stand. Wieder hörte er Fensterscheiben zu Bruch gehen, doch diesmal kam es vom Schlafzimmer. Als es dazu noch laut krachte, brauchte er nicht lange zu raten, dass es sich dabei um die Hintertür handelte.
Er war in der Falle. Sie hatten ihn umzingelt. Nur war das so schlimm? Vor fünf Minuten wollte er doch sowieso sterben. Sich die Kugel geben. Seinem erbärmlichen Leben ein Ende setzen.
Ja, er fand es schlimm. So wollte er nicht abtreten. Er wollte seinen Tod selbst bestimmen und nicht Futter für eine Meute von grinsenden Arschlöchern werden.
Wütend trat er die Schlafzimmertür ein und schoss den drei Zombies, die sich um seinem Bett zu schaffen machten, die Schädel weg. Zehn Patronen befanden sich noch in seiner Waffe, dessen war er sich bewusst. Nur was dann? Er ging zum Schlafzimmerschrank und holte seinen Baseballschläger hervor. Damit würde er seinen Friedhof verteidigen. Wenn es sein müsste, bis zum letzten Atemzug. Dieser Friedhof war sein Reich, auch wenn er ihn so abgrundtief hasste, durfte Niemand es schänden. Schon gar nicht irgendwelche übel riechenden Leichen, die er selbst unter die Erde gebracht hatte.
Mit der Waffe im Hosenbund und dem schweren Holzschläger in der Hand ging er wieder zurück zur Vordertür und verließ das Haus. Der Vollmond warf seinen hellen Schein auf das Szenario und brachte die Zähne der grinsenden Toten zum leuchten. Euch wird das Lachen noch vergehen, wenn ihr Bekanntschaft mit meinem zwei Kilo schweren, aus Hartholz geschnitzten und grün-weiß lackiertem Schläger macht, dachte sich der Totengräber und stürzte sich mit einem lauten Schrei auf die tote Horde.
Er schlug hart und wild um sich und traf jedes Mal sein Ziel. Die Köpfe der lebenden Leichen zerplatzten mit einem dumpfen Geräusch und die Überreste spritzten umher. Unbeeindruckt von den umfallenden Kollegen, drängten sich die anderen Zombies zu dem Totengräber und stießen sich dabei gegenseitig zur Seite. Unermüdlich schlug der auf sie ein. Hin und wieder nahm er seine Waffe zur Hand und schoss auf einige besonders freche Zombies, die ihm zu nah kamen.
Als er sich mal eine kurze Atempause gönnen konnte, schaute er zurück und sah eine lange Schneise mit völlig zerfetzten Leichenteilen, die auf dem Boden verstreut lagen. Er war gut, er war sogar verdammt gut. Wie viele hatte er schon umgelegt? Zwanzig? Dreißig? Oder vielleicht schon fünfzig? Er hatte nicht das Bedürfnis sie zu zählen. Er schwang fröhlich weiter seinen Holzschläger und die hungrige Meute stürzte sich auf ihn. Die meisten Gesichter, die er zu Brei schlug, kannte er. Jeden einzigen von ihnen hatte er gewaschen, geschminkt und ihnen ein würdevolles Begräbnis bereitet, obwohl er sie alle gehasst hatte. Sie waren Schuld an seinem beschissenen Leben. Nie hatten sie ihn ernst genommen. Immer als Dorftrottel beschimpft und ausgegrenzt. Er schlug härter und schrie vor Wut. Sie hatten ihn sogar so weit dazu gebracht, dass er sich selbst erschießen wollte. Und sogar in ihrem Tod konnten sie es nicht lassen ihn mit ihrem Grinsen zu verhöhnen.
Was habe ich euch getan? Er zog seine Waffe und verschoss die letzten Kugeln aus seiner Waffe. Was??? Als nur noch ein hohles Klicken aus seiner Waffe kam, warf er sie weg und bearbeitete die toten Körper weiterhin mit seinem Baseballschläger.
Er merkte, dass ihm langsam die Kraft ausging. Wie lange konnte er diese körperliche Tortur noch aushalten, um dann letztendlich doch aufgeben? Verzweifelt schaute er um sich. Einen Großteil der Zombies hatte er wieder in das Reich der Toten geschickt, doch sie waren immer noch zu viele. Hilfe aus dem Dorf konnte er nicht erwarten, dafür war der Friedhof zu weit weg. Und außerdem, wer sollte ihm helfen? Die beiden verblödeten Polizisten etwa, die das Dorf als Schutz für die Bevölkerung eingestellt hatte? Er zweifelte daran.
Plötzlich packte ihn Jemand von hinten an die Schulter. Wie von der Tarantel gestochen drehte er sich um und verlor dabei seinen Schläger. Voller Wut griff er den Arm der Leiche, riss ihn ab und prügelte auf ihn ein. Er wusste, wenn er sich bücken würde um den Schläger aufzuheben, würden sich die Zombies auf ihn stürzen. Der abgerissene Arm zerfiel nach einigen Schlägen und plötzlich stand er unbewaffnet vor der grinsenden Horde, die jetzt abwartete.
Der Totengräber schrie sie wütend an und die Ex-Leichen wichen erstmals zurück. Sie warten nur auf den richtigen Augenblick, dachte er sich und schrie sie erneut an, doch diesmal blieben sie stehen.
Für einen kurzen Augenblick herrschte Stille. Sie schauten sich abschätzend an und warteten.
„Was jetzt?“ Der Totengräber hob fragend und auch verzweifelt die Hände.
Wie auf Befehl stürzten sie sich auf ihn. Sie packten ihn von allen Seiten und warfen ihn zu Boden. Überall waren Hände und Zähne, die ganze Fleischstücke aus seinem fetten Körper ausbissen. Er schrie und schloss die Augen. Den Moment seines Todes wollte er nicht sehen. Eigentlich auch nicht miterleben, doch das war jetzt unvermeidlich.
Film ab! Er sah sich plötzlich selbst, wie er als kleines fettes Kind von seinen Mitschülern gehänselt wurde. Er sah, wie seine Eltern ihn im Dorf bei den Großeltern zurück ließen und für immer weg fuhren, um in der Stadt ein neues Leben anzufangen. Er sah die Gesichter der jungen Frauen, in die er verliebt war und die sofort die Straßenseite wechselten, sobald sie ihn sahen. Ach, es war ein scheiß Leben. Vielleicht besser so!
Der Film endete und seine Gedanken wurden wieder klarer. War das immer so, wenn man stirbt? Er konnte es nicht wissen, schließlich war es das erste Mal.
Ein anderer Gedanke drängte sich plötzlich auf.
Menschenfleisch.
Nein! Nein! Nein! Er mochte Erbsen, Bohnen und Steak.
Menschenfleisch.
Nein, kein Steak. Er musste versuchen sein Gehirn zu kontrollieren, das war seine einzige Chance zu vermeiden, genau wie diese seelenlose Geschöpfe durch die Gegend zu irren und nach Menschenfleisch zu gieren.
Menschenfleisch.
Neeeiiiinnn!!!
Er öffnete die Augen und kämpfte sich auf die Beine. Was eigentlich ganz gut wäre, nur wollte er das nicht. Sein Körper machte was er wollte und er hatte keinerlei Macht darüber. Er folgte einfach den anderen Möchtegernleichen, die zum Dorf trotteten. Typisch, dachte er seinen letzten freien Gedanken und grinste. Genau an dem Tag, wo ich mich selbst töten wollte, wurde mir ewiges Leben beschert.
ENDE
© 1998 Dogan I.