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Für alle kommt die Zeit
Die Sonne knallte auf unsere Köpfe und die drei Rosen in meiner Hand schienen zu kapitulieren. Es waren die ersten dieses Jahr aus dem Garten und sie dufteten schon aus ihrer kompakten Kapsel nach Marzipan und Sommer, so dass man am liebsten die Nase darin vergraben hätte, wenn es denn nur möglich gewesen wäre.
Vor mir standen meine Söhne und beobachteten sehr interessiert die Szenerie.
„Mann, ist das tief“, flüsterte André seinem größeren Bruder Maurice erfurchtsvoll zu. „Schschschttt“, zischte der mit einem strengen Blick zu ihm hin.
Die Dorfkapelle spielte das Lied vom alten Kameraden und ein Fahnenträger schwenkte dabei die große, schwere Vereinsfahne über dem Grab von Onkel Toni.
André spielte Bagger, indem er seine Zehen in der linken Sandale zurückzog und Kieselsteine auflud, um sie einige Zentimeter weiter rechts kickend abzuladen.
Die Trauer war nicht bestürzend, da mein Onkel neunzig Jahre alt geworden war und alle schon vorher in der Predigt vom Pfarrer bestätigend erfahren haben, dass man froh sein kann, wenn so ein erfülltes Leben sein verdientes Ende findet.
Meine Gedanken wanderten zurück zu den Momenten, als ich etwa so alt war wie meine Jungs und ich meine Zeit oft in Onkel Tonis Kuhstall verbrachte. Damals stand die Milchkanne mit einem Sieb obenauf noch vor der Stalltür, und die Katzen freuten sich auf das Melkende.
Die Melkmaschine dröhnte durch den ganzen Hof, aber es war ein Geräusch der Gemütlichkeit.
Ich durfte das Heu aus dem Boden in den Futtergang hinabbdrücken und als Krönung plumpste ich dann aus dem oberen Stock auf den großen Heuberg und purzelte mit Schwung oft bis an den harten Steinboden.
„Bella“, sagte er mir eines Tages, „ich brauch die Wärmelampe. Rat mal wofür?“
Ich raste in den Saustall. Dort lagen zwölf kleine Ferkel im Stroh und malträtierten ihre Mutter im Ringen um die besten Saugplätze, die das mit einer stoischen Gelassenheit über sich ergehen ließ.
Geburten gehörten auf dem Bauernhof dazu wie das Schlachten; es war ein alltägliches Geschehen. Die kleinen, anfangs tollpatschigen Wesen waren für mich als Kind stundenlang Anschauungsobjekte.
„Toni! Die Lisl ist bald soweit!“, schrie wenige Tage darauf meine Tante durch den Hof und ich wusste, dass ich an jenem Tag solange im Stall bleiben würde, bis das Kalb da sein würde, komme, was wolle.
Lisl war meine Lieblingskuh. Sie war geduldig genung, mich auf ihrem Rücken zu tragen. Dafür streichelte ich sie auch immer sehr ausgiebig und gab ihr die größten Rüben.
Als die Katzen den Melkfilter abgeschlotzt hatten und bei Lisl immer noch nichts voran ging, wurde zu Abend gegessen. Es gab frisches Bauernbrot und hausgemachte Wurst. Schnell zog es mich danach wieder in den Stall.
Lisl schlug ihren Kopf unruhig hin und her, während sie immer wieder röhrende Laute von sich gab und auch meine liebgemeinten Worte konnten sie nicht beruhigen.
Kurz danach kamen Onkel Toni und mein älterer Cousin Freddy in den Stall und es wurde beratschlagt, wie es denn weitergehen solle. Ich merkte, dass irgendwas nicht in Ordnung war, fragte aber nicht nach.
Nach einiger Zeit, in der Lisl sehr kämpfte, sah man zwei kleine Hufe aus ihrer gedehnten Geschlechtsöffnung herausragen und ich dachte, dass nun alles gut sei. Aber es ging nicht weiter und den Schweißperlen auf Onkel Tonis Stirn nach zu urteilen war nichts gut. Ich hatte Angst um Lisl und das Kälbchen.
Ich strich ihr immer wieder beruhigend über die Stelle zwischen ihren Augen in Richtung Maul. Mein Onkel nahm einen Strick, band die Hufe zusammen und steckte dahinter einen Holzprügel, an dem er mit Hilfe von Freddy im Rhythmus von Lisls Pressen zog.
Sie schafften es und auf einen Ruck platschte das Kalb in das Stroh. Es war ein Kuhkalb und wir nannten es - entgegen der „L“-Tradition - Bella.
Bella war nicht allzulange auf dem Hof, aber die Zeit, die wir hatten, war schön. Sie saugte immer an meiner Hand und ich streichelte sie oft.
Die Dorfmusik hatte ihr Rührstück beendet und der Pfarrer sprach einige abschließende Worte.
Als Familienangehörige steht man am Grab, bis sich alle von dem Verstorbenen verabschiedet haben. Die Trauergemeinde war groß und es dauerte.
Ich nahm meine Jungs wahr und meine Gedanken schweiften wieder ab.
Wir sind nach einem Besuch bei einer Freundin über die Dörfer nach Hause gefahren. Bei einem Gehöft wurde ich langsamer, weil ich auf der Weide etwas beobachtete, das mein Interesse geweckt hatte.
Ich parkte den Wagen.
„Jungs, kommt, da drüben kalbert eine Kuh. Das schauen wir uns mal an.“
„Au, ja, das haben wir ja noch nie gesehen, Mama“, rief André und so stapften wir durch das Feld.
Ich freute mich darauf, dass meine Kinder eine Geburt eines Kalbes miterleben konnten.
Vielleicht würden sie auch noch sehen, wie es staksig versuchte, aufzustehen.
In gebührendem Abstand blieben wir stehen, um den Tierarzt zu beobachten, dessen rechter Arm in dem Geburtskanal der Kuh verschwand. Der Bauer hielt die Kuh mit einem Strick und strich ihr beruhigend über den Kopf. Irgendwas war hier nicht in Ordnung, dachte ich, während ich den Veterinär beobachtete.
Er zog den Arm wieder zurück und sprach mit dem Bauern.
Zu uns rief er: „Vielleicht kommen sie ein anderes Mal wieder. Wir haben hier eine Zwillings-Totgeburt. Das wird nicht schön.“
Ich nahm meine Jungs in die Arme und sagte: „Die Kälber im Bauch sind leider schon tot. Wenn die aus der Kuh draussen sind, wird das für alle traurig. Ich denke, es ist besser, wenn wir die zwei mit der Kuh alleine lassen.“
„Mama, wieso sind die tot?“ fragte mich der Kleine. Ich sah ihn schulterzuckend an. „Ich kann es dir leider nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Vielleicht war irgendwas nicht in Ordnung, so dass sie auch nicht hier draußen auf der Welt hätten überleben können.“
„Das ist ganz schön traurig“, sagte mein Großer und ich fragte mich, wieso ich gerade an so eine Szenerie heranfahren musste.
Der Friedhof leerte sich. Die Verwandtschaft stand noch um das Grab herum und verabschiedete sich nun auch. Die duftenden Rosen flogen tief auf den Sarg hinunter und wurden mit eingegraben.
Auf dem Heimweg fragte mich André, der Kleine: „Mama, weißt du noch, die Kuh mit den toten Kälbchen im Bauch?“
„Ja, ich weiß noch“, erwiderte ich.
„Mama, was ist mit denen passiert?“
„Die haben keinen so schönen Abschied erlebt wie Onkel Toni. Die werden in eine Abdeckerei gebracht worden sein, da kommen alle toten großen Tiere hin. Dort werden sie zu Tierfutter weiterverarbeitet.“
„Muss da unser Kater auch hin?“ fragte Maurice.
„Nein, den vergraben wir im Garten“, sagte ich bestimmend.
„Ich spiel dann auch ein Stück auf dem Tenorhorn“, versprach er „nachdem ich ein Kreuz gezimmert habe“.
Ich dachte an Bella und daran, wie traurig ich damals war, als sie wegkam. Aber es gehörte dazu.