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Fahrstuhl der Lebenszeit
Nur noch fünfzehn Stockwerke! Dann hatte er es für heute endlich wieder einmal geschafft! Wie jeden mit Arbeit bestückten Tag, so auch heute wieder. Herr Senkrecht war Versicher- ungsmakler, seit 15 Jahren vertrat er nun die Haftpflicht-Abteilung, war sehr beliebt bei seinen Kollegen und vertrat würdevoll eh und je sein Standbein in der Agentur. Nicht nur sein außerordentlicher Hang zum Perfektionismus, sondern seine stets freundliche und überaus korrekte kollegiale Art hatte ihn für die anderen zum angenehmsten Mitarbeiter gemacht. Die morgendliche Hochfahrt mit dem Fahrstuhl waren genauso ein alltäglicher Wahnsinn wie die ewige Parkplatzsuche im immer vollen Parkhaus. Zeit, eine Sache, die von ihm stets sinnvoll genutzt wurde, hier nur eine Verschwendung. Vergeudung dieser war ihm ein Dorn im Auge und ein regelrechtes Gräuel. Kam es trotz sämtlicher Vorkehrungen seinerseits zu solchen Verschenkungen, dann machte es ihn sehr nervös. So wie auch jetzt. Diese allmorgendliche Spanne, vom ersten bis zum 20. Stockwerk, war wieder mal ein Umstand der einfach hingenommen werden musste als Abfall, eben nicht genutzte Zeit.
Nervös kaute Senkrecht auf seinem Daumennagel. Nutzen, nutzen sollte man die Spanne. Der Wirtschaft konstruktiv auf die Sprünge helfen, das Bruttosozialprodukt nutzen bringend steigernd…. Aber nein, bewegungslos, regungslos, ja einfach nur machtlos konnte man nichts weiter tun, als hier nur dazustehen und willenlos die kostbare Zeit an sich vorbeirauschen lassen. Die Gedanken Senkrechts schweiften zu dem frühen Ritual der morgendlichen Toiletten, denn auch diese waren wieder ein hervorragendes Beispiel der Umstände, die sich unter keinen Umständen abändern und sinnvoll nutzen ließen. Aber dieser Morgen meinte es gut mit ihm. Ein Geistesblitz durchfuhr sein von wirren Gedanken stark beanspruchtes Gehirn. Jedermann war doch seines eigenen Glückes Schmied. Oder? Welches Individuum zwang ihn denn, welche höhere nicht zu beeinflussende Macht drückte ihm den Stempel der unabänderlichen Tatsachen auf? Niemand und nichts konnte unwiderruflich diese kaum zu akzeptierende Verschwendung auf das werte Auge drücken. Dies wollte Senkrecht jetzt und genau in diesem Augenblick für sich ändern. Galt es nur noch genauere Überlegungen anzu- stellen, wie dies von statten gehen sollte. Gut für ihn, gut für den Rest der Welt. Profitabel, gewinnbringend, einfach genial durchdacht …
Schon am nächsten Morgen war es soweit. Die gesamte Nacht hatte Senkrecht mit Überlegungen und Vorbereitungen verbracht. Keine Minute hatte er sich Ruhe gegönnt. Alles bis ins genaueste Detail geplant, vorbereitet und durchkalkuliert.
Nun war der große Moment gekommen. Herzklopfenderweise betrat er den Aufzug, den gewohnt mittelschweren Aktenkoffer zu seiner Linken und den ungewohnt schweren Kosmetikkoffer zu seiner Rechten. Kaum hatten sich die schweren vollautomatischen Türen des Aufzuges geschlossen legte Senkrecht los. Aktenkoffer sicher zur Seite, Kosmetikkoffer geschickt geöffnet, Rasierer heraus, Pinsel zur Hand, Spiegel positioniert. Geschickte Hand- griffe, geübte Auf- und Abbewegungen an seinem Gesicht, ruck zuck fertig, perfekt, die Rasur um Kasten. Hektisch die Utensilien zurück zur Ausgangsposition. Schnelle Nachtrock- nung mit einem Gästehandtuch, zurück in die Box und das Finale, feierliches Durchatmen, abschließendes Räuspern und, das Öffnen der Fahrstuhltüren. Erhobenen Hauptes betrat Senkrecht die Räumlichkeiten seiner Arbeitsstätte, die Kollegen, freundlich grüßend wie immer, er hatte eine wahre Meisterleistung vollbracht, keiner hatte etwas bemerkt.
Diese Prozedur wiederholte er nun jeden Morgen, wobei sich nicht verhindern ließ, dass er einen wahren Wettlauf mit der Zeit begann. Schon bald war die Rasur so eingespielt und perfektioniert, dass wieder Zeitlöcher entstanden, die es zu füllen galt, er schaffte es in nur kürzester Zeit den Zeitrahmen der Fahrstuhlauffahrtszeit mit der Rasur bis zur Zahnreini- gung inklusive Einsatz von Zahnseide und Mundwasser auszufüllen, erstreckte diese sinnvolle Zeitnutzung weiter auf Schuheputzen, Ohrreinigung und Kürzen seiner Fuß- und Fingernägel. Wobei der Entledigen der Schuhe und schwarzen Geschäftssocken eine wahre Herausforderung darstellten. Nach Eingewöhnung dieser ganzen Abläufe schaffte er auch noch das perfekte Binden seiner Krawatte, Entfusseln seines Sakkos und Entfernen seiner Nasenbehaarung.
Voller Enthusiasmus und Begeisterung fingen ihn die fixen Überlegungen im Laufe seines Alltages während der Arbeit und auch zuhause immer öfters auf. Noch häufiger und inten- siver stellte er Kalkulationen und Überlegungen an, welche es ihm ermöglichten die Zeit im Aufzug immer umfangreicher, intensiver und sinnvoller zu nutzen.
Dabei bemerkte er kaum, dass die anderen Dinge im Leben immer mehr an der Ignoranz der genügenden Aufmerksamkeit und Beachtung in Disharmonie und entstehende Defizite über- gingen.
Kollegen fingen an, sich über den immer häufiger abwesend wirkenden Senkrecht zu wundern, seine steigernde Unkonzentriertheit, immer häufiger werdende Unzuverlässigkeit und vor allem Zerstreutheit. Die Ringe unter seinen Augen schienen immer dunkler, seine sonst so stattliche Statur immer hagerer zu werden.
Tatsächlich schaffte es Senkrecht auch in seiner knappen Freizeit nicht mehr, seinen inneren Wettlauf mit vertaner Zeit im zeitlich vertretbaren Rahmen zu halten, somit vernachlässigte er das Sauberhalten seiner Wohnung, fand kaum noch Schlaf in der Nacht und schottete sich von Verwandten und Bekannte immer mehr ab.
Mehr, mehr, mehr schaffen, in der gleichen Zeit. Diese Zeit, diese eine Zeit der Fahrstuhlfahrt, die doch so vergeudet, sinnvoll nutzen. Sinnvoll, sinnvoll,…
Das morgendliche Drumherum war lange nicht mehr ausschlaggebend auf diesem Irrweg Der Umstand, eine unabänderliche Begebenheit einfach zu akzeptieren, sich arrangieren und auch zu respektieren, war ihm völlig abhanden gekommen. Zu sehr überragten nun Besessenheit, Ignoranz und Irrationalität sein gemartertes Gehirn, ein Teufelskreis, aus dem es wohl kein Entrinnen mehr gab, nicht wohl hier und in diesem Leben.
Es regnete, völlig durchnässt stand Senkrecht, nur noch ein Schatten seines Selbst vor den mächtigen Türen des Fahrstuhles. Das gewohnte Geräusch des Öffnens, er nahm es kaum noch wahr, eintreten und beginnen mit dem Wahnsinn… heute hatte er es endlich geschafft neben der morgendlichen Toilette, dem Reinigen seines Sakkos, Putzen der Schuhe, Haar- Richtung, Reinigung und Entfernung , dem Binden der Krawatte, Schreiben des Einkauf- zettels für nach der Arbeit, Abrufen der E-Mails auf seinem Handy und Einnahme eines leichten Frühstückes (Brötchen mit Quark, frisch geschmiert und vorher getoastet) einen kleinen Gaskocher aufzustellen, ein Töpfchen mit Wasser zu erhitzen und ein Hühnerei darin zu kochen. Nur, zum Verzehr kam er nicht mehr.
Ein paar Tage später. Gedrückte Stimmung in der Agentur. Zwei Kollegen saßen bei einer Tasse Kaffee im Speiseraum. „Gehst Du denn auch zu der Beerdigung von dem Senkecht?“ fragt der eine recht gelangweilt den anderen. „ Weiß` ich noch nicht so recht. War ja ein ziemlich schräger Kerl, dem sein Grips ja einen ziemlichen Streich gespielt hat. Wie sonst ist es zu erklären, dass er mit dem halben Hausstand in dem Aufzug an einem Herzinfarkt so plötzlich verstorben ist? War ja ziemlich schräg drauf, würde ich mal sagen, oder?“
Eine Geschichte, die irgendwie die Bedürfnisse zweier Individuengruppen darlegt, zwei, die es niemals schafften, auf einer Wellenlinie zu sein, oder dem Wunsch nach Perfektionismus, der niemals zu erreichen möglich gewesen war, nur über eine Leiche.
War es das wert? Oder gab es niemals einen?