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Familiensinn
Familiensinn
„Möchtest du noch ein Stück Kuchen?“
Ich halte das nicht mehr aus, ich muss hier raus. Die Frage verneinend nehme ich meine Jacke. „Es tut mir leid, ich habe was Wichtiges vergessen. Ich muss gehen. Danke für alles!“
Ich könnte kotzen. Sarah sieht mich fragend an. Ich will nichts mehr sagen. Ich hauche ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwinde.
Die frische Luft tut gut. Diese heile Welt, diese glückliche, perfekte Familie da drinnen – es tut einfach weh. Wahrscheinlich sollte ich froh darüber sein, dass sie mich so herzlich aufnehmen, aber ich kann es nicht. Ich muss immer wieder an meine eigene Familie denken. Der Gedanke lässt mich nicht los...niemals tut er das.
Ich kann mich schon nicht mehr daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal wirklich um mich gekümmert, um mich gesorgt hat. Sie will sich selbst verwirklichen. Da ist kein Platz mehr für ihren Sohn, geschweige denn für ihren Mann. Wenn man das überhaupt noch Mann nennen kann. Er sitzt zu Haue und besäuft sich. Abend für Abend. Dann liegt er lallend in der Wohnung rum, sich selbst bemitleidend. Jedes Mal, wenn ich die Tür aufschließe. höre ich ihn sehnsüchtig, fast flehend rufen: Sabine, bist du das?
Nein, wiedermal war es nur der dumme Sohn. Sie lässt sich nur noch blicken, wenn er arbeiten ist – immerhin kriegt er das noch auf die Reihe.
Wann hat sie das letzte Mal Essen für mich gemacht? Einen Kuchen für mich gebacken, so wie Sarahs Mutter es ständig tut? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich jeden Tag wahnsinnigen Hunger habe. Was ich nicht habe, ist Geld, um mir was zu kaufen. Das geht für den Stoff drauf.
Wenn sie nach Hause kommt, und ich zufällig da bin, fragt sie, wie es mir geht, aber eigentlich interessiert es sie nicht. Das ist nur so eine Höflichkeitsfloskel, so wie „Du siehst gut aus“ oder „Das schmeckt aber gut“. Ich antworte jedes Mal, dass soweit alles in Ordnung ist, aber ich Hunger habe. Vielleicht treffe ich ja irgendwann mal ihre Muttergefühle.
Ihre Antwort lautet aber jedes Mal nur: Im Keller sind Kartoffeln, kannst dir die doch machen.
Während sie das sagt, füttert sie den Hund. Kurz danach verschwindet sie wieder. Was sie offenbar nicht weiß: Die paar Kartoffeln, die noch da sind, sind verschimmelt.
Ich habe angefangen, ihr zu folgen, sie zu beobachten. Sieh trifft sich mit einem Anderen. Sie halten Händchen, küssen sich, lachen...wenn das alles wäre. Er ist Witwer, hat zwei Kinder. Mädchen. Ich sehe, wie sie mit ihm in sein Haus geht und dort die warmherzige Mutter spielt. Sie kocht für sie, spielt mit ihnen, macht alle Dinge, die eine Mutter mit ihren Kindern so anstellt, die eine Frau mit ihrem Mann so tut.
Ich weiß, dass es nicht gut für mich ist, sie zu beobachten...danach brauche ich jedes Mal irgendeine Befriedigung, Drogen, Sex...oder Anderes. Hauptsache etwas, das mich für einen Moment ablenkt. Dann gehe ich nach Hause, mein auf dem Boden vor in Selbstmitleid zerfließender Vater hofft erneut, ich wäre sie. Wieder eine Enttäuschung, ein neuer Schluck aus der Flasche. Er ekelt mich an. Wie könnte ich ihn noch respektieren oder als Mann ansehen. Er ist ein Witz, ein zerrissenes Abziehbild seiner Selbst. Er weiß von der Sache mit dem Anderen, will es aber nicht wahrhaben. Er liebt sie. Sagt er. Für mich ist es Abhängigkeit, eine Sucht, die ihn nicht von ihr loslässt, keine Liebe. Ich habe ihm schon tausendmal gesagt, er soll sich scheiden lassen. Immer wieder die gleiche Antwort: Ich liebe sie doch so, und sie wird auch irgendwann wieder merken, dass sie mich liebt.
Ja klar, so wie er sich verhält bestimmt. Er zeigt jede Minute wie sehr er es wert ist, ihn zu lieben. Wie schon gesagt, ein Witz!
Sie lässt sich auch nicht scheiden. Des Geldes wegen. Sie will schließlich ihre Absicherung nicht verlieren. Arbeiten geht sie nicht, ist sie noch nie. Sie verdient sich ein paar Euros durch eine Sexhotline dazu. Aber sonst...sie lässt sich von ihm, während sie sich um ihre „andere Familie“ kümmert. Wir interessieren sie einen Scheißdreck, sie nimmt nur, gibt aber nichts zurück...zumindest nicht an uns. Sie gibt sich dem Anderen hin, ihm und seinen Kindern. Was verdammt noch mal ist mit mir? Nur weil ich volljährig bin, heißt das doch nicht, dass sie mir keine Mutter mehr sein muss. Sollte das nicht eine Pflicht, ein Gefühl ihrerseits sein, das bis ans Lebensende besteht? Ich hasse sie dafür! Ich würde es ihr manchmal gerne ins Gesicht sagen, aber das ist sie mir doch nicht wert. Sie hat mir soviel angetan, viel mehr als sie sich bewusst ist, sofern sie sich überhaupt im Klaren darüber ist, dass sie mir etwas angetan hat. Sie hat mich zerstört und tut das immer noch.
Sie ist schuld daran, dass ich den Stoff mittlerweile brauche! Sie ist schuld daran, dass ich keine Liebe empfinden kann, für niemanden! Sie ist schuld daran, dass sie sterben mussten! Nicht ich! Meine Hand war es vielleicht, die es getan hat, aber nur wegen ihr. Wie sollte ich Achtung für Frauen empfinden? Wie sollte ich sie nicht hassen?
Ich weiß nicht mehr wie viele es sind, ich habe aufgehört zu zählen. Ich weiß, dass Sarah die Nächste sein wird. Ihre scheiß heile Familie, ihre perfekte kleine Welt. Ich ertrage das nicht, das muss aufhören. Immer dieses Gefasel von Liebe und Harmonie. Bald wird auch ihre Familie wissen, wie es ist, zerstört zu sein. Wie es ist, verloren zu sein und jemanden zu vermissen. Und Sarah wird dann ganz mir gehören, sie wird nur noch für mich da sein, kein anderer Mensch wird sie je wieder zu Gesicht bekommen. Dieses kleine Miststück würde ja doch nur irgendwann jemanden verletzen...vielleicht sogar mich. Das tun sie doch alle!
Und irgendwann werde ich meinem Vater dabei helfen sie zu verlassen – oder viel mehr von ihr verlassen zu werden. So sehr ich ihn auch verachte, will ich ihn doch von ihr befreien, möglicherweise hat er dann noch eine Chance ins Leben außerhalb der Flasche zurück zu finden. Irgendwann ist auch sie dran, ich warte nur auf den richtigen Zeitpunkt. Sie und ihre verschissene Möchtegern-Familie. Alle werden sie büßen.
Ich werde mir und meinem Vater die nötige Freiheit verschaffen, sonst wird es immer so weiter gehen.
Doch jetzt gehe ich erstmal zurück zu Sarah und entschuldige mich für mein plötzliches Verschwinden von eben. Sie und ihre Eltern werden mich ja doch wieder bei sich aufnehmen und mir ihr Glück unter die Nase reiben.
Nicht mehr lange...