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Feinde im Nebel
Meine liebste Meri,
heute sind wir an der Front angekommen. Nach stundenlangen Fußmärschen lag die zerstörte Garnison vor uns. Von Hauptmann Seraphins Truppe, die wir verstärken sollten, waren nur ein paar Leichen zurückgeblieben. Es war ein schrecklicher Anblick, die toten Körper unserer Kameraden waren furchtbar zugerichtet. Ich wünschte, du wärst bei mir, dein Humor würde dem Krieg sicher den Schrecken nehmen. So musste ich Gräber schaufeln und Baumstämme für die Palisade zuhauen, ohne, dass ich mich auf den Trost deiner Arme freuen kann. Die Stimmung im Lager ist gedrückt. Nicht einmal die Vögel singen.
Hauptmann Olowen kommandiert uns gnadenlos herum und lässt uns schuften wie die Tiere, aber die Palisade muss bis heute Abend fertig sein, sonst könnten die Orks uns im Schlaf einfach die Kehlen durchschneiden. Strategisch ist unser Lagerplatz ein echter Glücksgriff: Auf halbem Weg in einem kleinen Tal, auf beiden Seiten sind steile Hänge. So mussten wir keine breite Palisade bauen und haben nach hinten hin einen Fluchtweg, den die Feinde nur unter großen Mühen einnehmen können. Knapp hundertfünfzig Mann sind wir jetzt, die Elitetruppen des Königs, die Besten der Besten, das gibt uns Selbstvertrauen. Die anderen Einheiten kenne ich nicht. Wir sind zusammengewürfelt worden, teilen dieselbe Ausbildung und dieselben Werte, sind uns aber fremd. Trotzdem sind wir zuversichtlich, denn Hilaos ist mit uns. Aber das Schicksal unserer Kameraden drückt uns allen aufs Gemüt. Der Nebel ist ein gnädiger Schleier, der die frisch ausgehobenen Gräber verdeckt.
Ich muss jetzt aufhören. Du fehlst mir sehr, aber ich habe Nachtwache und muss die Augen offenhalten. Die ganze Nacht schon höre ich Geräusche, die ich nicht einordnen kann. Vielleicht sind es Orks, die durch den Nebel schleichen?
dein Derion
Guten Morgen, meine Liebste.
Die ganze Nacht war ruhig. Niemand hat versucht, sich der Palisade zu nähern. Im hellen Licht der Sonne, die meine Gliedmaßen wärmt, kommt mir meine Angst von heute Nacht beinahe lächerlich vor. Wir haben heute die letzten Leichen beerdigt – die Verteidigungsanlagen haben Vorrang. Hauptmann Seraphin war nicht unter den Toten. Haben die Orks unseren Hauptmann gefressen, womöglich sogar bei lebendigem Leib? Bei dem bloßen Gedanken daran läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich danke Hilaos dafür, dass du in den Hospitälern in Sicherheit bist.
Ich weiß noch, als ich hierher aufgebrochen bin. Ich war so aufgeregt bei dem Gedanken, dass ich Seraphin kennenlernen würde, dass mein Magen die ganze Zeit kribbelte! Er gilt – galt? – als einer der Gesegneten des Gottes. Er sah aus wie ein Engel, ich habe ihn einmal gesehen, wie er an der Spitze eines Heereszuges ritt, auf einem weißen Pferd, sein Goldhaar und seine Rüstung schienen in der Sonne. Als er die strahlende Klinge ins Licht des Gottes rückte, brüllte die Armee wie ein Mann ihren Schlachtruf hinaus in den Sommertag. Und dieser große Held soll tot sein?
Von den Orks gefressen?
Von den Feinden verschleppt?
Einen guten Morgen wünsche ich dir, meine Geliebte!
Die ganze Nacht war es ruhig. Weit und breit sind keine Orks zu sehen. Wir fragen uns, wo sie hin sind. Erlow und ich sind übereingekommen, dass ich heute und morgen seine Wache übernehme und er dafür morgen meine. Er mag nämlich Nachtwachen, er hat mir erzählt, dass er an seine Liebste denkt, wenn er zu den Sternen schaut. „Beim Blick in die Weiten des Firmanents zählt wenig, was zwischen uns liegt“ hat er gesagt und gelacht, als ich unwillkürlich gen Himmel geschaut habe. Ich denke viel an dich. Vielleicht gucke ich mir heute Abend den Sternenhimmel an und denke an dich. Wenn er nicht vom Nebel verborgen wird - ich beginne, ihn zu fürchten. Er ist kalt und nass.
Guten Morgen, mein Herz!
Heute sind unsere Jäger auf Orks gestoßen. Es war nur ein leicht gerüsteter Spähtrupp, und die Männer haben triumphierend ihre abgeschlagenen Köpfe mitgebracht und sie auf die Palisaden gespießt. Bei ihrem Anblick laufen mir kalte Schauer über den Rücken. Ihre Stirn ist flach und wölbt sich weit über zwei kleine tückische Augen vor. Ihre Nasen sind kaum zu sehen, dafür haben sie riesige Mäuler mit nicht minder riesigen Zähnen. Zwei gewaltige Hauer wachsen aus ihrem Unterkiefer, der weit vorsteht. Sie sehen aus wie Tiere, wie böse, heimtüsckische Tiere.
Die Stimmung ist nahezu euphorisch. Hauptmann Olowen hat zur Feier des Tages ein Fass Branntwein geöffnet, allerdings hat er bestimmt, dass die Nachtwache nüchtern bleiben muss. Ich wette, jetzt ist Erlow nicht mehr so glücklich darüber, dass er mit mir die Schicht getauscht hat. Der Fusel brennt angenehm die Kehle herunter und erzeugt ein gutes, warmes Gefühl im Magen, ein schönes Gleichgewicht zu den kalten Schauern, die meinen Rücken herunterlaufen, wenn ich zu den Palisaden sehe.
Meri,
ewas Schreckliches ist geschehen! Am Morgen wurden wir alle von lautem Kriegsgeschrei aus unserem Schlummer gerissen! Anstelle der aufgespießten Orkhäupter glotzten mit weit aufgerissenen Augen die Köpfe der Nachtwachen gen Himmel. Die bittere Ironie zerreißt mir fast das Herz, denn nun hat Erlow die ganze Nacht zu den Sternen gestarrt und kein einziges Mal an sein Liebchen gedacht.
Natürlich haben wir sofort nach den Waffen gegriffen, aber als wir an der Palisade standen, war kein einziger Ork zu sehen. Nur Nebel, brusthohe Nebelschwaden, die den Boden bedecken und mit nasskalten Fingern nach einem greifen wollen. In diesem Nebel kann sich eine ganze Orkhorde verbergen, und wir würden sie nicht sehen. Ob ihre Magier ihn gerufen haben?
Erlow hat mir das Leben gerettet! Eigentlich müsste mein Kopf dort oben auf den Zinnen prangen!
Der Hauptmann hat uns befohlen, die abgeschlagenen Häupter zu vergraben. Die Körper sind verschwunden – ob die Orks sie gefressen haben? Der Nebel hüllt die Gräber ein wie ein Leichentuch. Es kommt mir makaber vor, auf den Ruhestätten meiner einstigen Kameraden zu kämpfen.
Ich habe noch sehr viele Seiten frei. Ich hoffe, dass ich sie nicht alle füllen werde, bevor dieser Krieg vorbei ist und ich dich wieder in meine Arme schließen kann. Du fehlst mir sehr, aber es ist gut, dass du nicht hier bist.
Heute haben die Spähtrupps Hauptmann Seraphin gefunden! Wie ein kleiner Triumphzug kamen sie von ihrer Patrouille zurück, vorn gingen die beiden Hauptleute und zwischen ihnen Seraphin, den sie stützten. Er hat nur noch ein Bein.
Die Orks hatten ihn und seine Männer in ihr Lager gebracht, kaum zwei Wegstunden von hier, um sie zu fressen. Er erzählte, einer von ihnen sei des Nachts zu ihm gekommen und habe ihn "schon einmal angeknabbert". "Mit nur einem Bein saßen die Fesseln weniger straff, also habe ich das Biest einfach mit einem der Stricke erwürgt", hat er gesagt. Den ganzen Weg ist er gekrochen, bis wir ihn schließlich, wenige Meilen von hier, aus dem Wald gesammelt haben. Sogar seine Rüstung und sein Schwert trägt er noch.
„Hättest du sie nicht zurücklassen und schneller vorankommen können?“, habe ich ihn erstaunt gefragt, aber er hat mich nur kalt angesehen.
„Mein Panzer und meine Waffe sind Hilaos geweiht, ebenso wie meine Seele. Ein Paladin, sein Panzer und sein Schwert sind eins. Wie hätte ich einen Teil von mir zurücklassen können?“
So viel Stärke im Glauben hat ihm Respekt verschafft. Wir lesen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, denn es ist ein schrecklicher Anblick, wenn der stolze Hauptmann auf seinem einen Bein und seinen Krücken durch das Heerlager humpelt. Er hat nach einer Armbrust verlangt und übt sich jetzt wie besessen im Zielschießen. In der Tat ist er einer der Gesegneten des Gottes, auch, wenn der Herr ihn schwer geprüft hat. Denn wie sonst hätte er den weiten Weg überlebt?
Von seiner einstigen Schönheit ist nicht viel aus dem Orklager zurückgekommen. Er ist die längste Zeit das Aushängeschild des Heeres gewesen, Seraphin in seiner makellosen Rüstung, mit dem schimmernden Goldhaar und der glänzenden Rüstung. Jetzt ist er mager, unrasiert und dreckig, wie wir alle. Von dem Engel, den er im Namen trägt, ist nichts mehr übrig.
Ich habe meinen ersten lebenden Ork gesehen. Der wievielte Tag an der Front ist heute? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. Aber die Feinde lauern draußen im Nebel. Ich hasse ihn. Die weißen Schwaden werden uns alle ersticken.
Der Ork war mehr als zwei Meter groß, in schweres Leder, Felle und Kettenrüstung gekleidet. Er war so breit wie zwei Männer und trug eine riesige Axt. Er stand am Waldrand und glotzte zu uns herüber. Als er plötzlich zusammenbrach, wollten wir unseren Augen nicht trauen. Hauptmann Seraphin hat ihn erwischt, mit einem sauberen Treffer direkt ins Hirn. „Schade um den Bolzen“, sagte er. Seine Augen haben mir Angst gemacht. Es war kein Leben mehr darin.
Wieder ein Tag später. Welches Datum ist heute? Ich weiß es nicht. Ich würde den Tag gern datieren, denn heute haben sie uns das erste Mal angegriffen, aber ich weiß nicht, welcher Tag heute ist, und die anderen wissen es auch nicht.
Riesige Löcher klaffen in der Palisade, wir haben zehn Tote, mehr als ein Drittel unserer Männer sind verletzt. Zuerst haben wir gut ausgesehen gegen die Orks. Sie sind gegen die Palisade angerannt, und immer, wenn einer es über den Zaun geschafft hatte, sind wir mit drei oder vier Mann auf ihn los und haben ihn in Stücke gehackt. Die Zähigkeit unserer Gegner ist furchteinflößend. Auch ich bin nicht unversehrt davongekommen, weil ein arm- und beinloser Gegner mir tief in den Unterschenkel gebissen hat. Meine Rüstung hat die volle Wucht des Bisses abgefangen, es ist nur gequetscht - wundersamerweise bin ich am besten davongekommen, alle anderen sind schwerer verletzt. Wir sind ein Heer von Invaliden. Seraphin mit seiner Armbrust hat die meisten Feinde erledigt. Er macht mir Angst. Die ganze Zeit hat er nur dagesessen und einen Bolzen nach dem nächsten abgeschossen. Jeder hat getroffen. Die Orks haben versucht, ihn zu töten, und bald verteidigten wir Seraphin und nicht mehr die Palisade, während geduldig ein Bolzen nach dem nächsten zwischen uns hindurchflog.
Abends haben wir Kriegsrat gehalten. Olowen und Seraphin haben gestritten! Seraphin plädierte für den Rückzug. Hier ganz in der Nähe gäbe es eine ehemalige Burg, zwar wäre der Außenring bereits niedergebrannt, aber der Innenhof stünde noch und wäre von hohen Mauern umschlossen. Olowen hielt es für seine Pflicht, hier zu bleiben und auf Verstärkung zu warten. Aber die Männer sind auf Seraphins Seite, denn Verstärkung wird keine kommen, und uns fehlt der Mut, die Palisade wieder aufzubauen. Olowen hat sich murrend in sein Schicksal gefügt und wir sind losgezogen, allen voran der Hauptmann mit seiner Krücke. Wir haben eine zerstörte Garnison und ein paar Gräber zurückgelassen. In fünfen dieser Gräber liegen nur Köpfe. Mein Bein schillert in allen Regenbogenfarben.
Meri, Meri, ob es dir gutgeht? Ich habe schon lange nicht mehr an dich gedacht, zu allgegenwärtig ist der Schrecken des Krieges. Sicher gibt es in den Lazaretten viel zu tun. Ich bete, dass die Orks nicht die Stadt überrennen. Ich bete, dass wir alle mit dem Leben davonkommen mögen. Morgen werden wir die Burg erreichen. Seraphin schleppt sich auf seinen Krücken voran, Meile um Meile. Manchmal glaube ich, er wird nur von seinem eisernen Willen vorangetrieben. Ich habe gesehen, wie er heimlich seinen Beinstumpf eng abgebunden hat. Ich glaube, er blutet.
Ich weiß nicht, was ihn antreibt, ob es Hilaos' Gnade ist, oder ob er seine Seele dem Widersacher verschrieben hat. In ihm ist nur noch Hass. Wir alle meiden ihn, denn wir haben ihm nichts zu sagen. Er hat keinen Trost und keinen Zuspruch für die, die sich danach sehnen, und wo Olowen versucht, die Männer an die gerechte Sache zu erinnern, um sie aufrecht zu halten, ist in Seraphin nur Hass auf die Orks. Ich habe schon viele Männer im Krieg zerbrechen sehen wie Glas. Aber der Hauptmann ist nicht zerbrochen. Er ist eine Waffe geworden, eine Waffe gegen die Orks, und mehr ist nicht mehr übrig von Seraphin, auf den wir alle so stolz waren, weil er blond war und schön. Was haben sie mit ihm gemacht?
Wenigstens haben wir den Nebel hinter uns gelassen. Endlich ist er fort. Die Sonne ist zwar blass und gelb, aber Hilaos' Strahlen bringen uns Wärme und lassen uns fast wieder hoffen.
Die Burg ist in einem schlechten Zustand, aber der Innenhof und das Hauptgebäude sind einigermaßen intakt und von hohen Steinmauern umschlossen. Auf dem Hof kampierte eine Gruppe Orks, schon von Weitem konnten wir die hellen Rauchsäulen ihrer Feuer sehen. Sie hatten einen Schamanen dabei, aber Seraphin hat ihn erschossen, bevor er seine Magie gegen uns einsetzen konnte. Wir haben kurzen Prozess mit den Bestien gemacht und ihre stinkenden Hütten und ihre flohverseuchten Leichname auf einem einzigen großen Scheiterhaufen verbrannt. Dann haben wir das riesige Gittertor geschlossen.
Um die Burg herum befindet sich eine Art von Senke, in der sich einmal der Außenring befunden hat. Eine weitere Mauer hat ihn gegen das flache Land von außen abgeschlossen. Aber all das steht nicht mehr. In der Mitte ist ein hoch aufgeschütteter Hügel, dessen Wände mit Steinen gepanzert worden sind. Obendrauf steht die Burg, eine Rampe bildet den Zugang.
Es hat den ganzen Tag gedauert, die alten Gebäude wieder bewohnbar zu machen, denn überall hatten die Feinde ihre Fellhaufen, ihre Lagerfeuer und ihre stinkenden Exkremente verteilt. Es war Sklavenarbeit, aber wir haben sie erledigt ohne zu murren. Hinter den hohen Mauern und dem stabilen Gittertor fühlen wir uns sicher.
Der Nebel ist uns gefolgt, und mit ihm die Orks. Als heute Morgen die Sonne aufging, sahen wir, dass sie einen Belagerungsring um die Burg gebaut hatten. Wie durch Zauberei waren Orkhütten aus dem Boden gewachsen, mehrere hundert Orks treiben sich im ehemaligen Außenring und auf den umgebenden Hügeln herum. Wir wollten unseren Augen nicht trauen – wir sind gefangen. Wir sind drinnen und sie draußen, und das ist alles, was ich dieser Lage Positives abgewinnen kann.
Wir wissen nicht, warum wir nichts gehört haben. Die Nachtwache behauptet steif und fest, heute Nacht wären nur Nebelschwaden zu sehen gewesen, und gehört hätten sie auch nichts. Ich glaube ihnen. Seraphin nicht.
Sie sind mit riesigen Rammen gegen die Mauern angegangen, aber sie sind daran abgeprallt, als wären die Waffen nur Spielzeug. Einer der gigantischen Baumstämme hat sich halb in die Mauer gebohrt, Erde ist heruntergerutscht, eine Art natürliche Treppe aus umgestürzten Steinen bietet einen relativ bequemen Weg von der Hälfte der Mauer in die Burg. Seraphin hat sich einen Stuhl bringen lassen und sich mit dem heiligen Buch direkt über die Schwachstelle gesetzt. Eine kleine Gruppe von Orks hat es versucht, aber er hat sie einen nach dem anderen von der Ramme geschossen wie Tontauben. Es ist meine Aufgabe, ihm neue Bolzen zu bringen. Langsam wird das Essen knapp, wir rationieren schon.
Olowen und Seraphin entzweien sich immer weiter. Olowen wollte, dass wir einen Ausfall machen, dass wir das Tor öffnen und die Orks vernichten, damit wir nach Hause gehen können. Seraphin hat protestiert. Er sagte, wir müssten hier ausharren, es sei Selbstmord, die Tore zu öffnen, und nach Hause könnten wir nicht, denn sonst würde man uns als Fahnenflüchtige hinrichten. Ich glaube, dass Olowen Recht hat. Es kann nicht im Sinne des Königs sein, dass hundert seiner besten Männer hier sterben. Und außerdem ist er derjenige von beiden, der uns noch am Ehesten Mut macht.
Aber die Leute halten zu Seraphin. Sie haben mehr Angst vor dem schmählichen Tod, der sie seinen Worten nach in der Heimat erwartet, als vor dem, was die Orks mit ihnen anstellen könnten.
Ich nicht.
Heute ist Seraphin zu Olowen gegangen und hat ihm befohlen, die Burg über die Ramme zu verlassen, er müsse Hilfe holen, den König benachrichtigen, hundert der besten Männer sind hier eingeschlossen und verhungern in der alten Burg. Olowen protestierte zunächst, aber wir alle standen um sie herum und sahen ihnen bei der Auseinandersetzung zu, und schließlich gab er nach. Er sah sich jeden von uns noch einmal genau an. Die meisten schlugen die Augen nieder. Ich hielt seinen Blicken stand – ich wollte, dass er weiß, dass ich glaube, dass er unsere letzte Hoffnung ist. Wenn er es nicht schafft, sich einen Weg durch die Orks zu kämpfen, dann schafft es niemand. Er rutschte die Mauer hinunter, landete auf dem Baumstamm und ließ sich vorsichtig daran hinab. Dann war er im Nebel verschwunden.
Wir alle warteten oben auf der Mauer, stumm wie die Fische. Wenige Herzschläge später hörten wir einen schrecklichen Schrei. Er hat es nicht geschafft.
Ich habe Nachtwache, es ist so kalt, wir haben kein Feuer angezündet, und Olowen schreit die ganze Zeit. Ich wünschte, er wäre still. Ich wünschte, er wäre tot!
Es dämmert. Die Sonne ist schon lange nicht mehr aufgegangen, und Olowen hat endlich aufgehört zu schreien. Niemand von uns hat in dieser Nacht noch ein Auge zugetan. Ich habe die ganze Nacht versucht, mein verletztes Bein zu bewegen, denn durch die Kälte und die Feuchtigkeit ist es ganz steif geworden und ich muss mich doch im Kampf darauf verlassen können.
Die Orks sind böse und grausam. Sie haben ihn zu Tode gefoltert, damit wir seine Schreie hören, damit wir heute Nacht nicht schlafen, um unsere Moral zu untergraben. Sie wollen, dass wir die Burg verlassen, damit sie uns töten können. Ich weiß, warum sie Olowen gefoltert haben. Wir hätten dasselbe getan.
Es gibt keine Ratten mehr in der Burg.
Gerade, als ich ein Feuer entzünden wollte und meine letzte Tagesration Branntwein erhitzen, kam der Hauptmann zu mir. „Derion“, sagte er, „du bist der einzige von uns, der eine Chance hat. Du bist nur leicht verletzt. Du musst durch den Belagerungsring schleichen und Hilfe holen. Versuch nicht zu kämpfen. Sie dürfen dich nicht sehen, oder es wird dir so ergehen wie Olowen. Irgendwo hier in der Umgebung müssen königliche Truppen sein – hol uns Hilfe! Wir brauchen nicht viel – nur ein paar Dutzend Krieger, die von außen angreifen, sodass wir das Tor öffnen können.“
Er starrte mich mit diesen toten Augen an und ich wusste, wie Olowen sich gefühlt haben musste, als wir ihn alle so angesehen hatten. Jetzt, wo Olowen fort war, hatte Seraphin das alleinige Kommando über die Männer – jetzt wollte er das Tor öffnen und uns den Weg nach draußen erkämpfen lassen. Aber für Olowen ist es schon lange zu spät.
Als der Mond – verfluchter Vollmond – hinter dichten Wolken verschwand, kletterte ich so leise wie möglich die Steintreppe herunter. Seraphin saß auf seinem Stuhl und hielt seine Armbrust bereit. Die Orkramme fühlte sich nass und glitschig an, es kostete mich meine ganze Körperbeherrschung, nicht abzurutschen und herunterzufallen. Unten angekommen wandte ich mich nach links, wo keine Orkfeuer waren.
Dichte Nebelschwaden wallten über den Boden und gewährten mir Schutz, als ich nur wenige Schritte entfernt an einer Feuerstelle vorbeikroch. Beinahe fühlte ich die Wärme auf der Haut. Ich musste die Burg einmal halb umrunden, bis ich schließlich eine Gelegenheit sah – rechts und links des Tores waren weniger Orks als direkt davor, und diese wenigen saßen an Lagerfeuern und stießen ihre Tierlaute aus. Mit angehaltenem Atem schlich ich an ihnen vorbei. Mein Herz schlug so laut, dass meine Trommelfelle vibrierten. Ich war sicher, sie müssten es hören.
Plötzlich, ich kroch gerade durch zentimetertiefen Schlamm, hörte ich lautes Geschrei. Es war ein Ork, der da brüllte, aber die Laute klangen kläglich und wütend, jedenfalls bildete ich mir das ein. Etwas flog durch die Luft und schlug nur wenige Schritte entfernt von mir auf. Mit einem saugenden Geräusch umschloss die feuchte Erde den Gegenstand.
Mein Puls raste. Was war das? Ich hörte, wie irgendwo ein Kampf ausbrach, Schreie, Waffenklirren. Ein Kampf. Unter den Orks. Was hatten sie da geworfen?
Ein Blick enthüllte mir den abgemagerten Körper eines Babys. Es hatte noch keine Hauer, und als ich vorsichtig mit der Hand über seinen Arm fuhr, war sein Fell ganz weich. Es stank erbärmlich, und es war tot.
Ich weiß immer noch nicht, was mich dazu bewegt hat, so schnell wie möglich fortzukriechen, aber es hat mir das Leben gerettet. Ich robbte so schnell wie möglich durch den Schlamm, von oben bis unten beschmiert, als ein Ork, ein großer, starker Krieger, die Leiche behutsam aufhob.
Sicher war er der Vater des Kleinen, dachte ich mir und fühlte, wie sich ein Hauch von Wärme in mein Herz schlich. Sicher wollte er die Leiche angemessen begraben! Sie haben es fortgeworfen, damit es der Mutter aus den Augen ist und sie sich nicht länger grämen muss.
Der Schreck hätte nicht größer sein können, als er dem Kind ein Bein ausriss und begann, es in sich hineinzuschlingen. Mir drehte sich der Magen um. Gerade, als ich weiterkriechen wollte, brachen einige andere Orks aus den undurchdringlichen Nebelschwaden und begannen, sich um den toten Körper zu streiten. Wahrlich, sie waren Bestien.
Es gibt keine Ratten mehr in der Burg...
Ich war dem Feind so nahe wie noch nie ein freier Soldat zuvor. Ich konnte ihren stinkenden Atem beinahe über meine Haut streichen fühlen. Wie durch ein Fernglas konnte ich sie sehen. Kein Gramm Fett belastete ihre Körper. Die Feinde bestanden nur aus Muskeln. Was für Gegner.
Der undurchdringliche Nebel wallte empor, nahm mir die Sicht und weckte Angst in mir. Woher wusste ich überhaupt, ob ich in die richtige Richtung kroch? Fast hätte ich geweint. Hinter mir die Orks, die gerade die Leiche des Kindes auffraßen. Irgendwo die Burg, wo Seraphin mit seiner Armbrust den einzigen Zugang bewachte. Er würde mich bestimmt nicht zurück hinter die sicheren Mauern lassen, und wenn doch, was würde es mir bringen? Wir hatten nichts mehr zu essen. Nicht einmal Ratten.
Und irgendwo sonst, noch viel zu weit entfernt, der sichere Waldrand.
Aber ich schaffte es. Ich hatte mich schon wieder aufgerichtet, weil keine Orks mehr zu hören waren, als sich rechts von mir die ersten Bäume aus dem Nebel schälten.
Ich suchte Zuflucht im Wald. Der Nebel war immer noch allgegenwärtig, verbarg die Orks vor mir und mich vor ihnen. Mittlerweile hasste ich ihn nicht mehr. Er war fast ein Freund für mich, denn sie konnten mich ja auch nicht sehen.
Im Wald gab es genug zu essen. Nahrhafte Pilze und essbare Flechten, Nüsse an den Sträuchern, Insekten. Die Truppen des Königs waren im Westen, als wir aufgebrochen sind, aber ich glaube nicht, dass das immer noch so ist. Ich habe mich auf den Weg nach Osten gemacht, in die Kernländer des Königreiches, dahin, wo du bist, Meri. Es ist nicht mehr weit. Nur noch einige Tagesreisen.
Ich habe den Nebel hinter mir gelassen. An den Seiten der – noch – gepflasterten Straßen sind Schandgalgen aufgestellt, in den Käfigen baumeln die Toten – Menschen und Orks, Seite an Seite. Es ist nur noch ein Tagesmarsch bis in die Hauptstadt, wo ich dich zurücklassen musste. Die Umgebung nimmt mir den Mut zum Weitergehen. Die einzigen, die sich noch bewegen, sind die Raben. In großen Schwärmen kreisen sie über den brachliegenden oder verbrannten Feldern. Ungeziefer huscht durch die Bauernhäuser. Die Menschen müssen alle vor den Orks geflohen sein, diejenigen wenigstens, die nicht zurückgeblieben sind, um Haus und Hof zu verteidigen. Das sind die, die jetzt am Straßenrand liegen und Futter für die Raben sind. Warum haben sie es überhaupt versucht? Sie sind keine Soldaten. Wir waren die Soldaten, und der Hauptmann und seine Männer sind vielleicht immer noch in der Burg, vielleicht sind sie auch schon lange tot. Aber egal wie, ich weiß, dass Seraphin der letzte sein wird, der stirbt.
Ich habe noch ein bisschen schimmliges Brot gefunden, und ein paar eingelegte Birnen. Alles in allem habe ich, bevor ich mich zu Schreiben hingesetzt habe, das beste Mahl seit Wochen zu mir genommen. Ich sollte mich jetzt auf den Weg machen, zu dir, in die Hauptstadt.
Ich bin an zwei Leichen vorbeigekommen. Zwei tote Orks. Zuerst dachte ich, dass es nur zwei weitere tote Feinde in unserem Krieg sind, aber das war es nicht. Der eine Ork war größer als der andere. Das war, weil der andere noch ein Kind war. Und der erwachsene Ork hat versucht, es zu schützen. Jetzt, wo ich es weiß, sehe ich, wie viele der erschlagenen Feinde noch nicht voll ausgewachsen sind.
Ich muss mein Herz dagegen verhärten. Die Orks sind Monster, die uns angegriffen und aufgefressen haben. Es ist egal, was sie dazu treibt. Sie haben den Krieg begonnen, von einem Tag auf den anderen waren sie da und fielen über die Höfe her, fraßen zuerst das Vieh und dann unsere Bauern.
Vielleicht hatten sie nur Hunger.
Es ist egal, was sie dazu treibt.
Warum haben sie das getan? Hätten sie nicht wegbleiben können? Wenn sie niemals hierhergekommen wären, wäre das alles nie passiert. Ich will nicht, dass sie hier sind. Ich will nicht hier sein.
Meri, ach Meri, was ist hier nur geschehen? Ich habe die Stelle gefunden, wo das Lazarett stand. Es ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Hilaos-Tempel sind geschändet, die Priester liegen in ihrem Blut in ihren heiligen Stätten. Der Palast des Königs ist geschleift, geplündert und verbrannt. Die Überreste von Ork-Behausungen liegen im Thronsaal. Unser kleines Haus stand noch, aber ich musste es anzünden. Es war bis ans Dach vollgestopft mit den Leichen von Orks. Wo hast du geschlafen, Meri, während sie Orks in unser Wohnzimmer stapelten?
Die weißen, gepflasterten Straßen sind aufgerissen. Das Gold, das sie immer auf beiden Seiten einfasste, ist größtenteils fort. Die Mauer zwischen dem oberen und dem unteren Viertel ist eingeebnet, das Gefälle entfernt, eine Rampe ist angelegt aus den Trümmern der ehemals so schönen Villen. Auch dort: Leichen.
Ich glaube, das, was ich am schrecklichsten finde, ist, dass es so viele sind. In den Trümmern meiner Heimat liegen ebensoviele erschlagene Menschen wie niedergestreckte Orks, Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen. Ich kann erkennen, wo sie gestorben sind. Manche haben sich noch ein paar Schritte weitergeschleppt, ihrem abgeschlagenen Kopf hinterher, die Eingeweide mit beiden Händen im Körper festhaltend. Mütter starben, während sie ihre Kinder schützten, noch im Tod schirmen sie sie mit ihren Körpern ab. Die Männer starben als erste, mit Waffen in der Hand, sie liegen neben ihnen, stecken in ihnen. Dann die Alten und die Knaben, dann die Frauen, dann die Mädchen. Wenigstens, und das ist ein schwacher Trost, haben die Orks sie nicht geschändet. Und als letztes starben die Kinder. Und die ganze Zeit über starben die Orks. Was haben sie in uns gesehen? Haben die Männer und Frauen, die die Orks erschlagen haben, bei ihnen differenziert? Haben sie darüber nachgedacht, ob sie Frauen oder Jugendliche oder sogar Kinder erschlagen? Haben die Orks es getan? So viele Tote sind angefressen.
Das Lazarett ist niedergebrannt, aber ich habe deine Leiche nicht gefunden. Vielleicht lebst du noch. Wahrscheinlich nicht.
Derion