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Fegefeuer
Vater unser im Himmel!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit…
„Amen“, beendete Reverend John Norton das gemeinsame Gebet, löste die gefalteten Hände und legte sie auf die blauweiß-karierte Tischdecke. „Dann lang kräftig zu!“, forderte er seine kleine Tochter auf, „Wer weiß, wann deine Mutter wieder so ein großartiges Festmahl für uns zaubert.“ Vivian Norton lächelte bei den lobenden Worten ihres Mannes. Heute jährte sich ihr zehnter Hochzeitstag und daher hatte sie sich besondere Mühe mit dem Mittagessen gemacht. Der Duft von gebratenem Fleisch erfüllte das geräumige Wohnzimmer und neben dem großen Teller mit Kalbrückensteaks verlockten frisch zubereitete Zanderfilets, knackiger Blattsalat mit Nüssen und dampfendes Kartoffelgratin die kleine Familie zum herzhaften Zugreifen. Die siebenjährige Mary kam der Auforderung ihres Vaters eifrig nach, piekste mit der Gabel ein großes Steak auf, das sie mit zittriger Hand zu ihrem Teller führte, und ließ gleich danach ihre Gabel erneut über den Schüsseln kreisen, um erneut damit herabzustoßen.
Der Reverend beobachtete seine Tochter. „Die blonden Haare, die kleine Stupsnase, die leuchtend grünen Augen … eigentlich hat Mary nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir. Aber die meisten Mädchen wären wohl froh, nicht mein Gesicht zu haben“, spöttelte er in Gedanken. Der Geistliche genoss in seiner Gemeinde großen Respekt, doch mehr wegen seiner mitreißenden Reden, weniger wegen eines angenehmen Äußeren oder besonderer Kultiviertheit. Aber viele schätzten an ihm, dass er nicht jedem Trend hinterher eilte, sondern manchmal eben in polternder Weise für die alten Werte eintrat. Seine Knollennase, das kurzrasierte schwarze Haar und die stämmige Figur verliehen ihm etwas Bäuerliches. Ganz anders jedoch seine Frau. John hatte sich noch Jahre nach ihrer Hochzeit oft gefragt, warum dieses feengleiche Wesen mit bezauberndem Lächeln einen alten Klotz wie ihn ausgewählt hatte. Nun erhob sich Vivian, um den Nachtisch zu holen, und John fiel auf, dass sie fast nichts von ihrer Schönheit eingebüßt hatte: mit federnden Schritten ging sie sich durchs Wohnzimmer in die Küche, und der zarte Geruch von Parfüm zog ihr nach. Als sie mit dem Dessert zurückkehrte, sah er ihre smaragdgrünen Augen in der Sonne funkeln: „Na, will noch jemand Nachtisch?“, fragte sie mit erwartungsvoll. „Oh, ja!“, Mary sprang auf und hielt ihr ein gläsernes Schälchen hin. John, der kaum Appetit hatte, ließ die beiden zu Ende essen, dann schob er seinen Stuhl nach hinten und stand auf. „Ich habe noch eine kleine Überraschung für Euch“, kündigte er mit voluminöser Stimme an. Sofort blitzte ihm aus zwei Augenpaaren Begeisterung entgegen. „Oh, sag schon, was ist es! Was hast du Romantiker dir für unseren Hochzeitstag ausgedacht?“, bohrte seine Frau. „Es ist eine Überraschung für euch beide“ erklärte John, „und was es ist, könnt ihr im Partykeller sehen.“ Gemächlich spazierte er heraus in den lichtdurchfluteten Flur und die Kellertreppe hinab; diese endete vor einer schweren Eichentür. Er trat durch sie in den Kellerraum, den sie für gelegentliche Parties wohnlich eingerichtet hatten. Es gab dort eine Theke samt Barhockern, und nur der alte Heizölkessel daneben störte das Ambiente ein bisschen. Vivian zog scharf Luft ein. „Irgendetwas riecht hier seltsam“, mäkelte sie, „vielleicht solltest du den Öltank reinigen oder einen Mechaniker rufen, der schaut, ob damit noch alles in Ordnung ist.“
„Vielleicht“, erwiderte John knapp.
„Wo ist denn nun die Überraschung?“, Vivian sah sich naserümpfend und fragend um, die Blicke ihrer Tochter durchstöberten jede Ecke des Raumes.
„Stellt euch dort hinter die Theke und schließt einen Moment die Augen und ihr bekommt eure Überraschung“, versprach der Reverend.
„Na gut“, gaben beide einstimmig nach. Vivian schloss ihre hübschen Augen und Mary hielt sich die Hände vors Gesicht.
Der Reverend ging leise einen Schritt zurück auf die Tür zu, dann einen weiteren. Direkt vor ihr blieb er schließlich stehen und zückte ein Feuerzeug aus seiner schwarzen Jeans. Ein weiterer Schritt führte ihn aus dem Raum heraus und dort im Treppenflur entzündete er ein Taschentuch, das er in den Kellerraum warf.
Vivian und Mary öffneten ihre Augen in dem Moment, als sie hörten wie die Tür einrastete und verschlossen wurde. Im nachfolgenden Moment brannte eine Flammenwand auf sie zu, das Feuer wuchs als lodernde Flut über den gesamten Boden, schwarzer Rauch stieg auf und giftige Hitze glühte ihnen entgegen. Panisch retteten sie sich auf die Theke.
„John, verdammt, schließ auf!“, schrie Vivian, dann zerbrach ein Hustenkrampf ihre Stimme. Mary begann zu weinen und umklammerte ängstlich den Oberschenkel ihrer Mutter.
Reverend Norton spürte die Hitze sogar durch die Tür hindurch, doch er blieb auf der Treppe stehen und lauschte den Schreien seiner Ehefrau.
„Vivian, weißt du, warum du diese Läuterung auf dich nehmen musst?“, rief er ihr zu.
„Zum Teufel, ich habe keine Ahnung, was du willst. Hol uns endlich hier raus!“, Vivians Stimme überschlug sich.
„Du weißt es nicht?“, wiederholte John.
„Nein, nein, nein!“, die Stimme im anderen Zimmer ging in ein Schluchzen über.
„Den Feigen aber, mit Gräueln Befleckten, den Unzüchtigen und allen Lügnern ist ihr Teil in dem See, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod“, zitierte John die Bibel. „Dein Leib hat gesündigt und dein Leib wird dafür gestraft, Vivian!“, brüllte er weiter, „die Läuterung durch das Feuer tötet nur den Körper, doch deine Seele wird vielleicht gerettet.“
Er hörte das Weinen seiner Tochter und spürte den eisigen Stachel der Reue. Mit sanfterer Stimmer setzte er fort: „Keine Angst Mary, bald wirst du dem uns über alles liebenden Schöpfer begegnen … und eines verspreche ich dir…“ Er hielt kurz inne, dann schrie er seine letzte Botschaft in das flammende Inferno: „Auch dein leiblicher Schöpfer wird dir bald nachfolgen!“
Da begriff Vivian, weswegen sie sterben musste …
Es war ein ungewöhnlich schwüler Frühlingstag im kleinen Green Ville, doch in der Lincoln-Street war es heute heißer als in anderen Straßen der Stadt. Dort reckten sich orangerote Flammensäulen in den Himmel und schwarzer Rauch fraß sich durch die weißen Wolken. Das einst so hübsch anzusehende Holzhaus der Nortons zerfiel Stück für Stück unter einer Last aus Brand und dunklem Brodem; die blaue Lackierung war größtenteils zerschmolzen und erfüllte die Luft mit giftigem Dampf. In der ohnehin schon glühenden Mittagssonne näherten sich zahlreiche Passanten dieser Feuerhölle, die ihnen nur noch mehr Schweiß auf die Stirn trieb. Drei Löschwagen der Feuerwehr waren um das Haus verteilt und Männer in schwarzen Schutzanzügen schossen aus ihren Schläuchen Tonnen von Wasser in die Flammen. Wer nicht an den Löschaktionen beteiligt war, versuchte die neugierigen Gaffer fernzuhalten, damit sie den Rettungsversuchen nicht im Wege standen. Einige wagemutige Feuerwehrmänner hatten im Obergeschoß des Hauses, das weniger flammendurchflutet war, bereits nach Bewusstlosen gesucht, doch nichts gefunden. Das Erdgeschoß brannte so stark, dass erst nach einigen Minuten Rettungstrupps hineingeschickt wurden. Doch sie fanden nur noch zwei verkohlte Leichen im Keller. Für die Ärzte gab es hier nichts mehr zu tun.
Als Brandursache vermutete man eine Explosion des Öltanks im Keller, die zu jenem Großbrand geführt hatte, der sich schließlich über das ganze Haus ausbreitete. Da moderne Heizungsanlagen nicht ohne äußere Einwirkung plötzlich explodierten, musste bereits vorher ein starkes Feuer ausgebrochen sein. Wie dies entstanden war, blieb noch ungeklärt. Ebenso ungeklärt blieb zunächst, wo man den dritten Bewohner des Hauses finden konnte. Dass drei Menschen im Haus gewohnt hatten, brachte polizeiliche Recherche schnell zutage, doch am Tag des Feuers ließ sich nicht einmal mit Gewissheit sagen, wer die Toten eigentlich waren, so verbrannt waren ihre Überreste. Das Mädchen konnte man aufgrund der Größe leicht identifizieren, bei der anderen Leiche vermutete man, dass es sich um Vivian Norton handelte, doch dies müsste ein ärztliches Gutachten erst noch bestätigen.
Einen Tag lang brach Chaos in die Idylle der kleinen Stadt ein.
John lehnte sich in das Lederpolster seines silbernen Ford Freestars zurück und schaute durch die Frontscheibe in den nächtlichen Sternenhimmel. Den Wagen hatte er am Rande eines Feldweges im Stadtäußeren geparkt.
Glücklich war er nicht über sein Werk, aber er hatte es tun müssen. „Nein, im Grunde macht es mich doch glücklich“, dachte er voller Zorn, „denn schließlich ist es ein Glück, dem Willen des Herrn zu dienen!“ Am Morgen seines Hochzeitstages hatte er den Kellerboden mit Benzin übergossen, und auch das, was nach der Verdunstung übrig geblieben war, hatte für ein wunderbares Feuer gereicht. Sicherheitshalber hatte er noch einen Benzinkanister unter der Theke platziert.
Der Reverend war fest überzeugt, im Auftrag Gottes gehandelt zu haben, doch hatte er auch persönliche Motive gehabt. „Diese verdammte Hure“, brannte es durch seinen Kopf, „hat geglaubt, ich würde nicht bemerken, wie ihr die Geilheit immer mehr aus den Augen strahlt.“ Er wusste nicht, wie oft sie ihn betrogen hatte, aber er wusste, dass sie es getan hatte. Die ganze Stadt munkelte schon, dass die junge hübsche Vivian es regelmäßig von anderen besorgt bekam, weil der kleine Pfaffe ihr auf Dauer nicht reichte. „Diese Schlampe! Als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, als die Versuchung des Fleisches!“ Was lange Zeit nur eine Ahnung gewesen war, hatte ein heimlicher DNA-Test letztlich bewiesen: Mary war nicht seine Tochter.
Innerlich kochte Norton bei diesem Gedanken. „Natürlich liebe ich meine Frau, aber gerade deshalb musste ich doch verhindern, dass sie durch weitere Sünden ihr Seelenheil verspielt“, redete er sich ein. Mary hatte dies alles nicht verdient, doch er glaubte, dass sie nun an einem besseren Ort weiterlebte. „Das wär’ alles nicht passiert, wenn jeder die Gebote Gottes achten würde!“ Er hasste diesen neumodischen Trend, die Bibel nur noch allegorisch zu deuten und sich das herauszusuchen, was einem passte, und den Rest zu ignorieren. „Die Bibel hat eindeutige Regel, die auch eindeutig zu befolgen sind“. Natürlich stand dort auch „Du sollst nicht töten“, aber deswegen hatte John seine Familie ja nicht direkt getötet. Er hatte ihr Schicksal in Gottes Hände gelegt, indem er Gott durch das Feuer wirken ließ. „Wir können die Schlechtigkeit dieser Welt nicht Gott allein anlasten! Wir alle, die wir ruhig mit ansehen, wie solche Gräuel ungestraft passieren, tragen eine Teilschuld… Gott gibt uns Gebote vor, an die wir uns halten müssen; und wenn jemand dies nicht tut, muss er bereits im Leben der Gnade Gottes ausgeliefert werden, damit die Welt den Klauen des Teufels entrissen wird.“
Der Reverend erinnerte sich an einen Spruch aus dem dritten Buch Mose: „Ein Mann, der mit der Frau seines Nächsten die Ehe bricht, wird mit dem Tod bestraft, der Ehebrecher samt der Ehebrecherin.“ Und Gott hatte sie mit dem Tode bestraft, dachte John befriedigt.
„Der Ehebrecher samt der Ehebrecherin“, wiederholte er. Die Frau hatte ihre Strafe erhalten, nun musste der Ehebrecher folgen. „Mary, dein leiblicher Vater wird dir bald folgen, doch bezweifle ich, dass er das Fegefeuer so schnell passieren wird, wie du“, urteilte Norton grimmig.
Morgen Vormittag würde er Vivians Arbeitskollegen, den Bankier William Dudley, anrufen. Zufrieden legte John seinen Kopf nach hinten, um ein bisschen zu schlafen.
Es war der Samstag nach dem Tag des Feuers – und ein vergleichsweise kühler Samstag. Im Hintergrund hörte John lautes Motorenrauschen. Gegen elf Uhr früh war er mit seinem Wagen zu einem nahe gelegenen Rastplatz am Highway gefahren; nun ruhte sein rechter Arm auf dem Autodach, während er die linke Hand über die Augen hielt, um nach einer Telefonzelle zu spähen. Noch in den ersten Morgenstunden war er beim Haus der Dudleys gewesen. William parkte seinen Pontiac immer draußen, so dass John problemlos die Bremskabel hatte anschneiden können. Er war zufrieden mit seinem Plan: „Ich darf zwar nicht töten, aber gebe Gott die Möglichkeit selbst zu wirken. Sollte ich irren und den werten William zu Unrecht beschuldigen, dann hat er schlimmstenfalls einen kleinen Unfall mit Lackschaden. Aber wenn ich recht habe …“ John grinste.
William war einer jener schmierigen Karrieretypen, denen die Frauen zuflogen. Nie ein hartes Wort, immer aalglatt und freundlich, allen gegenüber schmeichelnd. „Man könnte auch sagen, er ist ein verlogener Drecksack!“ William besaß Frau und Kinder, und die Nortons und Dudleys waren seit Langem befreundet; man hatte gemeinschaftlich viel unternommen, war campen und am Strand gewesen. Umso größer Johns Wut, als er dahinterkam, dass nicht nur freundschaftliche und berufliche Bande Vivian und William zusammenhielten.
Der Reverend hatte eine Telefonzelle entdeckt, ging darauf zu, warf einige Münzen ein und wählte hastig die Nummer. Ein, zwei, drei Pieptöne vergingen, bis John ein Klacken vernahm und von einer weiblichen Stimme begrüßt wurde: „Doris Dudley.“
„Hallo Doris, ist Will zufällig zu Haus?“ fragte John. „Arme Frau, du hast diesen Mistkerl wirklich nicht verdient.“
Die plötzlich eintretende Stille verriet Doris Überraschung, doch schließlich antwortete sie stockend und übereifrig: „Ähm, natürlich ist Will da … ich hol ihn sofort ...“ Dann war sie weg. Einen Augenblick später hörte er die besorgt klingende Stimme seines Rivalen: „John, wo bist du bloß? Weißt du überhaupt, was gestern Schreckliches passiert ist…“
„Ja, weiß ich“, unterbrach ihn John, „lass uns lieber später darüber reden.“ Er versuchte seiner Stimme einen möglichst verzweifelten Klang zu geben, „Aber momentan brauche ich dringend deine Hilfe!“
„Ja, natürlich, was kann ich für dich tun?“
„Ich war gestern unterwegs und erst heute Morgen habe ich den Anruf vom Krankenhaus erhalten. Ich hatte kein Geld mit und bin daher zurückgetrampt, aber nun stecke ich hier schon über eine Stunde fest, obwohl ich gleich im Krankenhaus sein soll … Verdammt, ich muss wissen, was da passiert ist, Will! Kannst Du mich nicht abholen? Bitte!“
„Ich komme sofort vorbei“, versicherte William.
John gab ihm Bescheid, wo er zu finden war, dann hängte er den Hörer auf. Da wurde ihm mit einem eisigen Schauer bewusst, dass er William angelogen hatte. „Hoffentlich wird Gott es mir verzeihen.“
Zehn Meilen vom Rastplatz entfernt verabschiedete sich William eilig von seiner Frau und seiner jüngeren Tochter, die schon aufgestanden war. Dann rannte er aus dem Haus, sprang er in seinen Wagen und fuhr los. Da er auf keine roten Ampel traf, bemerkte Will das Versagen der Bremsen erst, als runterbremsen wollte, um nicht in einen einkurvenden LKW zu rasen. Schneller als jede Bremse es hätte tun können, brachte der LKW sein Auto zum Stillstand – und sein Leben ebenso …
Einen Tag später hatte sich die Nachricht vom Brand in halb Green Ville verbreitet. Der Reverend war ein bekannter Mann und viele waren sehr betrübt, dass der sympathische Geistliche nun tot sein sollte. Manche munkelten, er selbst sei nicht zu Haus gewesen, woraufhin so etwas wie ein „Oh nein, der Ärmste … Frau und Kind verloren“ durch viele Haushalte geisterte.
Durch das Polizeirevier geisterten noch andere Nachrichten. Die Größere der zwei Brandleichen war inzwischen als Frau identifiziert worden, so dass man nach dem hinterbliebenen John Norton suchte. Von diesem hatte zuletzt Doris Dudley gehört: ihr Ehemann wollte den Reverend auf einem Rastplatz außerhalb der Stadt treffen. William Dudley war infolge eines Autounfalls inzwischen selbst tot. Untersuchungen hatten ergeben, dass jemand seine Bremskabel durchschnitten hatte.
Die Gerüchte um Vivian Norton und William Dudley waren unterdessen sogar bis zum ermittelnden Inspektor vorgedrungen, so dass dieser Eins und Eins zusammenzählen konnte. Die Ehefrau des Reverend und der Mann, mit dem sie laut Stadttratsch eine Affäre gehabt hatte, waren auf mysteriöse Weise innerhalb von nur zwei Tagen gestorben, und von Vivians Ehemann fehlte jede Spur. Dass der Brand gelegt worden ist, musste zwar erst noch bewiesen werden, aber der Inspektor war in dieser Hinsicht zuversichtlich. Nun musste er nur noch seinen Verdächtigen finden. Er griff zum neben ihn stehenden Telefon und rief die lokale Zeitung an …
Gestern hatte John Norton, nachdem er William zum Rastplatz beordert hatte, immer wieder versucht dessen Frau zu erreichen, doch erst gegen Abend war er durchgekommen. Doris verheult klingende Stimme hatte ihm Gewissheit verschafft, noch bevor sie gesagt hatte, was passiert war. Will hatte seine gerechte Strafe erfahren.
Er fühlte Genugtuung. Die jahrelange Schmach und seine Demütigung waren endlich gerächt. „Doch wäre es nicht egoistisch, wenn ich versuche mein altes Leben wieder aufzunehmen?“, fragte er sich, „Vielleicht ist mein Auftrag, Gott zu helfen, diese Welt von Sündern zu reinigen. Ihre Seelen zu retten, bevor sie sich und andere gänzlich verderben.“ Nach all den Jahren der Erniedrigung hatte John nun endlich etwas, was ihn aufrichtete – was ihn erhöhte. Die kirchlichen Lehren waren längst aufgeweicht und verwässert worden, so dass eine unreflektierte Friedfertigkeit gepredigt wurde, die sich nirgendwo in der Bibel finden ließ. „Selbst Jesus, der uns die Nächstenliebe predigt, fordert nicht zur absoluten Friedfertigkeit auf“, spann John sich zurecht, „denn wie sagte Christus in Matthäus 10: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Friedfertigkeit gegenüber der Sünde erschien John genauso schlimm wie die Sünde selbst. „Lass mich Dein Schwert gegen die Sünde sein, Gott!“
Es brauchte nur kurze Zeit, bis Reverend Norton ein Sünder einfiel, über den noch gerichtet werden müsste. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte Vivian ihm von Gerüchten um Sportlehrer Ryan erzählt, der eine Schülerin missbraucht habe. Selbst wenn dies nur Gerüchte waren, so wusste John aus Gesprächen mit dessen Verwandten eines mit Gewissheit: George Ryan, der mutmaßliche Kinderschänder, war ein ungläubiger und kaltherziger Zyniker, um den es nicht besonders schade wäre.
John dachte wieder an Vivian: „Oh, ich verzeihe Dir…“
Gegen Nachmittag war der Reverend in die Nachbarstadt gefahren, um dort neue Kleidung zu kaufen. Er hatte bis auf das, was er am Leibe trug, sein Portmonee und seinen Autoschlüssel nichts von zu Hause mitnehmen können, und wenn er auf Ryan einen vertrauenserweckenden Eindruck machen wollte, durfte er nicht stinken wie ein Iltis. Aus diesem Grund besuchte er zunächst ein Freibad, schwamm dort ein paar Runden, machte dann einen Stadtbummel und probierte in verschiedenen Shops einige Anzüge an, bevor er sich für ein eher legereres Outfit entschied: Eine schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt und ein blaues Hemd, dazu ein Paar Sneakers. In Green Ville würde sich sein Verschwinden und Vivians Tod wahrscheinlich schon herumgesprochen haben. Um kein Aufsehen zu erregen, fuhr er erst am späten Abend in seine Heimatstadt zurück.
Während der Fahrt schlugen Regentropfen hart gegen das Autofenster, und als John in Green Ville ankam, hatten sich die dunklen Wolken am Himmel zu einem schwarzen Meer verdichtet. Langsam fuhr er durch die Straße, in der Ryan wohnte. "Da ... sein Haus!"
Er stoppte den Wagen und stieg aus. Wind blies ihm entgegen und der Regen durchdrang sein Hemd. Eilig griff er ins Auto hinein und zog eine schwere Ledertasche heraus. In der Tasche selbst war ein kleiner Metallkanister verborgen – bis oben hin gefüllt mit gut brennbarem Benzin. „Du sollst nicht töten“, erinnerte sich John an das sechste Gebot, „aber das heißt nicht, dass das Feuer niemanden töten darf … das reinigende Feuer, in dem DU wirksam wirst.“ John schaute in den schwarzpurpurnen Himmel. Auch diesmal wollte er die Entscheidung dem Feuer anvertrauen.
George Ryan war überaus überrascht, als es an seiner Haustür klingelte, doch noch überraschter war er, als er sah, wer dort geklingelt hatte. Er kannte den Reverend zwar, aber nur durch einige Treffen bei seiner Mutter, die große Stücke auf ihn legte. Er selbst war weder gläubig noch besonders gut mit John Norton befreundet, so dass er erstaunt fragte: „Reverend Norton? Was verschafft mir die Ehre ihres unerwarteten Besuches?“
„Das würde ich ihnen gerne drinnen erklären, wenn sie gestatten“, erwiderte der Reverend. Er lächelte, „Lassen sie es mich so ausdrücken: es geht um ihr Seelenheil.“
Ryan wurde misstrauisch, doch den Reverend zurück in den Regen zu scheuchen, wäre so dreist, dass es verdächtig wirken musste: „Um mein Seelenheil, soso…“ Ryan konnte sich bereits denken, worum es ging. Um das dreizehnjährige Flittchen, das ihm erst schöne Augen gemacht hatte, aber dann in den Rücken gefallen war, nachdem er ihr gegeben hatte, wonach sie förmlich bettelte … Später hatte sie jämmerlich geweint und trotz seiner Drohungen, ihren Eltern erzählt, er habe sie vergewaltigt. Inzwischen wusste die ganze Schule davon.
„Setzen Sie sich doch!“, Ryan hatte den Reverend durch den Flur geführt und deutete auf eine gepolsterte Couch in einem kleinen von einigen Tischlampen beleuchteten Wohnzimmer. Während Ryan noch über den Grund des unangemeldeten Besuches nachgrübelte, erinnerte er sich plötzlich an etwas: Hatte er heute in der Zeitung nicht eine Vermisstenmeldung gelesen, die sich auf den Reverend bezog und mit einem seltsamen Unfall zusammenhing? Doch er entsann sich nicht mehr genau, was das für ein Unfall gewesen war.
Reverend Norton nahm Platz und stellte die Tasche neben sich: „Ich will Sie auch gar nicht lange stören, Mister Ryan. Aber sagen Sie, gibt es irgendetwas, was Sie belastet, was Ihnen auf der Seele liegt?“ Norton lauerte auf eine Reaktion seines Gegenübers.
„Ich habe keine Seele. Genauso wenig wie Sie“, antwortete Ryan mit einem bösen Funkeln in den Augen. Dann setzte er freundlich fort, „aber wenn Sie entschuldigen, ich müsste kurz zur Toilette, dann kann ich Ihnen auch gleich ein Handtuch zum Abtrocknen bringen.“
„Ich lauf Ihnen ja schon nicht weg“, meinte John schmunzelnd. „Du hast also keine Seele, Kinderschänder? Na, gleich wirst du deinen Irrtum erkennen …“
George Ryan stieg die Treppe hinauf, doch statt ins Bad ging er zunächst ins Schlafzimmer. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, er zog aus seinem Nachtschränkchen einen kleinen Revolver und lud drei Kugeln ein. Dann erst verschwand er ins Badezimmer. John hatte unten die ganze Zeit auf das Schließgeräusch gelauscht, und als er es hörte, schlich er schnell die Stufen hinterher. Er öffnete den Reißverschluss seiner Tasche, ergriff den Kanister und goss eine dicke Linie aus Benzin vor die Toilettentür. „Wenn er es schafft, diese Linie zu durchschreiten, schenkt ihm Gott das Leben.“
Bevor er seinen Kanister ausgeleert hatte, hörte er erneut den Schlüssel im Schloss. Hastig verschloss er den Kanister und stopfte ihn in die Tasche zurück. Er hatte den Reißverschluss gerade zugezogen, als er Ryan mit einem über den Arm geschlagenen Handtuch heraustreten sah. Ryan bemerkte den erschrockenen Ausdruck in den Augen des Reverend, roch das Benzin. „Der Unfall … die Frau war doch verbrannt!“, durchfuhr es Ryan.
„Gleich wirst du von deinen Sünden geläutert“, versprach John und zog ein Gasfeuerzeug hervor, in der Linken die Ledertasche immer noch fest umklammert.
„Stopp!“, schrie Ryan, stieß seinen rechten Arm vor, streift mit der Linken das Handtuch ab, unter dem sein Revolver verborgen war. Und als er das Klicken des Feuerzeugs hört, löst er den Schuss … der Reverend reißt seine Tasche hoch, um den Schuss damit abzuwehren, die Kugel verfehlt ihn und dringt in den Kanister - ins Benzin. Die letzten Sekunden schleichen in grausamer Langsamkeit vor Johns Augen hin: Als er den Arm wieder senkt, sieht er vor sich den qualvoll schreienden Ryan in Flammen stehen, dann erst spürt er den glühenden Schmerz in seiner Hand … in beiden Händen … fühlt die Hitze, die seine Haut zerschmilzt … Das Feuer, nein, das Feuer verbrannte auch ihn!
„Ich hätte William nicht anlügen dürfen“, war sein letzter Gedanke. Doch nie … niemals hätte er geahnt, dass das Fegefeuer so unbeschreiblich schmerzhaft brennen würde …