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Extreme Gruppe
Denker war endlich eingeschlafen. Der Alkohol, welcher ihm vorher reichlich von Greifer in der Kneipe und auf dem Konzert eingeflößt wurde, hatte seine benebelnde Wirkung entfaltet und die Gruppe von Denkers Obacht für eine kurze Zeit befreit. Verschiedenartige Flüssigkeiten hatten den ganzen Abend die Runde gemacht, und deren lähmende Kräfte spürten nun alle in ihren Knochen. Sie lagen da und sagten in gewohnter Weise nichts.
Nur Schlenker wimmerte leise vor sich hin. Greifers Bruder war etwas schmächtiger als er, weniger durchtrainiert und muskulös, wenn man bei der Gruppe überhaupt von Muskeln sprechen konnte. Ihn schmückte ein großes, blutiges Pflaster.
„Hör endlich auf.“, sagte Greifer entnervt vom anhaltenden Schluchzen. Aber Schlenker ignorierte ihn in seinem Selbstmitleid.
„Er hat heute ein neues Tattoo verpasst bekommen. Denker hat es befohlen.“, versuchte Tonne seinen kleinen Freund vor dessen größeren Bruder zu verteidigen.
Manchmal, wenn Denker in einer seiner Stimmungen war, dann zwang er sie zu solchen Sachen. Es tummelten sich auf ihrer Haut halbnackte Meerjungfrauen neben stachligen Ornamenten, verschlungene Drachen um schwarze Grabsteine, Runenschrift zwischen Fledermausflügeln. Alle aus der Gruppe waren mehr oder weniger mit solchen Bildern oft mangelnder Qualität gezeichnet. Selbst der kleine Johnny hatte schon Bekanntschaft mit dem Tätowiergerät schließen dürfen. Aber Schlenker war am stärksten betroffen. Seine schlaffe Haut war über und über in tintiges Dunkelblau getaucht, so dass die anderen ihn häufiger mal „den Schwarzen“ oder noch einfallsloser „Black Beauty“ nannten.
„Was heult er dann schon wieder? Er muss doch langsam dran gewöhnt sein.“, sagte Greifer verständnislos.
„Aber diesmal ist es mit Farbe!“, rief Schlenker trotzig mit verweinter Stimme zurück.
„Und bei Farbe gehen sie besonders tief in die Haut.“, gab Stampfer zu bedenken, der auf diesem Gebiet ebenfalls schon leidvolle Erfahrungen hatte sammeln können. Sein Zwillingsbruder Hinker murmelte zustimmend. Greifer schwieg, als ihm klar wurde, dass er natürlich nicht auf seinen unschuldigen Bruder wütend war, sondern auf Denker, den Chef der Bande. Sie kannten sich alle schon von klein auf. Nie hatte es eine Zeit gegeben, in der Denker nicht der Kopf der Gruppe gewesen war, der Anführer ihrer Gang. Sie hatten sich mittlerweile so daran gewöhnt, dass er das Denken und Entscheiden für sie übernahm, dass sie sich gar nichts mehr anderes vorstellen konnten. Er war ein Diktator im kleinen, jedoch mindestens genauso böse wie die großen. Was der Fiesling befahl, wurde gemacht – musste gemacht werden, da gab es keine Widerrede, sonst...
Die Gruppe litt sehr unter Denker. Sie hatte sich bisher nicht in der Lage gefüllt, etwas gegen ihn unternehmen zu können. Nackte Angst verhinderte es. Greifer hatte nun jedoch einen Plan.
Alles hing von Tonne ab. Alle mochten ihn, und wenn er etwas sagte, dann besaß es meistens Hand und Fuß. Eigentlich war Tonne derjenige, der die Gruppe zusammenhielt. Doch er war auch der, dem Denker am nächsten stand. Oft überließ es Denker dem gutmütigen Riesen den anderen seine Pläne zu erklären und die Ausführung zu überwachen, während er schon wieder neuen gemeinen Ideen nachging. Es musste Greifer lediglich gelingen Tonne zu überreden, dann wäre Denker mit einem Schlag machtlos gegenüber den anderen. Sie könnten sich vielleicht sogar gänzlich von ihm lossagen.
Ein bedrückendes Schweigen lag über ihnen, nur unterbrochen vom inbrünstigen Schnarchen Denkers. Schlenker hatte zu weinen aufgehört und harrte mit den anderen der Dinge, die bald kommen würden. Er wusste um die Absichten seines mutigen Bruders, war aber selbst noch nicht entschlossen genug, als erster das Wort zu ergreifen. Es würde sich erst noch zeigen müssen, wie der Plan sich entwickelte.
„Wieder einmal ist Blut geflossen. Wieder einmal musste einer von uns leiden zur Belustigung Denkers.“ Greifers Worte schnitten sich theatralisch in die Stille der Nacht.
Es gab sofort ein allgemeines Getuschel unter den anderen. Nur Tonne hielt sich zurück, denn er ahnte bereits, in welche Richtung das nun folgende Gespräch laufen würde. Er war sich unsicher.
„Mein Bruder hat es diesmal ausbaden müssen. Wieder eines dieser bescheuerten und nichtssagenden Tattoos, zu dem er von Denker gezwungen wurde.“ Schlenker unterstützte die Aussage durch ein weiteres mitleiderregendes Schluchzen.
„Wir haben alle schon viel ertragen müssen. Oder nicht?“ Greifers Ton wurde mitreißender.
„Hinker, du weißt es doch mit am besten! Stampfer, erzähle uns von seiner Narbe.“ Alle kannten die Geschichte über Hinkers Narbe an der Ferse, hatten sie schon tausendmal gehört – ja waren sogar dabei gewesen. Aber Hinker redete nicht viel. Stampfer sprach meist für ihn.
„Ihr wisst es ja, wie impulsiv Denker ist,...“, begann Stampfer die Erzählung. „...ein richtiges Arschloch, wenn er was getrunken oder genommen hat, wenn’s um Frauen geht, wenn er mal wieder Ärger mit irgendwem hat oder überhaupt. In einem Moment ist er dein bester Freund, und im nächsten da sticht er dir ein Messer in die Hacke. Von wegen Armeedienst und nicht eingezogen werden! Wehruntauglich hat er gesagt! Pah!“ Die Verachtung in Stampfers Worten wurde fast körperlich spürbar. Sein Bruder Hinker sank von alten Erinnerungen betrübt auf den Boden nieder. Ihm war, als würde die dicke Narbe an der Stelle, wo vorher die Achillessehne sich spannte, vor Wut pochen.
„Er hat nicht einmal gefragt! Danach sich auch nicht entschuldigt! Meinte, das wäre das einfachste und beste so!“ Alle horchten auf, denn wenn Hinker sprach, war jedes Wort sein metaphysisches Gewicht in Gold wert, so selten waren sie.
„Es tut mir Leid. Ich ... ich...“ Greifer fühlte sich nun selbst den Tränen nah.
„Schon gut! Mein Bruder weiß, dass du nichts dafür kannst. Wir werden alle nur von ihm benutzt.“, sagte Stampfer, um die unangenehmen Sekunden auszufüllen.
„Schön wär’s!“ warf der kleine Johnny ein, aber wie üblich überhörte man ihn.
„Genau! Benutzt werden wir. Denker glaubt, wir haben nur ihm zu dienen. Er ist der Boss, und wir einfach nur seine Handlanger!“
„Und Laufburschen!“, erweiterte Stampfer die Aussage, „Müssen hier- und dorthin rennen, um Bier zu holen, oder zum nächsten Dealer. Aber wir machen nie richtigen Sport!“
„Was?“, fragte Greifer ungläubig, in seinem Eifer etwas irritiert von der plötzlichen Wendung des Themas.
„Ich würde gern Sport machen. Bisschen Joggen oder so. Aber dafür hat Denker keine Ohren.“
„Oder Krafttraining.“, fügte Schlenker hinzu, denn daran hatte er selbst schon oft gedacht.
‚Diese Idioten versauen mir alles mit Tonne.’, dachte Greifer wütend.
„Sport wäre nicht schlecht.“, gab da Tonne grüblerisch von sich. Greifer war von dieser Reaktion überrascht. Vielleicht...?
„Ich wüsste einen Sport, den ich mal wieder gerne machen würde!“, ließ sich da der kleine Johnny hören. Und da ihn ausnahmsweise niemand unterbrach, sprach er weiter.
„Wir lernen nie Weiber kennen. Allerhöchstens blöde Schlampen. Und wenn’s dann zur Sache gehen soll, dann kann ich nicht mehr wegen der beschissenen Drogen.“
„Richtig! Der einzigen Sport, den Schlenker und ich kennen, ist das Fixen. Ich bin übersäht mit den scheiß Nadeleinstichen.“, führte Greifer das Thema aus, und sein Bruder Schlenker stöhnte hilfreich beim letzten Wort.
„Sogar ich hab mal so ’ne fette Nadel drin gehabt, und ihr wisst ja, wie es ausgesehen hat danach.“, sagte der kleine Johnny, und alle erinnerten sich daran, wie sehr sie sich um ihn und die schlimme Entzündung, die er bekam, gesorgt hatten.
„Ich muss zugeben, dass die Drogensache, mir auch ganz schön zu schaffen macht.“, räumte Tonne ein, „Denker hat sich verändert. Und uns immer tiefer mit reingezogen.“ Greifer hörte seine wachsenden Zweifel mit heimlicher Freude.
„Wir haben schon alle schlimme Dinge erlebt mit Denker, aber ich glaube dir, Tonne, hat er am meisten zugesetzt.“ Greifer präsentierte jetzt seine besten Argumente. Tonne begann aufmerksam zuzuhören.
„Ich meine, wir wissen, wie nah ihr beide euch steht. Ward von Anfang an zusammen. Aber schau dir an, was er aus dir gemacht hat, was sein Einfluss verursacht hat!“ Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Tonne bei diesen Worten.
„Es tut mir Leid, aber du bist fett geworden. Warst mal schlank und kräftig, aber sieh dich jetzt an. Und durch wen hast du deine Bierwampe?“ Tonne schwieg beschämt.
„Wir wissen, er zwingt dich. Ihr sauft immer beide zusammen. Er tut, als wärst du sein bester Freund, aber dann zwingt er dich zu so etwas, und uns mit. Auch heute wieder!“ Tonne schwieg noch immer, und Greifer erkannte darin vorsichtiges Zögern. Er musste noch eindringlicher werden.
„Deine Leberwerte fallen in den Keller, aber ihm ist das egal! Und wenn du ihm dann verstehen zu geben versuchst, dass du nicht mehr kannst, dann zwingt er dich nur noch stärker. Ein schöner Freund!“
„Ein harter Typ braucht keine Ärzte, sagt er immer. Und dass die sowieso keine Ahnung haben.“
„Genau das meine ich.“, bestätigte Greifer, „Oder weißt du noch neulich, als er Streit mit dem einen Typen draußen vor der Kneipe bekam.“ Alle erinnerten sich daran, als wäre es gestern passiert.
„Plötzlich war die ganze Gruppe mit drin verwickelt. Das ist immer so! Denker kann das nie alleine regeln. Und wer trägt am Ende die Narben davon? Ich hab ja nur ’nen Kratzer abbekommen. Aber du!“ Greifer zeigt auf die frische Naht, die Tonne zierte. Der Verband war erst vor wenigen Tagen abgenommen worden, und die lange Fleischwulst sonnte sich noch in blutigem Rot.
„Wäre beinahe daran verreckt. Denker, das Arschloch, hat mal wieder nicht nachgedacht. Und ich musste es ausbaden!“ Tonnes Stimme wurde böser. Die Zeit war jetzt reif, dachte Greifer.
„So ist es!“, rief er verschwörerisch „Wir sind ihm scheißegal! Er braucht uns! Aber...“
„Aber er behandelt uns die ganze Zeit wie Dreck!“, fiel ihm sein Bruder ins Wort, der sich hatte mitreißen lassen.
„Wie Scheißdreck!“ stimmten nun auch andere zu.
„Er hat keinen Respekt!“, sagte Tonne, dem so etwas immer sehr am Herzen lag. „Keine Ehre!“ „Genau!“ „Ja!“ „Richtig!“
„Wir müssen uns von ihm trennen!“
Stille.
Aufgeregte Ruhe. Greifer hatte zu sagen gewagt, was viele sich schon einmal gedacht und manche gewünscht hatten.
„Aber wie...?“, fragte Schlenker ängstig.
„Tonne muss das entscheiden. Von ihm hängt alles ab.“, gab Greifer ernst zu Antwort. „Tonne, nur du kannst uns von ihm befreien.“ Tonne spürte den auf ihm ruhenden Druck. Nun war es doch so eingetreten, wie er es am Anfang bereits vermutete. Er hatte sich übertölpeln lassen. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
„Wir könnten einfach weggehen!“, sagte Stampfer, und machte damit einen Vorschlag der allen gefiel. Greifer wusste, dass Tonne Gewalt gegenüber Denker nie zulassen würde, und stimmte der Idee zu.
„Wir gehen einfach los. Wenn er aufwacht, merkt er von ganz allein, dass wir uns verabschiedet haben. Und dann ist es zu spät. Aber nur du kannst es machen. Nur du kannst uns von hier fortführen Tonne.“
Alle warteten hoffnungsvoll auf die entscheidenden Worte aus Tonnes Mund. Nach einigen qualvollen Sekunden, die allen wie Stunden vorgekommen waren, sagte er endlich:
„Wir tun es.“
Ganz leise und behutsam sprach er diese Wort, und doch trennte ihr Ton im gleichen Moment das Band, welches er zwischen sich und Denker vorher immer gespürt hatte. Tonne sah nie zurück. Eine einmal getroffene Entscheidung stand unumstößlich im Raum und wurde umgesetzt.
Die Gruppe erhob sich vorsichtig. Denker blieb alleine liegen. Er war von jetzt an von der Gruppe getrennt und auf sich allein gestellt. Tonne übernahm die Führung und brachte die anderen hinaus auf die Straße.
Kalte, feuchte Abendluft blies ihnen eine Gänsehaut. Tonne machte stellvertretend für alle den obligatorischen tiefen Atemzug der Freiheit. Sie fühlten sich das erste Mal in ihren Leben autonom und ungezwungen. Dieser neue Zustand gefiel allen so gut, dass selbst die letzten, die eben noch Zweifel in ihrer Entscheidung verspürt hatten, diese gänzlich vergaßen.
Sie stolperten durch die Straßen und Gassen, zum einen noch immer geschwächt durch den Alkohol der vergangenen Stunden, und zum anderen der klaren Sicht Denkers beraubt. Sie kamen nur zögerlich voran, wobei sie nicht einmal wussten, wohin sie eigentlich wollten. Niemand hatte je eine derartige Entscheidung treffen müssen. Alle merkten sie nach und nach, dass, obwohl Tonne seine neue Rolle nach besten Wissen und Gewissen auszuüben versuchte, er irgendwie nur aus dem Bauch heraus lenken konnte, ohne eine klare Vorstellung davon wie er die Gruppe zu koordinieren hatte. Es stolperte Hinker über Stampfer und anders rum. Nur dem schnellen Einsatz von Greifer war es zu verdanken, dass die Gruppe nicht alle paar Schritte einen unordentlichen Haufen auf dem Asphalt bildete.
Mit wachsender Nüchternheit kam Unruhe in die frisch geschrumpfte Gruppe. Als erster meldete sich überraschender Weise Schlenker zu Wort.
„Ich... ich... weiß nicht.“ Mehr sagte er nicht und drückte dennoch genau das aus, was in diesem Moment alle empfanden.
„Ich hab irgendwie Lust zu tanzen und zu springen und umher zu hüpfen.“ Die neue Wind der Freiheit hatte seine alten Ängste vertrieben. Schlenker stieß sich von Tonne ab und stand plötzlich auf der Hand. Dann begann er zu hüpfen und war auch schon mit großen Sprüngen und ohne weitere Erklärungen um die nächste Ecke verschwunden. Von neuem war die restlich Gruppe sprachlos. Dann sagte Greifer, er müsse seinem Bruder hinterher, um auf ihn aufzupassen und seilte sich ebenfalls ab. Tonne merkte, dass sie vielleicht einen Fehler gemacht hatten, als sie sich von Denker lossagten. Aber es ließ sich nicht mehr ändern.
Klein Johnny, Tonne, Hinker und Stampfer liefen noch ein wenig gemeinsam umher, sprachen aber nicht miteinander.
„Wir,... “, sagte schließlich Stampfer „... ich meine Hinker und ich, finden, dass Schlenker Recht hat. Wir wurden solange kontrolliert ... und jetzt... “ Es fiel ihm sichtlich schwer das Gedachte zu sagen, so dass Hinker ihn anstoßen musste „ ... ich meine, jetzt sind wir frei. Und... Hinker und ich wollen endlich mal laufen und ... na ja was Schlenker eben gesagt hat. Wir... gehen auch.“ Hinker und Stampfer trennten sich von den übrigen zwei und liefen davon, wobei Stampfer immer darauf achtete, seinem lahmenden Bruder nicht zu weit vorauszueilen. Sie ließen Tonne und den kleinen Johnny am Bordstein stehen.
„Jetzt sind wir beide allein.“, sagte dieser traurig, „Aber ich bleibe bei dir.“
„Na gut. Mal sehen wohin uns das Leben verschlägt.“ In der Stimme von Tonne lag zu gleichen Teilen Angst und Hoffnung.
In dieser Nacht hatten einige Leute in verschiedenen Teilen der Stadt seltsame Begegnungen mit zwei Armen, einem Paar Beine und dem Torso eines männlichen Körpers. Nur Johnny „Skunky“ McMillbars Kopf lag allein irgendwo zwischen Zigarettenleichen, Bierdosen und leeren Jack-Daniels-Flaschen herum, und fragte sich warum ihn alle verlassen hatten. Und wie sie dazu in der Lage gewesen waren.