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Für Elise oder Papa auf Geschäftsreise-Ein Internetmärchen
Die verirrte Grille zirpte noch immer unter der Holzleiste. Nackte Titten tanzten auf grellpinkfarbenem Hintergrund auf dem Bildschirm.
Elisa zündete sich die nächste Zigarette an und lauschte. Lauschte tief ins Herz des leeren, dunklen Hauses. Außer dem monotonem Gebrumme des Computers und dem schwächer werdenden Zirpen der gefangenen Grille war es still. Grabesruhe. Elisa zog heftig an der Zigarette, um zumindest ein Knistern zu vernehmen, und hustete daraufhin heftig. Das Zimmer begann, sich sanft und langsam zu drehen, wie ein Karussell, das gerade erst vom Aufseher angestellt wurde. Der Wodka tat seine Wirkung. Sie kippte noch einen hinunter. Die Titten tanzten weiterhin über den Bildschirm.
Was ist grün und läuft durch den Wald? Ein Rudel Gurken. Was ist der Witz daran? Gurken sind keine Rudeltiere. Was läuft hinterher? Das leere Gurkenglas. Elisa lachte wider Willen und hustete erneut, diesmal, weil sie den Wodka verschluckt hatte. Betrunkene lachen über alle möglichen komischen Dinge, auch über ein Rudel durch den Wald laufender Gurken, die eigentlich gar keine Rudeltiere sind, dafür aber vom leeren Gurkenglas verfolgt werden.
Elisa tippte mit zittrigen Fingern drei Buchstaben in die Eingabezeile, die allbekannten w-Drillinge, sie scrollte und öffnete die nächste Seite aus dem Cache. Wieder nackte Titten, diesmal nicht animiert, sondern in echt und an einer Frau. Age :22, Height: 1,65, Offers: Oral, Massage, Classic, Speak english: no. Klar. Warum auch Englisch sprechen, wenn man doch gut bumsen kann und noch dazu Massage und Blasen anbietet.
Elisa hätte fast gelacht. Eigentlich hatte sie nur ihre Mails checken wollen. Durch ihre momentane Träumerei fiel ihr jedoch die Anbieteradresse ihres Mailkontos nicht sofort ein, sie stand auf der Leitung, und währenddessen bot das neutrale, unparteiische Internet die zuletzt aufgerufenen Adressen an. Porno. Escort-Service. Diskret. Zuverlässig. Nackte Titten auf rosa Hintergrund.
Elisa lachte, bis ihr die Tränen kamen, um gleich darauf weiterzuheulen. War doch so eine tolle Gelegenheit.
Eigentlich war das alles nicht so. Eigentlich würde sie im nächsten Moment aufwachen, alles nur ein Traum, es wird schon wieder, Kopf hoch, lass dich nicht unterkriegen, es ist nichts so schlimm wie es scheint, und überhaupt passiert sowas doch immer nur den anderen.
Elisa griff zum Schnurlostelefon. Ihre Finger wählten fast automatisch die Nummer, doch dann...
Sie legte auf, noch bevor es zweimal geklingelt hatte. Was sollte sie auch sagen?
Papa, wann sind wir endlich da, wann ist Weihnachten, wenn ich groß bin, werde ich Astronautin, Papa, wie kommt das Christkind durchs geschlossene Fenster, stehen eigentlich alle Jungs nur auf dünne blonde Mädchen, sag, bist du das Christkind, wo kommen eigentlich die Menschen hin, die sterben, sei ehrlich, es gibt doch gar kein Christkind, und warum siehst du dir im Internet Sites von Hurenvermittlungsorganisationen an?
Ungehindert strömten die Tränen über Elisas Gesicht, in einer Hand ruhte noch immer das Schnurlostelefon, unentschlossen. Fast blind tippte sie eine Adresse. HILFE. Die Suchzeile verschlang das Wort gierig.
Mama ist doch die beste Frau. Mit 40 immer noch schlank, sportlich und fit, sie kann gut kochen und ist gebildet und intelligent.
In etwa zwei Stunden würde die Sonne aufgehen. Ein Fenster erschien. Beratung und Hilfe für Jungendliche und deren Berzugspersonen. Nummer 258. Rund um die Uhr, bundesweit, kostenlos, anonym. Elisa starrte auf die Tasten ihres Telefons. 258, die Ziffern lagen genau in einer Reihe, wahrhaft nett und aufmerksam, diese Nummer, auch nach vier Gläsern Wodka noch halbwegs leicht zu finden.
Elisa tippte. Der Bildschirm verschwamm vor ihren Augen. Sie blinzelte, und das Bild wurde wieder annähernd gerade. Warteschleife.
Scherzanrufe können strafrechtliche Folgen nach sich ziehen. Sie dachte an die Zeit als Vierzehnjährige, als sich die Klassenkameraden mit ihren damals topmodernen Handys kichernd aufs Klo zurückzogen, um Geschichten von angeblichen Missbräuchen irgendeiner unbekannten Tante am Telefon aufzutischen.
Leider musst Du immer noch warten. Tanzende Titten auf dem Bildschirm. Während Du wartest, überleg Dir doch am besten, worüber genau Du mit uns sprechen willst. Mein Vater fickt Nutten.
Tut-tut. Leider musst Du immer noch warten. Der Wodka fließt inzwischen angenehm die Kehle hinunter, er brennt nicht mehr. Welche von denen würdest Du wohl ficken wollen, wenn Du dein Vater wärst? Leider musst Du immer noch warten. In lebensbedrohlichen Situationen wähle bitte die Nummer von Polizei, Rettung oder Feuerwehr. Nein danke, keine Polizei, keine Feuerwehr, höchstens die Rettung, falls der Wodka doch zuviel wird. Aber mein Vater fickt ja nur Nutten. Kein Grund zur Panik.
Elisa lauschte und hörte die saubere Tonbandstimme, und im Hintergrund das leise klavierne Geplätscher von Für Elise, ihre Finger bewegten sich automatisch auf imaginären Klaviertasten, einmal gekonnt, immer gekonnt, wie Fahrradfahren, sowas verlernt man nicht, was einmal in den Langzeitspeicher des Gedächtnisses aufgenommen wurde, kann immer wieder abgerufen und reproduziert werden.
Für Elise begann schon zum dritten Mal, da legte die Namensvetterin auf und starrte betrunken auf den Bildschirm, wie auf einen hässlichen Geist, von dem man hoffte, dass er verschwinden würde, wenn man ihn nur lange genug anstarrte.
Schlaf noch mal drüber, morgen sieht alles anders aus, es kommt doch alles nur vom Stress für die Uni-Aufnahmeprüfung.
Mickey und Minnie bewegten sich träge im Käfig, Minnie gähnte. Ihre pelzige kleine Welt würde weitergehen wie immer, mit gefüllten Backentaschen und frischem Obst und Gemüse täglich. Gurken sind keine Rudeltiere.
Elisa starrte die Wand lange an, sehr lange. Das Telefon lag leblos neben ihr. Lichtstrahlen brachen durch die schwarze Decke. Schade, dass es die blaue Stunde nur nachts und nicht in der Früh gab. Ultramarinblauer Himmel, wenn es eigentlich schon stockfinster ist.
Dann das vertraute Geräusch einer fallengelassenen Zeitung auf Beton. Elisa wankte zur Tür. Die erste Seite hatte ein Eselsohr. Kurznachrichten. Sie überflog die Zeilen. Keine Neuigkeiten aus Oregon. Na klar. Elisa lachte. Im Westen nichts Neues. Nur in New York, wo mein Vater Nutten fickt. God bless America. Was heißt eigentlich Nutte auf Italienisch? Nutella, hahaha.
Elisa wischte erfolglos die immer nachfolgenden Tränen weg, duschte und legte sich nackt ins Bett, nachdem sie die letzte Zigarette ausgedrückt hatte. Im Westen nichts Neues.