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Familienerbstück
Wissen Sie, es war ganz einfach an der Zeit, sie zu öffnen.
Meine eigene kleine Büchse der Pandora; der große Kasten aus Tropenholz, der mir als Kind so viel Angst bereitet hat.
Susanne hat nie verstanden, weshalb ich nicht gleich nach Großmutters Tod einen Blick hinein geworfen habe, schließlich kennt sie aber auch nicht die unheilvollen Geschichten, die ich damals erzählt bekommen habe.
Woher der zwei Meter lange Kasten stammt, das weiß in dieser Familie niemand mehr, und ich bin mir sicher: Selbst Großmutter hatte keine Ahnung, wenn sie auch stets so tat, als hätte sie die eben doch.
Nun jedoch ist der Kasten endlich geöffnet. Den Kopf habe ich dabei abgewandt, die Augen zugekniffen, und selbst jetzt, zwei Stunden später, wage ich noch immer nicht, hineinzusehen.
Kein Geruch dringt aus dem inneren. Das Ding steht da wie seit Jahrzehnten, mitten im Wohnsaal der Villa, die ich geerbt habe. Die Kette mit dem seltsamen Schlüssel daran habe ich wieder dort versteckt, wo sie all die Jahre lang verborgen lag, gut geschützt vor Susannes neugierigen Zugriffen. Obwohl ... das ist ja nun eigentlich überflüssig.
Sie wird bald nach Hause kommen. Ich will, dass sie den ersten Blick auf den Inhalt wirft. Vollkommen überrascht wird sie sein, dass ich das Ding endlich geöffnet habe.
Lächerlich, ich weiß, doch meine Furcht ist stärker als jemals zuvor. Diese Geschichten von Großmutter ...
Vor der Tür zur Küche verharre ich, betrachte die Kiste von hier aus. Den massiven Deckel habe ich auf den Teppich gelegt. Keine Scharniere, trotz Schloss.
Nur ein paar Schritte müsste ich nach vorne machen, und ich könnte hinein schauen.
Aber nein, wie gelähmt bin ich. Wer A sagt, der muss auch B sagen, nur geht es einfach nicht.
Genügt es nicht, dass ich diesen ersten Schritt getan habe, der mich schon Überwindung genug gekostet hat; Großmutter, was spielst du da für ein grausames Spiel mit mir?
Ein Geräusch! Meine Beine beginnen zu zittern, der Atem geht stoßweise.
Nur die Katze, die von oben über die Wendeltreppe kommt. Was hast du mich erschreckt, Mistvieh.
Ja, jetzt guckst du mich blöd an und ... geh da weg. Nicht zu der Kiste.
Verdammt, ich hätte sie vorher wegsperren sollen.
Lass gefälligst das Schnüffeln, hau da ab.
Sie ist in die Kiste gesprungen! Oh nein ... hörst du Großmutter: Den Inhalt, den du all die Jahre verborgen hast, wurde entdeckt, und zwar von einem schwarzen Kater namens Max.
Wanderer waren wir früher mein Junge, hörst du. Ferne Länder, von denen keiner weiß. Hörst du mein Junge? Da fanden deine Vorfahren diesen Kasten.
"Max?"
Wieso gibt das Tier kein Miauen zur Antwort? Das tut es sonst immer.
Ich muss hier weg, alles läuft aus dem Ruder. Nie hätte ich den Kasten öffnen dürfen. Es tut mir Leid.
Aber ich kann nicht weg, nur starr dastehen. Ich kann dem Kasten unmöglich den Rücken zukehren.
Wann wird Susanne endlich kommen; ich halte es einfach nicht mehr aus.
Max springt aus dem Kasten und läuft auf mich zu. Er kaut auf etwas.
Mein hohles, dumpfes Inneres registriert, was es ist.
Geistesabwesend nehme ich es ihm ab.
"Hey, was stehst du denn hier wie angewurzelt?"
Ich stoße einen Schrei aus und wirbel herum. Susanne.
Der Kater flüchtet vor Schreck.
"Was ist los, du bist total bleich."
"Max hat da was gehabt. Ich habs ihm aus dem Maul genommen."
"Was ist es", will Susanne wissen.
Wortlos reiche ich ihr die Hand mit den sieben Fingern.