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Fahrkartenschalter

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24.10.2001
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Fahrkartenschalter

Noch vier Wartende vor ihr in der Schlange. Sie fühlt in ihrer Handtasche nach dem
Portemonnaie, schließt ihre Finger darum. Sie kennt den Preis genau, 117,20DM. Auch die Abfahrtszeit des Zuges: 11.20, Gleis 4. Wie oft hat sie schon am Bahnsteig gestanden und den Zügen nachgeschaut? Sie weiß es nicht mehr. Aber morgen. Morgen wird alles anders sein! Morgen wird sie nicht stehenbleiben und schauen! Morgen wird sie selbst einsteigen und losfahren, Richtung Hamburg! Sie hat nur ein bisschen Angst vor der U- Bahn. Hamburg ist groß und man hört so viel...Es ist Ende November und sie spürt, dass es bald schneien wird. Schnee ist ihr nur recht, im Sommer fühlt sie sich nie sehr wohl. Um Weihnachten macht sie sich keine Sorgen. Sie kennt es ja nicht anders... Wie lange hat er sie nicht mehr besucht? Sie versucht zu rechnen, kann sich aber nicht konzentrieren. Noch drei Wartende vor ihr. Eine junge Frau mit lila Haaren wippt im Takt ihres Walkman. Menschen rauschen vorbei, Autolärm aus der Ferne. Sie hört einen Zug einfahren. Wenigstens anrufen hätte er können! Jeder hat heutzutage doch ein Telefon! Sie wartet täglich auf einen Anruf, aber es kommt keiner. Manchmal bringt der Postbote einen Brief, aber in letzter Zeit immer seltener. Sie freut sich trotzdem über jeden Einzelnen und bewahrt sie alle im Nachtschrank auf. Gelegentlich liest sie sie, aber das macht sie so sentimental... sie will sich nicht beklagen. In Gedanken sieht sie ihn täglich ins Büro gehen, die Aktentasche unter dem Arm, und freundlich mit seinen jungen Kolleginnen reden. Ob er befördert worden ist? Vor einem Jahr hat er ihr geschrieben, er habe ein Mädchen kennengelernt. Wie sie wohl aussieht? Bestimmt ist sie hübsch und blond... Auf dem Speicher hat sie alte Fotos von ihm. Auch altes Spielzeug und Kinderkleidung hat sie dort sorgfältig aufbewahrt. Manchmal steigt sie hinauf und betrachtet die Sachen. Legt sie dann seufzend und ordentlich wieder fort und schließt die Tür leise hinter sich, steigt umständlich die Treppe hinunter. Noch zwei Wartende vor ihr. Wie sie ihm vorgesungen hat, als er noch klein war... sie denkt gern daran und summt im Schlaf oft alte Melodien. Ihr Mann ist schon lange tot, da war der Sohn noch ein Kind. Keiner hört sie. Sie träumt von den Enkelkindern, die sie sich tagsüber nicht zu wünschen wagt. Als er noch klein war hat sie ihn getröstet, wenn er hingefallen war und seine Knie bluteten. Sie hat ihm sein Lieblingsessen gekocht, wenn er es sich gewünscht hat und sie hat mit ihm Lesen und Schreiben geübt. Später, als er älter wurde, hat sie abends lange auf ihn gewartet, hat begierig zugehört, wenn er von einer Welt erzählte, die nicht ihre war. Als er von dem Plan sprach, fortzuziehen, weit, weit fort, hat sie genickt und geschwiegen. Sie wollte ihn nicht aufhalten. Und er ist gegangen. Hat seine Sachen eingeladen und ist gegangen. Sie weiß nicht, wie er jetzt lebt. Ob er den alten, Schreibtisch noch besitzt, an dem er sich nur allzu oft gestoßen hat? Bald wird sie es erfahren.. Ob er sich freuen wird? Sie möchte so gern ins Theater, dass wird sie ihm vorschlagen. Nicht mehr in den Zoo, so wie früher, das geht nicht mehr. Noch ein Wartender vor ihr. Sie denkt sich fort, sieht sich in den Zug einsteigen und ihren Platz suchen. Langsam zwar, doch dann wird die sich setzten. Ihre Tasche abstellen, in der nicht viel sein wird, sie braucht ja nicht viel, und aus dem Fenster schauen. Die Gegend wird langsam flacher und grüner werden, irgendwann wird sie die Elbe sehen... am großen Fluss war sie noch nie. Einmal an der Nordsee, aber das ist lange her. Sie hat sich doch auch stets sehr wohl gefühlt zu Hause! Eine Kur hat sie auch nie gebraucht, sie geht selten zum Arzt. Erst vor wenigen Jahren hat sie eine Lesebrille gebraucht! Ob sie alt aussieht, wie sie hier steht? Sie fühlt sich so. Prüfend schaut sie sich um, aber es fällt ihr keine Antwort ein. Dann vergisst sie die Frage. Wieder fährt ein Zug ein. Den Platz reservieren, erinnert sie sich selbst. Sie ist so vergesslich geworden in letzter Zeit. Ein Hund wäre gut, dann hätte sie eine Aufgabe... doch sie weiß, dass sie auch diesen Plan morgen wieder vergessen haben wird, morgen erst recht! Deshalb vergisst sie ihn lieber gleich. Sie ist auch vergessen worden, auf dem Bahnhof des Lebens. Doch solche Gedanken vertreibt sie meist schnell. Es hat ja doch keinen Sinn! Sie kommt gut zurecht. Ihr geht es gut! Sie denkt an den Bericht neulich im Fernsehen. Nein, sie kann sich nicht beklagen! Der Mann vor ihr nimmt seinen Fahrschein und geht. Eilt mit dem Koffer in der Hand davon, Richtung Bahnsteig. Der Schalterbeamte lächelt freundlich und fragt die alte Frau mit den müden Augen nach ihrem Wunsch. Sie schüttelt den Kopf und tritt zur Seite.

 

Die Geschichte gefällt mir gut.
Viel alte Menschen kommen mit der heutigen, hektischen Zeit nicht mehr klar.
Meiner Meinug nach, hast du die Gefühle dieser alten Frau sehr gut beschrieben.
Man kann gut nachvollziehen wie einsam sie sich ohne den Sohn fühlt. Ihr fehlt eine Aufgabe in ihrem Leben.

Da ich noch neu hier bin, kann ich zu deinem Stil nicht viel sagen. Nur, daß ich deine Geschichte sehr flüßig lesen konnte.

Gruß, Leia

 

Jaja, net schlecht.
Lässt sich flüssig lesen. Nur ein paar Absätze hätten noch mit hineingekonnt. Dann lässt's sich noch flüssiger lesen.
Guter erzähl Stil! Muss ich schon sagen.
Alles in zusammen: 6!
War nur ein Scherz :D

Ich fand die Geschichte cool. :cool:
Bis irgendwann mal.

Mfg: Uffmucker

 

...auch ich bin ziemlich neu hier und kann daher nicht viel kritik zum Stil beitragen. Eines ist jedoch völlig klar, die Geschichte ist sehr angenehm und flüssig zu lesen. Auch inhaltlich hat sie mir sehr gut gefallen. Und um das beurteilen zu können, muss ich auch kein Profi sein.
Sehr gelungen!

 

Fabelhaft! Schnörkellos, klar, anrührend. Man sieht die alte Frau geradezu vor sich, kann sich in ihre Gedanken hineinversetzen, fühlt mit ihr. Dir ist es sehr gut gelungen, ein kleines Stück Alltag so zu beschreiben, daß es zum Nachdenken anregt. Weiter so!
Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Sorry, zweimal ist einmal zuviel! Das kommt davon, wenn man vom Webmaster mit den Smilies ganz verwirrt wurde und nun nicht weiß, ob sie noch da sind...
BTW: Danke, Mirko, für den queen-Smilie! :)
Gruß,

chaosqueen :queen:

 

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