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Familie
Eine Familie.
Was bedeutet es, eine Familie zu sein? Diese Frage stellte sich Natalie in letzter Zeit immer öfter. Es war nie einfach gewesen und das, was sie tat, was sie alle taten, führte einen irgendwann zwangsläufig zu diesen Fragen.
Es gibt viele Punkte, die eine gute Familie charakterisieren. Zum Ersten ist da der Zusammenhalt. Zusammenhalt bedeutet ihrer Familie sehr viel. Es ist wichtig, dass sie für sich gegenseitig da sind und vor allem auch in ihrer ungewöhnlichen Situation zueinander stehen.
Der zweite Punkt ist der in einer intakten Familie sich gegenseitig erwiesene Respekt. Der war gewiss nicht das Problem ihrer Familie. Jedem wurde er in gleicher Weise entgegengebracht. Alle hatten schon sehr früh verantwortungsvolle, für ihre Gemeinschaft wichtige Aufgaben übernommen. Jeder wurde, wenn er sie gut erledigte, gelobt und im gegenteiligen Fall getadelt. Alle wurden gleich behandelt.
Natalie saß still hinter ihrem Stein und kaute an ihrem Fingernagel. So kam sie nicht weiter! Den ganz einfachen Beweis dafür, dass ihre Familie nicht mit anderen zu vergleichen war, lieferte das, was sie gerade taten. Was sie regelmäßig taten.
Sie zuckte zusammen, als ein Uhu aus dem Laubwerk des Baumes über ihr zu seiner nächtlichen Jagd auszog. Nervös spähte sie zu ihrem Bruder hinüber, doch sie konnte ihn im Schatten der Büsche nicht ausmachen. Er hatte sich auf der anderen Seite des Weges auf die Lauer gelegt.
Ihr Bruder Mischa schien nie die Gedanken zu haben, die sie in letzter Zeit beschäftigten. Er war immer einer der ersten, wenn es darum ging, den idealen Platz für die Jagd zu suchen. Er war mit seinen Blicken stets auf der Suche nach einem geeigneten Opfer, wenn sie in eine neue Stadt kamen und langsam durch die Straßen fuhren. Es schien ihm irgendwie
Spaß zu machen.
Natalie empfand das nicht so. Als Kind hatte sie nie über Gut oder Böse der Dinge nachgedacht, die sie und ihre Familie taten. Auch jetzt empfand sie nicht die Art von moralischen Zweifeln, die eine sechzehn Jahre alte Tochter einer normalen Familie empfunden hätte. Ihr gefiel das Spiel nicht mehr. Das war alles.
Als Natalie die Geräusche des sich nähernden Pärchens hörte, schob sie diese Gedanken in einen weit entlegenen Teil ihres Kopfes und konzentrierte sich auf das vor ihr Liegende. Die Tatsache, dass sie zu zweifeln begann, gab ihr, wie sie fand, keinen Grund, den ganzen Ablauf zu stören. Zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht. Und außerdem tat sie es für ihre Familie und Natalie liebte ihre Familie.
Das silberne Licht des Mondes leuchtete durch die Baumkronen auf den dicht bewachsenen Waldweg. Um sich herum konnte Natalie das nächtliche Leben des Waldes hören. Durch diesen Klangteppich drangen langsam zwei Stimmen, wurden lauter und deutlicher.
„... nicht, was du hier willst. Hier ist es kalt und unheimlich.“
„Jetzt sag bloß nicht, dass du Angst hast! Und ich dachte, du wärst so mutig. Außerdem warst du es doch, der gesagt hat, dass sich keiner außer dir trauen würde, in das alte Haus zu gehen. Ich war zwar schon drinnen, komm’ ich gerne noch mal mit dir mit.“
Es waren zwei Kinderstimmen und Natalie musste lächeln, als sie daran dachte, wie geschickt Marie sich anstellte, wenn sie den Lockvogel spielte. Heute Abend würde es keine Schwierigkeiten geben.
„Wenn Du nicht mitkommst, werd’ ich es allen anderen erzählen!“
„Ich hab’ doch gar nicht gesagt, dass ich nicht mit reinkomme.“
Die nächsten Meter über schwiegen die beiden einander trotzig an. Natalie spannte sich. Der Mondschein beleuchtete die Szene auf dem
Weg so gut, dass sie genau erkennen konnte, wer von den beiden Marie war. Der Junge war ein Schulkamerad von ihr. Marie hatte ihn schon seit einigen Tagen beobachtet und ihn so lange bearbeitet, bis er zu der Mutprobe, um die es ging, bereit war. Er hatte sich heimlich aus dem Haus geschlichen. Keiner wusste, dass er weg war. Er würde erst morgen früh vermisst werden. Marie, als jüngstes Mitglied ihrer Familie, war schon so umsichtig, dass sie sich vergewissert hatte, ob er auch keine Nachricht in seinem Zimmer gelassen hatte. Sie war Wege gegangen, von denen sie sicher war, dass sie um diese Zeit verlassen waren. Zielsicher führte sie ihn in die Falle. Und dabei war sie gerade mal acht Jahre alt.
Die beiden Kinder hatten Natalie passiert und dann gab Marie das verabredete Zeichen. Sie blieb stehen und sagte: „Warte mal, ich glaub’, da ist ein Stein in meinem Schuh.“ Sie kniete sich auf den Boden und nestelte an ihrem Schnürband herum. In dem Moment kam Mischa hinter dem Jungen aus dem Gebüsch hervor. Natalie gab sich einen Ruck und trat ebenfalls auf den Waldweg. Der Junge starrte sie überrascht an. Mischa umfasste den schmächtigen Körper und presste die Arme fest zusammen. Marie beschäftigte sich teilnahmslos mit ihrem Schuh während Natalie mit einem Stein weit ausholte und ihn dem Jungen gegen die Schläfe schlug. Als der Stein auf Knochen traf, ertönte ein stumpfes Geräusch, begleitet von einem leisen Knacken. Der Junge sank, ohne einen Ton von sich zu geben, in Mischas Armen zusammen.
Marie sah auf. „Fertig?“, fragte sie ihre beiden Geschwister.
„Gleich“, entgegnete Mischa und packte den Kopf mit seinen beiden kräftigen Händen. Seine beiden Schwestern sahen ihm zu während er das junge Genick brach.
Natalie, Mischa und Marie trafen mit ihrem Opfer noch vor Mitternacht zu Hause ein. Sie wohnten zur Zeit in einem Neubau, der am Rand des Gebietes stand, welches die Stadt vor einigen Jahren freigegeben hatte. Mischa lenkte ihren Wagen auf die Auffahrt.
Natascha, ihre Schwester, erwartete sie schon an der Tür. „Wo bleibt ihr bloß die ganze Zeit? Die beiden warten schon. Kommt rein!“
Mischa und Natalie schleppten den Holzkasten mit der Leiche des Jungen vom Auto zum Haus, während Marie mit einem Lachen auf ihre große Schwester zulief.
„Ich hab’s geschafft, Tascha! Ich war richtig gut! Frag die beiden, die werden es dir sagen!“ Sie drehte sich um. „Nicht wahr? Sagt es ihr!“
Natalie grinste und bestätigte die Aussage von Marie. Sie freute sich immer, wenn ihre kleine Schwester ausgelassen um die Aufmerksamkeit ihrer älteren Geschwister warb. Natascha fing Marie auf, als diese sich ihr in die Arme warf. Sie zog an ihren langen schwarzen Haaren und lobte sie ausführlich. Natalies große Schwester war das älteste Kind ihrer Eltern. Sie war letzten Monat siebenundzwanzig geworden, wohnte aber immer noch zu Hause und unterstützte die Familie. Sie hatte nach der Schule eine kaufmännische Ausbildung gemacht und arbeitete meistens in irgendeinem Supermarkt in der Stadt, in der die Familie
gerade lebte. Es war wichtig, keine Spuren zu hinterlassen, und die Anonymität als Verkäuferin gewährte die nötige Sicherheit. Den gleichen Weg würden Mischa, der gerade seine Schule abgeschlossen hatte, Natalie und natürlich auch Marie gehen. Sie würden ihre Zeit nie damit verschwenden müssen, viel Geld zu verdienen, denn das Familienvermögen, das in verschiedenen Wertpapieren, Aktien und Immobilien angelegt und über ein Nummernkonto ständig erreichbar war, war groß, und sie alle würden ihr Leben lang keine finanziellen Probleme haben.
Auch bei Natascha glaubte Natalie nie irgendwelche Anzeichen von
Zweifeln gefunden zu haben. Ihre Schwester war ein sehr ruhiger Mensch geworden. Früher hatten sie viel Unsinn zusammen veranstaltet und waren nur schwer zu bremsen gewesen. Aber in den letzten Jahren hatte auch das sich verändert. Natascha hatte sich zurückgezogen. Vielleicht trauerte sie insgeheim dem Leben nach, das ihr die normale Welt täglich vorspielte, aber wenn dem so war, dann wog es nichts gegen die Liebe zu ihren Eltern und ihren Geschwistern. Sie war auch die einzige von ihnen vier, die ihre Eltern vor dem Umbruch bewusst gekannt hatte. Als Umbruch bezeichnete die Familie die Veränderung der Eltern vor siebzehn Jahren. Als es geschah, war sie zehn Jahre alt und hatte schon früh damit umzugehen gelernt. Vielleicht machte das die Situation für sie auch wieder erträglicher. Sie kannte es zwar anders, aber lebte schon bald zwei Drittel ihres Lebens damit. Natalie liebte ihre Schwester, glaubte jedoch nicht, dass sie mit ihr über ihre Zweifel reden konnte.
Mischa und sie hatten den Kasten inzwischen ins Haus geschafft, und auch Natascha und Marie waren hereingekommen. Natascha schloss die Tür und legte den Riegel vor. Dann standen sie zu viert um die Kiste herum, die in der Diele auf dem Boden lag. Sie alle wussten, dass irgendwer nach unten gehen und den toten Jungen abliefern musste. Kurz vorher war es nie so angenehm, Mama und Papa zu begegnen. Morgen würden sie wieder ganz normal sein, aber ihr jetziger Zustand machte allen immer zu schaffen.
„Nun,“ begann Mischa „wer will mir helfen. Alleine ist er für mich zu schwer.“ Da Marie noch zu klein war, um mit anzupacken, würde die Wahl zwischen den beiden älteren Schwestern fallen. Natalie versuchte Natascha in die Augen zu sehen. Nach einem kurzen Moment gelang es ihr, den Blick aufzufangen. Natascha sah sie an und Natalie erkannte die
Bitte in ihren Augen. Klar, Natascha war den ganzen Abend über mit ihren Eltern allein im Haus gewesen. Sie hatte sicherlich am wenigsten Lust, die Aufgabe zu übernehmen. Natalie wandte den Blick ab und sah Mischa an.
„Ich mach’s.“ sagte sie.
Mischa nickte und packte die Kiste an einem Ende. Als Natalie das andere Ende anhob, sah sie noch einmal in Nataschas Augen und lächelte sie an. Ihre Schwester lächelte dankbar zurück und lief dann hinter Marie her, die in der Küche verschwunden war. Dann gingen die beiden mit ihrer Last die Treppe hinunter in den Keller.
Der Kellerflur wurde nur schwach von einer nackten 25-Watt-Birne erleuchtet. Die grauen Betonwände weckten in Natalie stets den Eindruck, dass ihr Haus ein nur verkleideter Rohbau war. Die Familie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Wände anzustreichen oder zu tapezieren. Auch der Boden war nicht mit Teppich ausgelegt worden. Für die meist absehbare Zeit von einem, maximal zwei Jahren, die sie in einer Stadt verbrachten, lohnte sich der Aufwand nicht. Nur der Wohnbereich wurde hergerichtet wie in einem normalen Familienhaus. Es kam zwar selten vor, doch ab und zu kam Besuch auch in ihr Haus, ob er nun erwünscht war oder nicht.
Ihre Eltern hatten im Keller einen Raum hergerichtet. Hierher zogen sie sich zurück, wenn es kritisch wurde. Mischa und Natalie gingen mit ihrer Last durch den Flur bis zur letzten Tür auf der linken Seite. Dort stellten sie die Kiste ab. Mischa drehte sich um und sah seine Schwester an.
„Okay, ich gehe erst einmal rein und sehe nach ihnen. du wartest hier, bis ich rauskomme und dir helfe.“
Natalie nickte. Sie wollte die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Mischa öffnete die Tür und ging hinein.
Das Zimmer war dunkel. Ihre Eltern machten körperliche Veränderungen durch, wenn sie zu lange warten mussten. Sie sahen sich selbst nicht gerne dabei zu. Sie warteten in der Dunkelheit darauf, dass ihre Kinder ihnen einen Menschen besorgten. Natalie hörte ihre Mutter stöhnen, als die Tür aufging. Mischa wechselte einige Worte mit seinem Vater.
Es war natürlich nicht das erste Mal, dass Natalie diese Prozedur mitmachte. Genauso wie Marie in zwei oder drei Jahren dabei sein würde, hatte sie mit zehn ihre Eltern zum ersten Mal in diesem Zustand gesehen. Es war ein Schock gewesen, aber in dem Alter konnte man – zumindest der Ansicht ihrer Eltern nach – die Wahrheit am besten verkraften und sich damit abfinden. So war es auch bei Natalie gewesen. Trotzdem musste sie in jener Nacht bei ihrer Schwester im Bett schlafen, denn Alpträume hatten sie geplagt und nicht zur Ruhe kommen lassen. Als sie dann ihre Eltern am nächsten Morgen am Frühstückstisch hatte sitzen sehen, war ihre kleine Welt, die von jeher anders war als die von Mädchen in ihrem Alter, beinahe wieder vollkommen in Ordnung. Sie hatte vorher gewusst, dass irgendetwas anders war und ab dem Abend hatte sie gewusst, was. Im Laufe der darauffolgenden sechs Jahre hatte sie, wie auch ihre Geschwister, Wege gefunden, damit umzugehen.
Mischa kam wieder zu ihr hinaus. Wortlos packte er die Kiste am vorderen Ende, und sie trugen die Kiste in das Zimmer.
Natalies Augen versuchten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das schwache Licht der Glühbirne, welches von der Metalltür reflektiert wurde, ließ nur Schemen und Umrisse erkennen. Natalies andere Sinne funktionierten dafür umso besser. Sie konnte ihre Eltern atmen hören, sie konnte sie auf den Matratzen, die den Boden bedeckten, erwartungsvoll heranrutschen hören. Sie roch den säuerlichen Schweiß, den ihre Körper aus den Poren trieben. Wie wilde Tiere, dachte sie und verbannte den Gedanken sofort aus ihrem Kopf. Er war hier nicht angebracht. An diesem Ort erschien er ihr falsch. Beinahe gefährlich. Sie wollte es nicht wahrhaben, aber sie hatte Angst vor ihren Eltern. Sie zweifelte an der Richtigkeit dessen, was sie taten. Es war besser für alle, wenn ihre Eltern das nicht bemerkten.
Mischa blieb vor ihr in der Dunkelheit stehen und sie setzten ihre Last ab. Natalie bemerkte, wie sich ihr Vater neben ihr an dem Deckel der Kiste zu schaffen machte. Er beachtete sie nicht weiter, war viel zu beschäftigt mit dem Gedanken an das frische Fleisch und die noch warmen Organe, die seine Kinder ihm gebracht hatten. Natalie wusste, unter all dieser Gier steckte der Wunsch, wieder normal zu werden und diesen ekelhaften Zustand hinter sich zu lassen. Sie hatten in der Familie nur selten über das Anderssein gesprochen, aber die paar Male, an denen sie es doch getan hatten, war der Einblick in das Seelenleben der Eltern tief und trautig gewesen. Beide liebten das Leben, beide liebten ihre Kinder; beide hassten, was regelmäßig mit ihnen passierte. Was ihnen angetan worden war. Doch der Gedanke an Selbstmord, der ihnen im Laufe der Zeit mehr als einmal durch den Kopf gegangen war, war stets nur ein Gedanke geblieben. Sie hatten zwei Kinder, als der Umbruch geschah und vor dieser Verantwortung hatten sie nicht weglaufen wollen. Nun waren es vier und die Familie gab sich untereinander Halt, so gut es eben ging. Und die Kinder versorgten ihre Eltern, so weit es ihnen möglich war.
Natalie fuhr aus ihren Gedanken hoch, als ihr Bruder sie an der Schulter fasste.
„Lass uns gehen. Wir sehen sie morgen.“
An seinen Worten bemerkte sie, dass er ihr Warten falsch interpretiert hatte. Er hatte nicht bemerkt, dass die Dinge in ihrem Kopf eine neue Richtung einschlagen wollten.
Wortlos ging sie mit ihm und sie schlossen die Tür hinter sich. Im Weggehen hörte Natalie die Geräusche reißenden Fleisches. Sie begann eine leise Melodie zu summen.
Am nächsten Morgen saßen die Geschwister zusammen am Frühstückstisch und aßen, während sie auf ihre Eltern warteten. Diese hatten sich noch in der Nacht in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Natalie hatte sie gehört. Sie war erst sehr spät eingeschlafen.
„Hi Mom, hi Pop!”, sagte Mischa fröhlich, als die beiden schließlich die Treppe herunter kamen. Er freute sich immer, wenn alles gut geklappt hatte. Er nannte sie dann immer ‚Mom’ und ‚Pop’, was alle zum Lachen brachte. Marie kicherte über ihrem Müsli und kleckerte mit der Milch. Natalie grinste ebenfalls. Ihre Eltern sahen frisch und munter aus.
Niemand könnte ahnen, wie es ihnen noch vor ein paar Stunden gegangen war. „Morgen, meine Lieben!“, begrüßte ihre Mutter sie. „Ich hoffe, ihr habt alle gut geschlafen. Ich für meinen Teil fühle mich wunderbar! Außerdem habe ich einen Bärenhunger.“
Sie setzte sich und nahm sich ein Brot. Natalie sah ihrer Mutter zu und fühlte, wie sie ein wohliges Kribbeln im Bauch bekam. Sie liebte ihre Mutter. Sie war eine wunderschöne Frau und hatte eine herzliche Art an sich, die sofort jeden im Raum für sich einnahm, ganz egal, wo sie sich befand.
„Denise, möchtest du auch eine Tasse?“ Fragend blickte ihr Vater von der offenen Küchentür zu seiner Frau hinüber und wedelte mit einem Päckchen Kaffeepulver in der Luft herum.
„Gern, danke mein Schatz.“ Ihre Mutter lächelte ihm zu und langte über den Tisch nach dem Marmeladenglas. Vielleicht, überlegte Natalie, war es auch die Liebe zwischen den beiden, die sie immer hatte weitermachen lassen. Diese war jung und lebendig wie in den ersten Tagen und hatte sie durch die Grausamkeiten ihrer Vergangenheit gebracht. Wahrscheinlich war es immer noch dieses starke Band, das ihnen Kraft gab. Diese Liebe, welche die beiden auch auf ihre Kinder übertrugen, erkannte Natalie, wog mehr als die Zweifel, die sich in ihrem Herz einnisten wollten. Welchen Grund hatte sie, diese Idylle zu zerstören? Welchen Grund konnte es geben, der sie ihr eigenes Leben zerstören lassen würde? In diesem Moment war sich Natalie sicher, dass es so einen Grund nicht gab. Vielleicht für andere, Außenstehende, aber sie schwamm mit ihrer Familie in einem Meer aus Liebe und Vertrauen, und am Ufer wartete der Rest der Welt, die Harpune in der Hand, bereit, sie zu vernichten. Sie würde dieses Wasser nicht verlassen.
Niemals.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis die See wieder stürmisch wurde. Ihre Eltern wurden bald schon wieder unruhig und schroff. Wenn es soweit kam, fing die Uhr an zu ticken. Bald war es Zeit für ein neues Opfer.
Natalie war nicht mehr gerne zu Hause, sie blieb länger in der Schule oder besuchte den Jugendtreff in der Stadt. Die kurze Zeit nach der Jagd, in der alles normal schien und Natalie die ganze Liebe zu ihrer Familie spürte, war einfach zu brüchig, zu schnell Geschichte. Mit ihren sechzehn Jahren bewegte sie sich ständig zwischen emotionalen Tiefen und Höhen. Unten in den Tiefen ihres Gemüts fand sie bald auch die Zweifel und die Angst wieder.
In den folgenden Monaten spitzte sich ihr innerer Konflikt weiter zu.
Sie litt unter dieser Anspannung, die sie ständig von einer Seite zur
anderen riss. Die Jagden hielt sie nur mit dem verzweifelten Gedanken aus, dass dadurch alles wieder besser werden würde. Die darauffolgenden Phasen heiler Familienwelt sog sie in sich auf, wie ein Ertrinkender Luft, in schnellen, verzweifelten Zügen; sie ignorierte das Wissen, dass sich nichts ändern würde. Doch das Spiel würde immer dasselbe sein. Ein grausames Spiel um ihre geistige Gesundheit, das sie langsam zu verlieren schien. Und obwohl sie dabei immer darauf bedacht war, dass ihre Familie nichts davon mitbekam, sprach Natascha sie einige Zeit später, an dem Abend einer Jagd, an.
Natascha und Natalie machten sich bereit, um zu dem verabredeten Ort zu gehen, an den Mischa einen Bekannten führen würde, den er eines Abends in einer Diskothek kennen gelernt hatte. Er war alleinstehend und würde nicht vermisst werden.
Marie sollte heute Abend zu Hause bleiben. Sie hatte zwar gemurrt, denn für sie schien die Jagd ein tolles Erlebnis zu sein, aber die vier Kinder wechselten sich stets ab.
Als Natascha und Natalie gerade zur Tür hinaus wollten, fasste Natascha ihre Schwester an der Schulter. „Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Marie ist ganz heiß darauf, mitzugehen.“
Natalie sah sie überrascht an. „Wie kommst du denn auf die Idee?“, fragte sie.
„Na hör mal, du bist schließlich meine Schwester. Du denkst doch nicht, dass ich es nicht bemerke, wenn du komisch drauf bist.“
Natalie sah sie kurz an und senkte dann rasch den Blick. Wenn ihre Schwester nun nicht die Einzige war, die es bemerkt hatte; wenn vielleicht sogar ihre Eltern schon etwas ahnten?
Natascha schien ihren Blick verstanden zu haben. „Ich glaube nicht, dass die Eltern etwas bemerkt haben, wenn es das ist, was du denkst. Dafür sind sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“ Sie machte eine Pause und fasste Natalie an den Händen.
„Was macht dir denn Sorgen? Bist du nicht sicher, ob es richtig ist, was wir tun?“
Natalie sah ihrer Schwester in die dunklen Augen und überlegte, ob sie sich jetzt alles von der Seele reden sollte. Natascha schien den Grund für ihren desolaten Zustand zu verstehen. Vielleicht hatte sie ja doch in ihrer Jugend so eine Phase durchgemacht wie ich, dachte Natalie. Sie zögerte und Natascha bemerkte es. „Du musst nicht jetzt darüber reden, wenn du nicht willst.“
Das und der Gedanke daran, dass ihre Eltern unten im Keller saßen und auf sie warteten, gaben dann den Ausschlag. „Lass uns gehen, Natascha.“ Sagte Natalie und ging hinaus in die Nacht.
Die Jagd war erfolgreich, wie auch all die anderen vor ihr. Mischa war pünktlich mit dem Mann an der verabredeten Stelle erschienen und hatte den Fahrenden unter einem Vorwand aus seinem Wagen gelockt. Wäre diesem irgendetwas auffällig erschienen, hätte Mischa sich verabschiedet und wäre auf das einsam gelegene Haus zugegangen, in dem er zu wohnen vorgegeben hatte. Sie hatten Glück gehabt. Natalie hatte die Umgebung überwacht und Natascha und Mischa hatten den Mann erledigt. Sie hatten den Körper wie immer in eine Kiste gelegt, waren mit ihrem Wagen nach Hause gefahren und hatten den Toten im Keller ihren Eltern überlassen.
Als Natalie danach ins Bett gehen wollte, fing ihre große Schwester sie ab und bat sie zu sich ins Zimmer. Sie führten ein langes Gespräch, welches erst spät in der Nacht endete und Natalie ging, den Kopf schwer von Gedanken, in ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett. Sie musste eine Entscheidung treffen.
Als Natalie sich entschieden hatte, war seit dem Gespräch mit ihrer Schwester schon einige Zeit vergangen. Ihre Eltern befanden sich wieder im Keller. Alles begann wieder von vorne.
Als sie von der Schule wiederkam, führte Natalie ein kurzes Telefonat und ging gegen Abend aus dem Haus. Während sie unterwegs war, dachte sie noch einmal über ihre Situation nach. Sie hatte eine endgültige Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die ihre Zukunft betraf. Es war einfach nicht mehr zu umgehen, sie hatte einen Weg wählen müssen.
Als sie vor dem großen Wohnblock ankam, war es schon dunkel und Natalie hatte einige Mühe, den richtigen Klingelknopf zu finden, denn die Beleuchtung war nicht an. Als sie ihn schließlich fand und drückte, hörte sie die Stimme des Vertrauenslehrers ihrer Schule durch die Gegensprechanlage.
„Ich bin’s, Natalie“, sagte sie.
„Ah, Natalie! Warte, ich mach die Tür auf.“ Ein leises Summen ertönte und Natalie stieß die Tür auf. Sie befand sich in einem dunklen Treppenhaus. Dann ging das Licht an.
„Komm rauf! Zweiter Stock.“, rief er zu ihr hinunter und sie folgte der Anweisung.
Als sie oben ankam, erwartete er sie an der Tür. „Hi“, sagte er, „komm rein.“
Sie ging an ihm vorbei und er schloss die Tür. Dann führte er sie durch einen schmucklosen Flur in das Wohnzimmer. Dieses war nicht sehr groß, aber gemütlich eingerichtet. Dicke, grüne Wollvorhänge schlossen die Nacht aus und in einer Ecke warf eine Stehlampe ein warmes Licht in den Raum. Ein Radio spielte leise Klassikmusik.
„Setz dich.“, sagte er und deutete auf das Sofa, vor dem ein kleiner Tisch stand. Natalie nahm Platz und er setzte sich ihr gegenüber in einen großen Lehnstuhl. Auf dem Tisch standen eine Kanne mit Tee und zwei Tassen, daneben ein Teller mit Keksen. Er nahm die Kanne, schenkte ihnen ein und bot ihr das Gebäck an. Sie lehnte ab.
„Sie haben mir gesagt, dass ich zu ihnen kommen kann, wenn ich ein Problem habe.“, begann sie das Gespräch.
„Das stimmt.“, erwiderte er. „Wo brennt’s denn?“
„Nun, es geht um meine Familie. Ich glaube, die Geschichte wird sich ganz schön komisch anhören, aber ich wusste nicht, zu wem ich sonst gehen sollte.“ Er winkte lässig ab.
„Es ist wohl am besten, wenn ich ganz von vorne anfange. Meine Eltern sind hier in Deutschland aufgewachsen. Meine Großeltern waren jüdischer Abstammung. Die Eltern meiner Mutter waren normale Leute, die von meinem Vater waren reich. Sie haben ein großes Vermögen in der Textilherstellung oder so was ähnlichem gemacht. Dadurch konnten sie natürlich ein gutes Leben führen.“ Er nickte und trank einen Schluck aus seiner Tasse. Natalie fuhr fort.
„Das Ganze änderte sich natürlich als die Nazis an die Macht kamen. Die Eltern meines Vaters haben ziemlich früh gemerkt, dass die Dinge gegen sie standen. Ihr Vermögen haben sie Stück für Stück ins Ausland verschoben. Sie selbst wollten ihre Heimat allerdings nicht verlassen, auch nicht, als es ab 1938 richtig schlimm wurde. Sie wissen schon, die Reichskristallnacht und all das.“ Er nickte.
„Genauso wenig waren die Eltern meiner Mutter bereit, zu gehen. Als sie dann eines Tages von der SS abgeholt wurden, wehrten sie sich und wurden auf der Straße erschossen. Meine Mutter wurde mit ihren zwei Geschwistern in ein Konzentrationslager geschafft. Dort lernte sie meinen Vater kennen, der mit seiner Familie ebenfalls dorthin abtransportiert wurde. Die beiden waren damals ungefähr sechzehn.“
Natalie machte eine Pause, um ihre Gedanken neu zu sammeln. Das meiste hatte sie erst bei dem Gespräch mit Natascha erfahren. Ihr Vertrauenslehrer hatte seinen Tee vergessen. Gespannt sah er sie an. Wahrscheinlich fragt er sich, worin mein Problem besteht, dachte Natalie.
„Fragen sie mich nicht wie, aber meine Eltern schafften es, fünf Jahre im KZ zu überleben, während ihre Familien in der Zeit starben. Ich glaube, es war die Liebe, die sie zueinander entdeckt haben. Das glaube ich jedenfalls dann, wenn ich sie zusammen sehe.“ Natalie setzte sich anders hin und schob ihre Teetasse ein Stück von sich fort.
„Vielleicht sind sie aber auch nicht getötet worden, weil die Nazis andere Pläne mit ihnen hatten. Denn irgendwann fingen die Ärzte in diesem Lager an, ihnen Spritzen zu geben. Sie wissen wahrscheinlich, dass man damals Versuche an Menschen vorgenommen hat. Angeblich hatte Hitler alle möglichen verrückten Ideen. Er glaubte daran, durch übernatürliche Kräfte seinen großen Sieg zu erringen; er glaubte daran, durch die Medizin sein Leben verlängern zu können. Das erste war nicht so einfach in die Hände zu bekommen. Aber für seine Ärzte gab es genug Versuchsmaterial in den Lagern. Sie brauchten sich nur die widerstandfähigsten Objekte auszusuchen und konnten loslegen. Es weiß natürlich keiner, was in den Spritzen drin war und wie sie auf den Menschen wirkten. Meine Eltern am allerwenigsten. Und – mal davon abgesehen, dass es ihnen von den Ärzten nie einer erzählt haben würde – 1945 wurden sie von den Alliierten befreit, bevor die Versuche irgendwelche Ergebnisse zeigten. Von den Ärzten war danach keiner mehr zu finden. Entweder tot oder irgendwo untergetaucht. Meinen Eltern war das damals ziemlich egal. Sie waren froh, dass sie zusammen überlebt hatten und begannen, obwohl sie beide erst einundzwanzig waren, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Das Vermögen meiner Großeltern, über das mein Vater verfügte, half ihnen natürlich dabei. Langsam konnten sie auch versuchen, diese ganze schreckliche Zeit zu vergessen – oder zumindest zu verdrängen. 1953 wurde dann meine Schwester Natascha geboren und sieben Jahre später mein Bruder Mischa. Endgültig schien sich alles zum Guten zu wenden, alle waren glücklich.
Aber etwa um die Zeit fiel meinen Eltern langsam auf, dass sie, obwohl fünfzehn Jahre vergangen waren, beide nicht viel älter wurden. Ich weiß selbst nicht, wie ...“
„Einen Moment mal, Natalie.“ Unterbrach er ihren Redefluss und hob die Hand, wie um seine Wörter zu unterstreichen. Er sah sie mit einem verstörten Blick an und schüttelte den Kopf „Das gerade habe ich wohl falsch verstanden. Hast du gesagt, sie merkten, dass sie nicht zu altern schienen?“
„Ja, das habe ich. Und bevor Sie jetzt weiter fragen, lassen Sie mich erstmal den Rest erzählen. Der wird noch eine Spur verrückter klingen.“ Der Mann wollte etwas sagen, aber Natalie redete einfach weiter. Es tat ihr gut, einem Außenstehenden von diesen Dingen zu erzählen. Sie hatte die ganze Zeit, während sie redete, gespürt, wie der Druck in ihr leichter wurde.
„Sie wurden nicht älter. An sich klingt das ja nicht schlecht, aber das war leider nur die eine Seite. Die nächsten drei Jahre über waren beide immer anfällig für Krankheiten und schon eine Erkältung machte ihnen härter zu schaffen als anderen Menschen. Natürlich gingen sie zu einem Arzt, der ihnen auch alle möglichen Mittel verschrieb. Diese halfen ihnen - aber nur wenig und sie wurden immer anfälliger. Irgendwann erreichten sie das nächste Stadium. Sie bekamen Hautausschläge, Beulen und noch schlimmere Auswüchse. Ihr ganzer Körper schien in einen Kampf verwickelt, der dem Schlachtfeld die Gestalt nahm und sie veränderte. Sie hatten Schmerzen. Diesen Zustand ertrugen sie eine Woche ohne aus dem Haus zu gehen. Sie schlossen sich in den Keller ein und meine Schwester, die damals zehn Jahre alt war, übernahm die Pflege meines Bruders.
Eines Abends schließlich machten sich die beiden mit ihrem Wagen auf den Weg ins Krankenhaus. Die Schmerzen und die Angst, was mit ihnen passierte, waren zu groß geworden. Unterwegs passierte etwas, das ihr ... das unser Leben vollkommen veränderte. Sie überfuhren einen Jungen, der mit seinem Fahrrad unterwegs war. Es war keine Absicht, es war dunkel und mein Vater hatte diese Schmerzen, die das Autofahren beinahe unmöglich machten. Jedenfalls hielten sie und stiegen beide aus.
Der Junge war tot. Er war sofort tot gewesen, denn sein Schädel war aufgeplatzt. Meine Eltern sahen ihn und ihr ... Instinkt ... reagierte, denn da war das, was ihr Körper die ganze Zeit über gebraucht hat. Vielleicht war es der gleiche Instinkt, der einem Tier sagt, was seinem Körper fehlt. Es weiß, wo es zu finden ist und holt es sich. Jedenfalls setzten sich meine Eltern auf die Straße und aßen vom Gehirn des Jungen.“
Natalie schwieg. Sie wollte gerade an dieser Stelle keine Pause machen, denn sie war an dem Punkt angelangt, wo er sie wahrscheinlich auslachen oder rauswerfen würde. Ihr Gegenüber jedoch zeigte keine erkennbare Reaktion auf das, was sie eben gesagt hatte. Natalie konnte seine Gedanken nicht einschätzen. Ob er ernsthaft an ihrem Geisteszustand zweifelte oder zu glauben begann, dass sie ihm einen Streich spielen wollte? Sie wusste es nicht und redete deshalb einfach weiter. Es war das einzige, was sie tun konnte.
„Der Unfall war auf einer einsamen Landstrasse passiert. Es kam kein Auto vorbei und niemand hatte sie gesehen. Meine Eltern ließen den toten Jungen liegen, wie er war. Sie waren sich sicher, dass man es als Unfall mit Fahrerflucht betrachten würde und sie damit nicht in Zusammenhang gebracht werden konnten. Sie drehten um und fuhren wieder nach Hause, denn es ging ihnen tatsächlich sofort besser. Natürlich verschwanden die Auswüchse und all das nicht sofort, aber die Schmerzen waren fort. Zuhause schlossen sie sich wieder in den Keller ein und warteten und am nächsten Morgen waren sie so normal wie eh und je; nur ihr Selbstverständnis hatte sich in der Nacht um einhundertundachtzig Grad gedreht. Sie hatten von einem toten Menschen gegessen, um zu überleben. Sie waren sich sicher, dass sie ansonsten gestorben wären. Natürlich hatten sie schon früher daran gedacht, dass sie das Ganze den Ärzten und den Spritzen ihrer Vergangenheit zu verdanken hatten. Nachdem sie von dem toten Jungen gegessen hatten, konnten sie nicht einfach ins nächste Krankenhaus gehen, um sich untersuchen zu lassen. Bald darauf zogen sie in eine andere Stadt, um den Alptraum hinter sich zu lassen. Aber er folgte ihnen, denn einige Zeit später traten die gleichen Symptome wieder auf. Meine Eltern waren am Ende. Aber sie mussten irgendetwas tun. Und sie wussten, was. Sie töteten jemanden, diesmal mit der Absicht, zu überleben, aßen sein Gehirn und die Symptome verschwanden. Das ist bis heute so geblieben. Verändert hat sich nur eines: Es sind nicht mehr meine Eltern, die jagen. Ihr Zustand erlaubt ihnen das nicht mehr, denn die ... schlimmen Phasen ... kommen schneller und intensiver. Also haben wir das übernommen. Mein Bruder, meine beiden Schwestern und ich. Jetzt töten wir die Menschen und bringen sie unseren Eltern in den Keller. Sie essen nicht mehr nur die Gehirne, sondern inzwischen auch das Gedärm und ...“
„Halt!“, rief er und schlug die Hände vor sein Gesicht. Natalie verstummte. Er tat eine Weile nichts. Dann nahm er die Hände herunter und sah sie an, als suchte er etwas in ihren Augen. Vielleicht etwas, das ihn überzeugen konnte, dass er hier mit einer komplett Verrückten in seinem Wohnzimmer saß und Tee trank. Er schien sich schwer damit zu tun, einen klaren Gedanken zu fassen, denn er öffnete mehrere Male den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Nach einer Weile schaffte er es dann doch.
„Natalie! Abgesehen davon, dass ich dir kein Stück von dem glaube, was du da eben erzählt hast – warum zur Hölle kommst du mit dem Schwachsinn ausgerechnet zu mir?“
„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie mir nicht glauben würden. Ich kann es aber beweisen. Ich kann ihnen die Stelle zeigen, an der wir die Überreste von dem Letzten vergraben haben. Im Wald.“
„Das interessiert mich überhaupt nicht! Bist du denn vollkommen übergeschnappt? Hast du irgendwelche Drogen genommen, oder was ist mit dir los?“
Natalie fing an zu weinen. „Sie müssen mir glauben! Ich halte das Ganze einfach nicht mehr aus! Wir ziehen andauernd um, aber meine Eltern werden immer im Keller auf uns warten! Ich halte es nicht mehr aus!“ Sie schluchzte hemmungslos und er stand auf und nahm sie in den Arm.
„Natalie, beruhige dich doch.“ Er streichelte ihr über das Haar. „Du musst doch verstehen, dass ich deine Geschichte nicht glauben kann.“ Natalie antwortete nicht, sondern weinte an seiner Schulter. Er ließ ihr ein paar Minuten, und sie beruhigte sich etwas.
„Besser?“
Sie sah zu ihm auf. Tränen liefen ihr noch immer über das Gesicht. „Kommen Sie mit mir mit? Ich kann es Ihnen zeigen und dann müssen Sie mir glauben. Bitte.“
„Ich“, fing er an. „Okay ich komme mit. Wenn du mir versprichst, dass wir danach zu deinen Eltern gehen und über die ganze Sache sprechen werden.“
Sie nickte und löste sich aus seinen Armen.
Die Nacht war dunkel, und obwohl der Mond schien, vermochte er doch nicht, Bäume und Sträucher als mehr denn schwarze Flecken in ihrer Umgebung erscheinen zu lassen. Ein starker Wind blies durch die Wipfel und versetzte die Finsternis in Bewegung. Am Waldrand waren Nebelschwaden aufgezogen.
Natalie und ihr Begleiter hatten den Wald erreicht und waren zu Fuß weiter gegangen. Während der Autofahrt war – von Natalies Wegbeschreibung abgesehen – nicht geredet worden und auch jetzt gingen sie schweigsam hintereinander her. Natalie führte. Sie musste aufpassen, damit sie nicht den richtigen Weg verfehlte. In diesem nächtlichen Wald sah alles so verflucht anders aus! An einer Gabelung zögerte sie kurz und ging dann nach rechts.
„Sag mal Natalie, ahnen deine Eltern eigentlich, dass du vorhattest, von eurem ... Geheimnis ... zu erzählen? Ich meine, ihr müsst doch alle an einem Strang ziehen, so wie die Sache aussieht. Redet ihr nicht über eure Gefühle?“
Natalie lachte innerlich kurz auf. Er glaubte ihr natürlich noch immer nicht, spielte aber das Spiel mit. Wahrscheinlich war er immer noch davon überzeugt, sie wäre durchgedreht, hätte irgendwelche Drogen eingenommen oder so etwas. Es macht nichts, dachte sie bei sich; bald wird er mir glauben.
„Nein, das tun wir nicht“, antwortete sie.
„Aber mit deinen Geschwistern wirst du doch geredet haben, schließlich steckt ihr alle in einem Boot.“
„Ja, mit meinen Geschwistern habe ich allerdings darüber geredet.“, sagte sie.
Er schwieg kurz und versuchte, eins und eins zusammenzuzählen. „Aber dann ...“ begann er, doch Natalie unterbrach ihn: „Warten Sie mal kurz, ich glaube, da ist ein Stein in meinem Schuh.“ Sie kniete sich hin und zog ihr Schnürband auf. In dem Moment kamen Mischa und Natascha hinter dem Mann aus dem Gebüsch hervor. Sie griffen nach seinen Armen und hielten ihn fest. Er war vollkommen überrascht. Als Natalie wieder aufstand, hatte sie einen faustgroßen, scharfkantigen Stein in der Hand.
„Natalie, was ...“ stammelte er, als er sie ausholen sah.
„Sie sind mir gefolgt, und das war ihr Pech. Ich tue das nicht nur für meine Eltern, sondern auch für mich.“ Mit diesen Worten schlug sie so hart zu, wie sie konnte. Sie hörte seinen Schädel brechen. Er sackte in den Armen ihrer Geschwister zusammen. Natalie warf den Stein weg und half Natascha mit der Kiste, die hinter einem Gebüsch lag, während Mischa ihm das Genick brach. Zur Sicherheit.
Als Natalie später in dieser Nacht im Bett lag, dachte sie noch einmal über das nach, was Natascha ihr neulich erzählt hatte. Es stimmte. Sie tat es nicht nur für ihre Eltern. Aber sie tat es auch nicht nur für sich. Im Moment tat sie es auch für Natascha, und in naher Zukunft auch für Mischa. Was immer die Ärzte der Nazis ihren Eltern damals gespritzt hatten, die Folgen waren vererblich. Natascha wusste dies schon seit einigen Jahren aus eigener Erfahrung. Mischa hatte sie es erzählt, als er mit Sechzehn das gleiche durchgemacht hatte, was jetzt hinter Natalie lag. Einer von ihnen würde es irgendwann Marie erklären müssen.
All ihre Zweifel, ob sie richtig handelte, waren von ihr abgefallen. Sie wusste jetzt, dass es richtig war. Denn sogar, wenn sie bereit gewesen wäre, ihre Eltern zu verraten – ihre eigene Zukunft hing an dieser Familie, die auf natürliche Weise nie älter als dreißig oder vierzig werden würde. Natalie wollte leben. Sie dachte, dass sie sogar bereit war, sehr lange zu leben. Sie mussten nur zusammenhalten.
Kurz bevor sie einschlief, hörte sie ihre Schwester Natascha die Treppe hinunter in den Keller gehen. Sie holte sich ihren Anteil. Natalie drehte sich auf die Seite und schlief ein. Es würden noch einige Jahre vergehen, bis sie so weit war.
ENDE